Von Brigitte Noelle

 

Es war Donnerstag abends, als sich mein Handy meldete. „Ist dort Schwärzler?“, fragte eine weibliche Stimme. „Mein Name ist Lily Reinlich. Ich habe Ihre Telefonnummer von meiner Kollegin Klara Heller bekommen. Sie meint, Sie können mir bestimmt helfen.“

„Ach ja, Klara Heller. Wie geht es ihr denn nun?“

„Sie schwimmt in Glück, seit Sie bei ihr waren: Glücklich verheiratet, und seit das Kind da ist, kann sie sich nicht vorstellen, anders gelebt zu haben. Ich brauche Sie allerdings sehr kurzfristig.“

„Wie kurzfristig?“

„Sie müssten morgen Nachmittag beginnen und Sonntagabend fertig sein.“

Ich überlegte: „Das kann sich ausgehen. Geben Sie mir jetzt einmal ein paar Informationen!“

Nach zwei Stunden legte ich auf. Das kommende Wochenende würde viel Arbeit bereit halten.

Freitag um 14 Uhr stand ich vor der Wohnungstüre meiner Auftraggeberin. Sie hatte mir den Reserveschlüssel vor ihrem Arbeitsplatz übergeben, und dabei konnte ich mir einen Eindruck von ihr verschaffen: Eine tadellose Erscheinung, jung, gut geschminkt und gekleidet, eigentlich sehr sympathisch. Dumm nur, dass bisher alle ihre Liebhaber nach einem kurzen Besuch in ihrer Wohnung auf Distanz gegangen waren. Ihre aktuelle Bekanntschaft schien tatsächlich die große Liebe zu sein. Der Glückliche hieß Wilfried, doch im Überschwang ihrer Gefühle sprach sie von ihm nur als „Lily-Billy“. Bisher hatte sie ihn nur in seiner WG oder an öffentlichen Orten getroffen. Doch nun hatten die Besitzer der Wohnung Eigenbedarf angemeldet und er musste seine Zimmer räumen. Daher stand es im Raum, dass er zu ihr ziehen würde. Nun, vielleicht konnte ich dazu beitragen, dass sie mit ihm glücklich wird!

Durch das Vorzimmer betrat ich den saalgroßen Hauptraum. Er war als kombiniertes Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer ausgelegt und Ton in Ton gestaltet: Reinweiß, cremeweiß, schneeweiß, mattweiß, elfenbeinweiß und noch einige Varianten der Farbe. Dazwischen glänzten vereinzelte Elemente aus Glas und Chrom. Über dem Sofa prangte ein mehrere Quadratmeter großes Gemälde, das einige Schichten Weiß mit vereinzelten, übermalten Strichen Rosa und Hellgrün darstellte, und in der Mitte des Raums erhob sich eine Stehlampe, ein wahres Monstrum, das seine Arme am oberen Ende nach allen Seiten ausstreckte und eine Kreuzung von Murano-Glas und Kubismus zu sein schien. Bestimmt ein Designerstück. Ich nannte es spontan „Mu-Ku“.

Auffällig war, dass auf den glatten Oberflächen nichts, aber auch gar nichts, umher lag: Weder Gegenstände noch ein Staubkorn. Ich begann, Lilys bisherige Verehrer zu verstehen.

Das Schlafzimmer, ebenfalls weiß mit Apricot-Tönen, sah aus wie in einem Möbelkatalog, nur dass die Abbildungen darin unordentlicher waren. Ich nahm den Morgenmantel vom Haken und warf ihn über einen Sessel. Nach einigem Suchen fand ich im Bad etwas schmutzige Wäsche und verteilte sie auf dem Bett. Lily-Billy wird es bestimmt gefallen, wenn es nicht nur nach Weichspüler, sondern auch nach seinem Liebling roch.

