Von Irmi Feldman
Am Tag benahmen sie sich wie ganz gewöhnliche Schafe. Grasten, galoppierten hin und wieder über die Wiese oder glotzten dumm in die Gegend. Meist dösten sie aber vor sich hin, um sich von den anstrengenden Nächten zu erholen. Nicht einmal der Bauer ahnte, was sich bei Dunkelheit in seinem Stall zutrug, obwohl er sich in letzter Zeit immer öfter über seine Schafe wunderte, die den ganzen Tag faul auf der Wolle lagen. Waren die etwa krank?
Nichts dergleichen. Otto und seine Schafe waren Künstler. Aktiv. Kreativ. Imaginativ. Molly war eine talentierte Opernsängerin, die ihre La Traviata-Arien bis zum Geht-nicht-mehr in die Welt hinausträllerte. Benny war Schauspieler; Hamlets Monolog war seine Lieblingsszene. Mauser war Seiltänzer; je höher, desto besser. Klein Lilly war eine Ballerina, die den Tanz der vier Schwäne aus Schwanensee so meisterhaft beherrschte, dass selbst die Schwäne eifersüchtig waren. Otto war für die Choreografie, die Toneinstellungen, und die Beleuchtungseffekte zuständig. Doch eigentlich war Otto Dichter. Sie probten jede Nacht. Nur samstags und sonntags nicht, denn am Wochenende war Vorstellung. Eintritt frei. Meist waren es Huhn, Hund, Katz und Kuh, die selbst nach der hundertsten Vorstellung noch immer begeistert applaudierten.
In letzter Zeit jedoch, war ihnen das nicht mehr genug. Sie wollten eine richtige Aufgabe haben. Da kam ihnen das Flugblatt, das der Herbstwind herbeigeflattert hatte, gerade recht. Eine Weile jagten sie dem Blatt hinterher, mehr aus Spaß als aus Notwendigkeit, bis Benny es mit einem gekonnten Arschplopser kurzerhand zum Stillstand brachte.
Gemeinsam entzifferten sie das Flugblatt.
Aufruf an alle Schafe: ‚Lasst euch zählen und verhelft so den Menschen zum Einschlafen‘, stand da.
Gepflegte Schafe sollten sich bei der unten angegebenen Adresse bewerben.
Schafe zählen? Zum Einschlafen? Das war ihnen neu.
Betretenes Schweigen folgte. Keiner wagte, den anderen anzuschauen. Wie ein Damoklesschwert baumelte die Frage über ihnen. Eine Frage, die alle beschäftigte, aber keiner auszusprechen wagte, bis Klein Lilly ihnen diese Entscheidung kurzerhand abnahm.
„Warum schlafen Menschen ein, wenn sie Schafe zählen?“, fragte sie unschuldig. „Sind wir langweilig?“
„Hm!“, fuhr Otto dazwischen. „Wir sollten das nicht überdenken!“
Die Schafe nickten erleichtert. Ihr ganzes Dasein, ihr Selbstwertgefühl, ihre Weltanschauung hing an einem seidenen Faden.
„Bewerben wir uns!“, schlug Benny schließlich vor. „Jetzt gleich.“
„Nun mal langsam!“, beschwichtigte ihn Otto. „Zuerst müssen wir lernen, wie man sich ordentlich anstellt. Was wissen wir denn vom Gezählt werden? Und überhaupt, gepflegt sind wir nicht.“
Da mussten sie Otto Recht geben. Das Baden im nahegelegenen Bach heiterte sie wieder auf. Viel lieber hätten sie ja im Bauernhaus geduscht, aber die Bäuerin hatte ein absolutes Badeverbot für Schafe im Haus verhängt.
„Nun zum Training“, sagte Otto. „Wir werden mit dem Bauern und seiner Familie das Gezähltwerden üben. Ihr werdet sehen. Ein Klacks wird das.“
Doch Klacks war es keiner, wie sie gleich darauf herausfanden. Als sie sich ins Wohnzimmer drängten, schnarchte der Bauer schon lautstark auf dem Sofa und fand es gar nicht witzig, aufgeweckt zu werden, damit er Schafe zum Wiedereinschlafen zählen konnte.
Also ab ins Schlafzimmer, wo die Bäuerin es sich zum Lesen im Bett gemütlich gemacht hatte. Auch sie weigerte sich entschieden Schafe zu zählen. Als nächstes war Opa an der Reihe. Der freute sich zwar über die Abwechslung, war aber ein langsamer Zähler und nickte zwischendurch immer wieder ein, was zur Folge hatte, dass sie ihn wieder aufwecken mussten, damit er nochmal von vorne anfangen konnte. Die Idee des Schafe Zählens zum Einschlafen hatte sich noch nicht so richtig in ihnen festgesetzt. Erst nach dreieinhalb Stunden hatte Opa alle in einem Durchgang gezählt. Opa war nun hellwach, die Schafe jedoch schlummerten friedlich vor sich hin.
„Mit den Zwillingen gehts bestimmt besser“, versprach Otto am nächsten Abend, als er seine Truppe ins Kinderzimmer führte. Doch nichts bereitete sie auf das Grauen vor, das sie dort erwartete.
