Von Sonja Ziegler

 

Rainer hatte die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Nach seiner Schauspielausbildung war er zwar immer wieder für kleinere Nebenrollen gebucht worden, aber der große Durchbruch war bislang ausgeblieben – die Rollen des Bergdoktors und des Bergretters waren ja leider schon vergeben. Wie jeden Samstag saß er in seinem Stammcafé und durchsuchte die Lokalzeitungen nach interessanten Jobangeboten, als diese Anzeige seine Aufmerksamkeit erregte:

 

We are Family!
Familientreffen der besonderen Art

Sie sind empathisch, unvoreingenommen und verfügen über Fantasie und schauspielerisches Talent? Wir bieten Ihnen einen lukrativen Nebenerwerb, bei dem Sie Ihrer Kreativität freien Lauf lassen können. Rufen Sie uns an!

 

Nach dem ersten Telefonat mit dem Betreiber dieser Agentur wurde klar: Rainer war die ideale Besetzung für diesen Job. Bei einem Vorbereitungsseminar traf er auf andere arbeitslose Schauspielerkollegen, die wie er nervös auf ihren Stühlen herumrutschten und sich fragten, was es wohl mit diesem Nebenerwerb auf sich hatte. Dann betrat ein älterer Herr die kleine Bühne.

„Guten Tag zusammen! Mein Name ist Walter Fröhlich und ich habe diese Agentur gegründet, um Eltern zu helfen, die den Verlust ihres Kindes verkraften müssen.“ Danach wurden noch etliche Rollenspiele durchgeführt, die für die meisten Teilnehmer jedoch keine große Herausforderung darstellten. Immer wieder schärfte ihnen Herr Fröhlich die wichtigsten Verhaltensregeln ein:

 

„Egal, wie sich Ihre Einsätze entwickeln, bleiben Sie gelassen und versuchen Sie nicht, aufkeimende Auseinandersetzungen zu schlichten oder gar schwelende Konflikte zu lösen! Das ist nicht Ihre Aufgabe. Behalten Sie Ihre persönliche Meinung für sich, bleiben Sie neutral und sorgen Sie für eine harmonische Stimmung. Spenden Sie Trost, lächeln Sie und meiden Sie vor allem die üblichen Themen mit hohem Konfliktpotenzial, Sie wissen schon: Geld, sexuelle Orientierung, Religion und Politik.“

 

Danach wurden die Dossiers ausgeteilt. „Das könnte passen“, sagte Herr Fröhlich zu Rainer und drückte ihm eine dünne Mappe in die Hand. „Viel Glück!“

Rainer schlug den Ordner auf und las:

Vater: Josef Keller, 61 Jahre, Geschäftsmann

Das beigefügte Foto zeigte einen sympathischen älteren Herrn, der offen und selbstbewusst in die Kamera blickte.

Mutter: Maria Keller, 59 Jahre, Hausfrau

Die Frau auf dem Bild wirkte deutlich älter, Sorgenfalten hatten sich tief in ihre Stirn gegraben.

Vor 12 Jahren hatten die beiden ihren Sohn „verloren“. Holger war nach seinem Studium zu einer längeren Reise aufgebrochen und hatte dann den Kontakt zu seinen Eltern von heute auf morgen abgebrochen, ohne Angabe von Gründen.

„Also müsste er jetzt so Mitte 30 sein – das passt!“, dachte Rainer. Der junge Mann auf dem Foto sah ihm sogar ein wenig ähnlich. Die Mutter würde in wenigen Wochen ihren 60. Geburtstag feiern und wünschte sich nichts sehnlicher, als bei dieser Gelegenheit ihren Sohn wiederzusehen. Geschwister gab es keine. Nur ein paar Onkel, Tanten und Cousinen würden an dieser Veranstaltung teilnehmen.