Die Küche war in hellgrauem Schleiflack gehalten, auf dem man jede Spur einer Tätigkeit erkennen konnte – wenn es denn eine gab. Doch ein Blick in die Schränke bestätigten meinen Verdacht: Bis auf eine Packung Kaffee und eine Schachtel Proteinmüsli enthielten sie keine Lebensmittel, und im Kühlschrank führten ein Becher Magerjoghurt und eine Karotte einen freudlosen Dialog.

Frisch ans Werk! Ich holte den Beutel aus dem Staubsauger und schüttelte ihn, während ich durch die Wohnung zog. Beinahe wäre ich mit Mu-Ku zusammen gestoßen, der ja wirklich arg im Weg stand. Leichte Staubschwaden verteilten sich. 

Da noch etwas Zeit blieb, setzte ich mich an den Schreibtisch vor den jungfräulichen Schreibblock, der zwischen dem PC und einer Reihe mörderisch zugespitzter Bleistiften lag. Zunächst notierte ich, was ich morgen alles besorgen musste. Den nächsten Stift verwendend, schrieb ich:

„In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam die Idee auf, alles optimieren zu wollen: Zunächst die Wirtschaft, die Arbeitsabläufe und schließlich auch die Menschen. Und anstatt dass sie sich  gegen diese Zumutung wehrten, übernahmen sie dieses Denken und versuchten, sich in jedem Bereich zu optimieren: Es reichte nicht mehr, dass sie in dem Bereich perfekt waren, den sie gut konnten und gerne taten, nein, sie mussten ihren Lebenslauf, ihre Arbeit, ihre Gesundheit und Fitness einwandfrei gestalten und auch Familie und Haushalt mussten tadellos aussehen. Natürlich halten das die Wenigsten durch, und so findet man am Straßenrand des Lebens zahllose ausgebrannte Opfer. Dabei macht doch die Buntheit des Lebens seinen Wert aus, und unsere Unvollkommenheit macht uns menschlich!“

Ich zerknüllte das Blatt und warf es in den bisher natürlich leeren Papierkorb. Dann malte ich noch einige Herzchen und Blümchen an den Rand der nächsten Seite.  

So, alles erledigt für heute!

Samstag war Flohmarkt, und ich kam gegen Mittag mit reicher Beute in Lilys Wohnung an. Zunächst kramte ich die Kerzen und Räucherstäbchen hervor und zündete sie, verteilt im Raum, an. Eine farbenfrohe Decke aus Guatemala breitete ich über das Sofa, und allerhand Kunsthandwerk aus aller Welt fand seinen Platz in der ganzen Wohnung. Lily-Billy studierte Ethnologie und ich dachte, das könnte ihm gefallen. Er interessierte sich auch für Filmkunst und Jazz, weshalb er und Lily dieses Wochenende auf ein Musikfestival gereist waren.  

Das Bücherregal enthielt eine Auswahl von Bestsellern der letzten Jahre. Diese erhielten nun Gesellschaft durch eine Reihe reichlich zerlesener Literatur zum Thema Völkerkunde und Musik. Besonders stolz war ich auf einen Prachtband zu den frühen Filmen Sergei Eisensteins. Natürlich passten nicht alle dieser Bücher in die Regale – kein Problem, denn auf den stehenden Reihen war genug Platz, sie quer darauf zu legen.

Im Schlafzimmer räumte ich die schmutzige Wäsche weg und setzte statt dessen ein altes, verschmuddeltes Plüschzebra auf das Kissen. Lily wird sich dafür selbst eine schöne Geschichte ausdenken müssen. 

In der Küche befestigte ich mit einem bunten Sammelsurium von Kühlschrankmagneten die Ankündigungen unserer Programmkinos und Musikveranstaltungen an der Gerätetür.                 

So hatte ich nach und nach all meine Mitbringsel verteilt, nur für eine große, scharlachrote Stoffbahn mit eingewirkten Goldfäden fand ich keine Verwendung und beschloss, sie für weitere Aufträge zu behalten. Auch sonst sah die Wohnung schon präsentabler aus, einzig Mu-Ku stach durch seine glas- und chromgesättigte Präsenz hervor, aber da war nichts zu machen.

