Von Helga Rougui

 

 

So wie sie aussah, modisch und teuer gekleidet, dezenter Echtschmuck, perfektes Make up, schicke Frisur, nicht zu dünn, eher rundlich auf eine elegante Art, schien sie die Richtige zu sein. Besonders attraktiv fand er ihre rosige, frische Gesichtsfarbe.

Er hatte es geschafft, sie anzusprechen, hatte sie in ein Gespräch über Kohl verwickelt, obwohl er von allen Sorten nur Rotkohl einigermaßen verdauen konnte, und sich Zubereitungstipps geben lassen, die er nie anwenden würde. Schließlich hatte sie ihm angeboten, für ihn Rotkohl mit Klößen zuzubereiten. Die Zutaten waren schnell zusammengestellt, schließlich befanden sie sich in einem Supermarkt. Er begleitete sie bis zu ihrer Wohnung und stellte die Einkäufe in der winzigen Küche ab. Ihre Wohnung lag im Untergeschoß, das – wie oft in englischen Städten, so auch hier in London – von außen über eine Treppe zu erreichen war. Auf einem Quadratmeter Erde direkt vor dem Küchenfenster wuchsen Sonnenblumen, so dass man, wenn man hinausschaute, nicht auf eine nackte Mauer blickte. Während er hinausblickte, nahm er ein kleines Vogelnest wahr, das auf der Fensterbank in einer Ecke thronte; sehr oft wurde dieses Fenster wohl nicht geöffnet.

Er drehte sich um. Sie hatte eine Flasche Rotwein geöffnet und goß zwei Gläser halbvoll. Sie prosteten sich zu, etwas verlegen, ihnen wurde bewußt, dass sie sich im Grunde gar nicht kannten. Er wußte von ihr nur, dass sie einsam genug war, spontan einen völlig Fremden in ihre Wohnung zu lassen, aus der er, das hatte er fest vor, nicht so bald wieder verschwinden würde.

Sie hatte inzwischen die Lebensmittel aus den Tüten genommen und teils einsortiert, teils auf der Arbeitsplatte neben dem Herd deponiert. Sie bat ihn, sich auf einen der beiden Stühle an den winzigen Esstisch zu setzen, er sei ihr sonst im Wege, meinte sie lachend, wie um sich zu entschuldigen, dass sie ihn herumkommandierte.

Er tat gehorsam, was sie sagte, und nahm einen Schluck. Der Wein war nicht schlecht, zwar nicht erste Klasse, aber gutes Mittelfeld. Er traute sich nicht, sie nach ihrem Namen zu fragen. Es wäre zu deutlich geworden, wie fremd sie sich noch waren. Er wollte keine Unsicherheit erzeugen, die ihn womöglich auf die Straße befördert hätte.

 

Das Problem wurde von ihr gelöst.

– Wie heißt du eigentlich? fragte sie beiläufig, während sie eine Zwiebel in Scheiben schnitt, und er wunderte sich, wie leicht ihr das Du von den Lippen kam. Im Geschäft und auf dem Weg zu ihr hatten sie sich gesiezt. Die vertraute Umgebung gab ihr wohl Sicherheit.

– Wolodja, antwortete er, indem er willkürlich eine Variante seines Vornamens preisgab, und du?

– Wilhelmine, aber du kannst Mina sagen, das klingt nicht so altmodisch. Obwohl ich im Grunde altmodisch bin.

Er musterte sie verstohlen, sie hatte ihre dunkelblaue Kostümjacke ausgezogen und ordentlich an die Garderobe gehängt, sich eine Schürze umgebunden, und stand nun in weißer Seidenbluse, Bleistiftrock und Highheels am Herd und briet die Zwiebeln an. Wann hatte sie den Rotkohl geschnitten? Dafür, dass sie, wie sie sagte, nicht so oft kochte, war sie ziemlich flink. Es wurde warm in der Küche, sie wirkte leicht erhitzt, bekam richtig rote Bäckchen, eine kleine Ader pochte hinter dem Ohr. Er nahm dies alles überdeutlich wahr. Er merkte, wie er Hunger bekam. Seit wann hatte er nichts mehr gegessen? Es schien ihm Tage her zu sein.

– Noch etwas Wein? sagte sie und schüttete ihm nach, ohne die Antwort abzuwarten.

Er hatte einen Moment das Gefühl, als seien sie schon zwanzig Jahre verheiratet, als wüßte er alles von ihr, doch was das sein könnte, konnte er nicht sagen.