 

Rainer dachte an seine eigenen Eltern … Seine Familie und er hatten sich schon vor Jahren „auseinandergelebt“, aber das war doch völlig normal – oder? Mit Unbehagen dachte er an die jährlichen Geburtstagsfeiern, die immer nach demselben Schema abliefen. Oft hatte er das Gefühl, dass seine Eltern seinen unkonventionellen Lebensstil missbilligten, aber ein offenes Gespräch fand nie statt. Diese qualvollen Stunden belanglosen Smalltalks waren nur schwer zu ertragen, aber deswegen musste man doch nicht gleich den Kontakt zu seinen Eltern abbrechen …?

 

Kurz vor seinem Einsatz nahm Rainer Kontakt zu seinem „Vater“ auf, um den genauen Ablauf seines Einsatzes zu besprechen. Sie trafen sich in einem Café in sicherer Entfernung von Rainers Einsatzort. Herr Keller betrat das Lokal und ließ seinen Blick über die Tische schweifen. Rainer setzte ein strahlendes Lächeln auf und winkte ihm zu. Die beiden schüttelten sich die Hände und Rainer bemühte sich, den forschenden Blick des Mannes zu erwidern.

„Ich danke Ihnen, dass Sie bereit sind, sich dieser Herausforderung zu stellen. Darf ich Sie Holger nennen?“ Rainer nickte. „Sie wissen ja schon ungefähr, um was es geht. Die letzten Jahre ohne unseren Sohn waren kein Zuckerschlecken. Ständig diese Fragen von meinen Geschäftspartnern: „Ist dein Sohn endlich fertig mit seinem Studium? Wann willst du ihm die Firma übergeben? Und unsere Freunde fragen ständig nach Enkelkindern, als wenn es nichts Wichtigeres gäbe im Leben! Ich weiß nicht mehr, was ich den Leuten erzählen soll. Wie stehe ich denn da? Ich habe einen Ruf zu verlieren … Wissen Sie, meine Frau und ich haben uns aufgeopfert für unseren Sohn! Wir haben ihm die beste Schulbildung ermöglicht, die man sich vorstellen kann. Er hätte sofort nach dem Studium in meine Firma einsteigen können – und was macht der Bengel? Haut einfach ab, ohne sich zu verabschieden! Eine Frechheit!“

Herr Keller stoppte kurz, um Luft zu holen. Rainer lächelte und nickte erneut.

 

„Wissen Sie, meine Frau hat diese Sache nicht gut weggesteckt und ich habe ihr versprochen, dass ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um Holger zu finden. Euer Wiedersehen soll die schönste Überraschung ihres Lebens werden und ich möchte, dass Sie, äh, dass du, Holger, bei der Geburtstagsfeier meiner Frau eine schöne Rede hältst und den Leuten vor allem erzählst, wie harmonisch deine Kindheit verlaufen ist, du uns unendlich dankbar bist für alles, was wir für dich getan haben.“

„Das kostet aber extra!“, warf Rainer ein. „Das gehört eigentlich nicht zu meinem Aufgabengebiet.“

„Kein Problem, da werden wir uns schon einig werden!“, antwortete der Geschäftsmann. Dann schob Herr Keller einen Stapel Fotos über den Tisch. „Das sind so die Hauptpersonen in unserer Familie. Ich hab dir die Namen und ein paar Infos auf die Rückseite geschrieben.“

Rainer schaute sich die Bilder an und verschaffte sich einen Überblick. Sahen doch alle nett aus … Tante Gerlinde fand er besonders sympathisch. „Backt den besten Apfelkuchen der Welt“ stand unter ihrem Namen. Das konnte ja heiter werden …

 

Zu seinem Einsatz erscheint Rainer wie besprochen ein wenig später als die übrigen Gäste. Herr Keller möchte zu intensive Gespräche im Vorfeld vermeiden. Als sein Vater ihn dann als Überraschungsgast präsentiert, gibt es ein großes Hallo. Frau Keller wirft sich in seine Arme und schluchzt laut. Sie hat es also geschluckt … Rainer hält seine Tischrede und entschuldigt sich bei allen für sein ungebührliches Verhalten. Es gibt viel Applaus, Taschentücher werden gezückt, Tränchen kullern. Rainer blickt in strahlende Gesichter und denkt: „Mission erfüllt!“

 

Nach dem Festessen geht Rainer auf Tuchfühlung mit der Festgemeinde. Die meisten fragen nach Frau und Kindern. Und Rainer ist bestens vorbereitet, zückt sein Handy und zeigt stolz das Foto einer sympathischen jungen Frau und drei kleinen Kindern, das er kurz vorher bei IKEA heruntergeladen hat.