Die Zwillinge hatten vom Schafe zählen noch nie etwas gehört, und hatten auch keine Geduld sich Ottos Erklärungen anzuhören. Im Gegenteil, auf den Schafen reiten, ihnen die Wolle auszupfen, an den Ohren reißen und an ihren Schwänzen ziehen, machte viel mehr Spaß, als ruhig im Bett zu liegen. Die Verwüstung war groß, doch der seelische Schaden für die Schafe war enorm. Nur mit allerletzter Kraft rettete sich die Truppe aus den Krallen der Zwillinge.
„Das war knapp!“, keuchten sie, als sie vor dem Haus zum Stehen kamen.
„Kinder sind schwierig!“, sagte Otto. „Am besten, wir halten uns von ihnen fern.“
Das war allen recht.
„Vielleicht ist dieser Job doch nicht das Richtige für uns!“, warf Molly vorsichtig ein.
„Zählen und gezählt werden ist langweilig“, sprach Klein Lilly aus, was alle dachten.
„Wer sagt denn, dass wir gezählt werden müssen?“, sagte Otto herausfordernd. „Warum machen wir nicht das, was wir am besten können?“
„Du meinst eine Vorstellung geben?“, fragten die anderen hoffnungsvoll.
Otto nickte.
„Aber auf dem Flugblatt stand doch Schafe zählen“, warf Benny ein.
„Wir gründen eben unsere eigene Firma!“, rief Otto. „Dann können wir machen, was wir wollen. Wir zeigen denen, dass Schafe mehr können, als nur gezählt zu werden. Wir sind Künstler.“
Begeistert nickten seine Freunde. Wochenlang arbeiteten sie an ihrer Show. Sie malten Plakate, probten ihren Akt, und besorgten sich Kostüme, was leichter gesagt als getan war. Sie erfanden sogar einen Slogan für die Werbeplakate.
Warum sich mit Schlafproblemen quälen?
Vergiss das dumme Schafe zählen!
Musik und Kunst für Groß und Klein!
Wiegen dich sanft in den Schlaf hinein.
An einem Mittwochabend war es endlich so weit. Die Sonne ging gerade unter, als die Truppe aus dem Stall trat. Was für ein Anblick! Aufgedonnert stolzierten die Schafe durch die Stadt. Stundenlang suchten sie nach Leuten, denen sie ihre Schlafshow vorführen konnten. Natürlich gegen Heubezahlung. Doch keiner war an ihren Darbietungen interessiert. Und an schlafen schon gar nicht. Außerdem gab jeder vor, keine Heuballen im Haus zu haben, was den Schafen total suspekt vorkam.
Mit jeder Absage sank ihre Begeisterung, bis sie schließlich erschöpft und niedergeschlagen im Stadtpark Halt machten.
„Das war’s also“, sagte Molly. „All die Arbeit umsonst. Keiner ist an Kunst und Kultur interessiert.“
„Lasst uns nach Hause gehen“, fügte Mauser hinzu. „Das war eine Schnapsidee.“
Die anderen nickten. Doch dann sahen sie es. Lichter im Dunkeln. Schreie in der Nacht. Tumult in der Ferne.
„Schnell!“, rief Otto und preschte voran. „Da braucht jemand Schafe zum …“
„Kinder!“, rief er stattdessen, als er erkannte, um was für Menschen es sich hier handelte.
Platte Enttäuschung stand ihm im Gesicht geschrieben. Es war ein Waisenhaus. Durch die erleuchteten Fenster erkannten sie tobende Kinder.
„Keine zehn Pferde bringen uns da rein!“, rief Ottos Truppe einstimmig. „Nie im Leben!“
„Kinder sind Monster!“, fügte Mauser hinzu.
„Die nie schlafen!“, ergänzte Benny.
„Kinder sind lebensgefährlich für uns Schafe!“, wisperte Klein Lilly.
Mit Schaudern erinnerten sie sich an das Training mit den Zwillingen.
„Aber wir haben sie doch überlebt“, erwiderte Otto kleinlaut.
„Mit knapper Not!“, riefen die anderen.
„Das ist unsere letzte Chance!“, flüsterte Otto. „Jetzt können wir zeigen, was wir gelernt haben.“
Doch die Schafe blieben stur.
„Lasst es uns wenigstens versuchen!“, beschwor Otto seine Truppe. „Bitte!“
„Na gut, aber nur auf deine Verantwortung!“, flüsterten die Schafe.
Zitternd wie Espenlaub und weiß wie die Wand, schlurften sie durch die Tür. Im Schlafsaal war der Teufel los. Die Kinder waren überall, nur nicht im Bett. Sie verstummten erst, als sie die glotzenden Schafe in der Tür erblickten.
„Jetzt oder nie!“, flüsterte Otto und gab seiner Truppe den Auftakt.
Es war die beste Vorstellung aller Zeiten. Zuletzt wisperten die Schafe das Abendgedicht, das Otto auf die Schnelle erfunden hatte.
Guten Abend! Gute Nacht!
Wir hoffen, es hat Spaß gemacht.
Musik, tanzen, fabulieren,
Singen, trällern, rezitieren.
Ist vorbei – doch nur für heute.
Steigt ins Bett – ihr kleinen Leute.
Leise, leise – zugedeckt!
Dass sich keiner mehr versteckt!
Augen zu, nun wird geschlafen!
Angeordnet von uns Schafen.
Schlaft in Frieden. Sachte. Sacht.
Träumt was Schönes! Gute Nacht!
„Bis morgen!“, flüsterten die Schafe und deckten behutsam die friedlich schlafenden Kinder zu.
Heu gabs keins, dafür Kekse, aber die schmeckten sowieso besser.
V3; 8596