Vielleicht wußte man nach zwanzig Jahren Ehe auch nicht mehr vom anderen als am ersten Tag des Kennenlernens. Besonders ihm würden Menschen an sich immer ein Rätsel bleiben.

 

Nach dem Essen zogen sie um ins Wohnzimmer. Das Gemüse war köstlich gewesen, die Klöße auch, Fleisch hatte es nicht gegeben, sie war Vegetarierin.

Nun, da der Vorwand für ihr Zusammensein weggefallen, buchstäblich aufgegessen war, richtete er sich auf ein Gespräch über seine Person, vielleicht sogar ein Verhör ein. Sie hatte eine zweite Flasche Wein aufgemacht und starrte in ihr Glas, studierte die dunkelrote, fast schwarze Flüssigkeit des Malbec.

Er fühlte sich angenehm schläfrig und fast ruhig wie seit Wochen nicht mehr und hätte am liebsten weiter geschwiegen, den ganzen Abend lang bis tief in die Nacht hinein, aber das bohrende Hungergefühl wurde immer stärker. Zudem hatte er den Eindruck, sie unterhalten zu müssen, vielleicht um sie einzulullen, zumindest aber, um sie nicht zu langweilen.

 

– Langweilst du dich? fragte sie plötzlich.

Und fügte erklärend hinzu:

– Ich bin wohl kein Mensch für leichte Konversation, gehe kaum ins Theater oder Kino, wüßte also nicht zu sagen, was gerade in ist. Ich bin Kosmetikerin in einer Drogerie, also Verkäuferin, zu viel Arbeit, zu lange Arbeitszeiten, Termine meist bis spät in den Abend hinein. Das heute war eine Ausnahme. Der Termin vor Feierabend ist weggefallen, und so konnte ich …

Sie brach ab. Er hatte gerade gedacht, was für ein Glück es war, dass er sich nicht zu den neuesten Filmen würde äußern müssen – hätte er doch keinen einzigen Titel nennen können. Die letzte Neuerscheinung, die er gelesen hatte, war „Le Sopha“ gewesen, von Crébillon fils, und den Inhalt dieses Romans hatte er nach der langen Zeit, die vergangen war, völlig vergessen. Aber vom Lesen hatte sie nicht gesprochen. Las sie überhaupt?

 

– … so konntest du mir ein sehr köstliches Mahl zubereiten, liebe Mina, wofür ich dir sehr dankbar bin. Wo hast du dermaßen gut kochen gelernt?

Während sie von ihrer Großmutter erzählte, bei der sie aufgewachsen war und die sie unter anderem auch im Kochen unterwiesen hatte, schaute er sie an, wie sie erzählte, wie ihr Mund, blutroten Blütenblättern gleich, sich öffnete und schloß. Wurde er jetzt kitschig? Er hatte so lange keine hübsche Frau mehr betrachtet, dass er sich ein wenig Sentimentalität wohl erlauben konnte. Und sie wirkte so überaus appetitlich. Immer wieder kehrte sein Blick zu jener kleinen sanften Stelle hinter dem Ohrläppchen zurück, wo an der weißen Haut ihres Halses die kleine Ader pochte. Fast tat es ihm leid, solche Perfektion zerstören zu müssen.

Aber er hatte trotz des reichlich genossenen Weines immer noch Durst, großen Durst. Er würde wohl nicht länger warten können.

 

– Meine Güte, ich dachte, er würde nie einschlafen, und das bei der Dosis! Lucy, du kannst jetzt kommen!, rief Mina.

Die Schlafzimmertür öffnete sich, und Lucinda, genannt Lucy, erschien und setzte sich dicht neben ihre Freundin. Gemeinsam betrachteten sie schweigend ihre Beute.

– Ein schönes Exemplar, meinte Lucy schließlich, da wird uns Professor Abraham ein schönes Sümmchen dafür bezahlen müssen.

– Ja, ein netter Nebenverdienst, nicht wahr? erwiderte Mina. Mit unserem mageren Lohn als Verkäuferinnen kämen wir doch niemals über die Runden. Und es hat mir einen Riesenspaß gemacht, zuzusehen, wie er seinen Appetit zügeln mußte.

– Ich bin dann das nächste Mal dran, freu mich schon drauf, und London ist ja noch lange nicht abgegrast.

– Und wenn schon, liebste Lucy, wir werden auf jeden Fall noch eine ganze Weile beschäftigt sein. Es kommt ja mit jedem Schiff wieder frische Ware aus Transsylvanien …