Onkel Herbert kneift Rainer in den Bauch und lacht: „Du hast ja ganz schön zugelegt, mein Lieber!“ Dann senkt er die Stimme und fragt hinter vorgehaltener Hand: „Sag mal, was ist eigentlich aus deinem Freund Florian geworden? Mit dem warst du doch so eng befreundet.“ Er zwinkert Rainer zu und legt ihm den Arm um die Schultern. „Mir kannst du’s doch sagen … Ich hab doch gar nix gegen Schwuchteln!“

 

In diesem Moment kommt Tante Gerlinde auf ihn zu, trägt stolz eine große Kuchenplatte vor sich her.

„Guck mal, was ich hier habe!“, ruft sie und strahlt. „Du warst doch immer total verrückt nach meinem Apfelkuchen, weißt du noch?“

„Wie könnte ich jemals deinen berühmten Apfelkuchen vergessen? Auf der ganzen Welt hab ich keinen besseren gefunden!“ Gerührt tätschelt Gerlinde Rainers Wange.

 

Bis weit nach Mitternacht stellt sich Rainer den neugierigen Fragen seiner Familie und hat für jeden die passende Lüge parat. Herr Keller verfolgt das Schauspiel mit Argusaugen und ist sichtlich zufrieden. Als alle Gäste gegangen sind, überreicht er Rainer seinen Scheck, als seine Frau gerade abgelenkt ist, und klopft ihm anerkennend auf den Rücken.

„Das hast du gut gemacht! Einen Sohn wie dich hab ich mir immer gewünscht! Schade, dass wir keine Gelegenheit hatten, das Ganze vorher zu proben. Dann wäre es bestimmt noch besser geworden!“

 

Frau Keller gesellt sich wieder zu ihnen und hakt sich bei Rainer unter.

„Komm, lass uns ein wenig in den Garten gehen! Ich hab dich so schrecklich vermisst, aber jetzt ist wieder alles wie früher. Wie lange bleibst du noch?“

„Mein Flieger geht leider schon morgen früh um acht. Die Geschäfte warten! Du weißt ja, wie das ist …“, erwidert Rainer und lächelt schuldbewusst.

„Bitte versprich mir, dass du jetzt öfters bei uns vorbeischaust und deine ganze Familie mitbringst! Ich möchte doch endlich unsere Enkelkinder kennenlernen!“ Sie lächelt gequält. Ihr Gesicht ist voller Stressflecken und Rainer denkt bedrückt: „Wie verzweifelt muss diese Frau sein, dass sie sich so leicht täuschen lässt?“

Sie umarmen sich ein letztes Mal und Rainer denkt belustigt: „Das läuft dann wohl auf einen Vollzeitjob hinaus …“

 

Früh am Morgen verlässt Rainer das Restaurant und schlendert selbstzufrieden über den Parkplatz zu seinem Wagen. Unter einer Straßenlaterne steht einer der Kellner und raucht seine letzte Zigarette. Er wirft Rainer einen finsteren Blick zu und versperrt ihm den Weg.

 

„Na, du miese kleine Ratte – bist du zufrieden mit deiner kleinen Schmierenkomödie?“

„Wer sind Sie? Kennen wir uns?“, stottert Rainer verdutzt.

„Keine Ahnung, wer du bist – ich bin der Florian. Holger war meine große Liebe, bis der Alte uns auseinandergebracht hat. Das Schwein denkt wohl immer noch, dass man alle Probleme der Welt mit Geld lösen kann, hat nichts aus seinen Fehlern gelernt.“

Ein verschlagenes Grinsen huscht über sein Gesicht.

„Aber keine Sorge, mein Lieber, dein kleines Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben… sagen wir fifty-fifty?“

 

 

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