Nun musste ich noch in den Supermarkt, schließlich hatte ich Lily versprochen, für Sonntag ein Abendessen vorzubereiten (Lily-Billy würde glauben, das wäre ihr Werk), und wenn die Nacht nach Wunsch verlaufen würde, werden sich die beiden Turteltauben bestimmt über ein angemessenes Frühstück freuen.

Als ich später den Einkauf verstaute, überlegte ich, dass man früher gute Haushälterinnen auch als „Perle“ bezeichnet hatte: Selten und wertvoll. War ich dann auch eine Perle? Wenn ja, dann wohl eine schwarze: Noch seltener und wertvoller.

Sonntag bereitete ich erst einmal die Mahlzeit zu: Selleriechips mit orientalischem Dip, angolanisches Huhn mit viel Chili und Mousse au Chocolat. Bei dieser geballten Ladung aphrodisierender Leckerbissen sollte Lily-Billy doch sonst auch anbeißen …                

Schließlich gab es nur noch eins zu tun: Saubermachen. Aber nicht so, wie es bisher geschehen war, sondern so, als ob es Wichtigeres gäbe. Einen gemütlichen Fernsehnachmittag, in meinem Fall. Oder, in Lilys Fall, ein Wochenende mit ihrem Liebsten. Fast war ich fertig, nur noch die letzte Ecke war zu reinigen. Ungeduldig zerrte ich am Staubsauger, da spürte ich hinter mir eine Bewegung. 

Nein, das wird doch nicht …? 

Lautes Klirren.

 Dann Stille.

Ich drehte mich um. Da lag Mu-Ku, gefällt durch das Staubsauerkabel.

Das wollte ich wirklich nicht! Zitternd stellte ich die Lampe auf und klaubte die Scherben zusammen. Dabei schossen mir Gedankenfetzen durch den Kopf: „Schadenersatz! Enttäuschte Hoffnung! Ende der Liebe! Und: Kommt Murano-Glas in den Restmüll oder zum Altglas?“              

Schließlich sah ich mir die Bescherung an. Es war nichts zu machen, auf einer Seite war Mu-Ku entlaubt. Immerhin schienen die Lampen großteils unbeschädigt zu sein. Was tun? Die Ruine verschwinden lassen? Geht nicht. An die Wand rücken? Kein Platz. Die Zeit begann knapp zu werden, bald würde Lily mit ihrem Billy eintreffen. Ich erinnerte mich an das rote Stoffteil. Vielleicht mildert es Lilys ersten Schock, wenn ich das Malheur verdecke? 

Rasch breitete ich das Gewebe über das ramponierte Kunstwerk und band es unten zu. So sah es mit etwas Fantasie wie eine rote Blüte aus. Nun ja, mit viel Fantasie …

Montag saß ich unkonzentriert im Büro, fürchtete ich mich doch vor Lilys Anruf und ihren Vorwürfen, ihrer Enttäuschung, ihrer Wut, die allesamt berechtigt waren.

Ich starrte auf mein Handy wie das Kaninchen auf eine Schlange. Pünktlich zu Mittag kam dann der Anruf.

„Ich bin Ihnen soo dankbar“, zwitscherte Lily. „Es war alles perfekt, mein Lily-Billy fühlt sich wie zu Hause und möchte gleich nächste Woche einziehen. Und das Essen – traumhaft. Aber am schönsten war, was Sie mit der grauenhaften Stehlampe von Onkel Didi gemacht haben! Billy sagt, es erinnert ihn an The Gardens by the Bay!“

 

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Gardens of the Bay: https://de.wikipedia.org/wiki/Gardens_by_the_Bay#/media/Datei:Supertree_Grove,_Gardens_by_the_Bay,_Singapore_-_20120630-04.jpg