Von Björn D. Neumann
Tom Jackson arbeitete an seinem Schreibtisch, als die Bürotür aufflog. Eine bullige Gestalt mit Vollbart und Zigarre im Mundwinkel betrat den Raum. Jackson sprang pflichtschuldig auf.
„Mr. Pinkerton, schön Sie zu sehen“, stammelte er aufgeregt und errötete.
„Gibt schönere Anlässe“, brummte der Firmenchef und warf eine Zeitung auf den Tisch. „Lesen Sie!“, befahl er schroff.
Tom nahm die Zeitung auf und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. In großen Schlagzeilen stand dort:
‚Eisenbahnraub! Belle Starr und ihre Bande hat wieder zugeschlagen!‘
Tom schluckte. Seit 2 Jahren war ihm der Fall zugewiesen. Belle Starr, die Younger Brothers und der gefürchtete Jesse James überfielen immer wieder Eisenbahnen, Postkutschen und Banken. Er hatte schon herausgefunden, dass sie irgendwo im Indianerreservat von Oklahoma ihr Versteck ‚Youngers Bend‘ hatten. Aber diesen Ort zu finden, war die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Er konzentrierte sich wieder auf den Artikel und las:
‚Vergangene Woche, Sonntag, den 15. August, kam es zu einem Überfall auf die Northern Pacific Railroad zwischen Glendive und Billings. Dabei zog eine ganz in Schwarz gekleidete Frau, die sich als die gesuchte Banditin Belle Starr herausstellte, die Rolleine zur Bremsung. Starr zückte ein unterm Kleid verstecktes Bowie-Messer und einen 45er Colt und bedrohte die Fahrgäste. In der Zwischenzeit erreichten ihre Komplizen zu Pferd die Eisenbahn. Ein Schaffner, der versuchte, Starr aufzuhalten, wurde mit zwei Schüssen niedergestreckt. Laut Zeugenaussagen soll es sich bei den Mittätern um den berüchtigten Jesse James und ihren derzeitigen Ehemann, den Cherokee Jim July Starr, handeln. Das Trio erbeutete mehrere hundert Dollar in Bargeld und Schmuck. Anschließend flohen sie zu Pferd vom Tatort. Der Bundesstaat Montana hat ein Kopfgeld von hundert Dollar für jeden von ihnen ausgesetzt.‘
Ungeduldig trommelte Pinkerton mit seiner Hand auf dem Schreibtisch. „Haben Sie endlich ausgelesen?“ Tom nickte. „Was sagen Sie dazu? Die Northern Pacific ist einer unserer wichtigsten Kunden. Die wollen, dass ihre Zugverbindungen sicher sind. Sorgen Sie dafür, dass dieses Ungeziefer von der Bildfläche verschwindet! Unser Ruf steht auf dem Spiel! Ich will, dass Sie morgen früh nach Montana aufbrechen!“
***
Seit zwei Monaten hatte sich Tom in Billings eingemietet. Anzug und Bowler mussten der schlichten Kleidung eines Cowboys weichen. Nur so konnte er sich unbemerkt in den Kreisen bewegen, die für seine Ermittlungen notwendig waren. Sein unrasiertes Gesicht blickte ihm mit müden Augen aus dem Spiegel, der über der Kommode mit der Waschschüssel hing, an. Es lag wieder eine erfolglose Nacht in den Saloons der Umgebung hinter ihm. Belle Starr war bekannt wie ein bunter Hund, aber niemand wollte sie auch nur irgendwo gesehen haben. Es war zum Verzweifeln. Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Schnell wischte er sich mit einem Handtuch durchs Gesicht und öffnete. Ein Junge stand dort und hielt ihm ein Papier entgegen.
„Das soll ich bei Ihnen abgeben, Sir.“
Ohne zu antworten, nahm Tom den gefalteten Zettel entgegen, kramte in seiner Hosentasche und warf dem Jungen einen Nickel zu und schlug im Umdrehen die Tür zu, ohne Dank und Gruß abzuwarten. Hastig entfaltete er das Papier. Dort stand in einer fast unleserlichen, gekrakelten Schrift: 04. November – Bozeman – Poker. Die Nachricht stammte von einem seiner Informanten und besagte, dass Belle Starr in einer Woche an einer größeren Pokerrunde teilnehmen würde. Endlich hatte Tom eine Spur. In Windeseile packte er seine Sachen und holte sein Pferd aus dem Stall. Bis zum Zielort waren es zwei Tagesritte.
***
Tom quartierte sich wieder im Hotel vor Ort ein. Um an dem Pokerspiel teilnehmen zu können, ließ er sich von der Agentur eine nicht unbescheidene Summe Dollar telegraphisch anweisen. Mit Pinkerton traf es keinen Armen. Und um das Vertrauen der Einheimischen zu erlangen, war es nötig, sich öfter im Saloon blicken zu lassen, die ein oder andere Runde zu spendieren und vor allem beim Poker eine Menge Geld zu verzocken. So dauerte es nicht lange, bis ihn der Barkeeper ansprach.
„Mister, Sie sind doch einer guten Partie Poker nicht abgeneigt, oder?“
„Wenn der Einsatz stimmt, immer.“
„Nun, am Samstag findet hier eine größere Pokerrunde, auch mit Leuten von außerhalb, statt. Ich frage mich, ob Sie nicht daran teilnehmen wollen?“ Bei der Frage zwinkerte er einem Gast am Ende des Tresens zu, der anscheinend unbeteiligt in sein Glas stierte.
„Wenn ich mir eine solche Gelegenheit entgehen lasse, soll mich doch der Teufel holen!“, grinste Tom.
„Sehr gut, dann Samstagabend“, grinste der Barmann und goss Tom einen Whisky ein. „Der geht aufs Haus.“
Tom wusste, dass man ihn für ein leichtes Opfer hielt. Sein Plan war aufgegangen. Wenn jetzt Belle Starr auftauchte, konnte er seinen Auftrag zur Zufriedenheit der Pinkerton Agency und der Nothern Pacific Railroad zum Abschluss bringen.
***
Der Saloon war zum Bersten gefüllt. Für den Pianisten war es kaum möglich, gegen das Stimmengewirr anzuspielen. Tom drängte sich durch die Massen. Der Barmann, der mit seiner dreckigen Schürze gerade ein Glas abtrocknete, wies mit seinem Kinn in Richtung einer Tür am anderen Ende des Saloons. Tom tippte sich an die Hutkrempe und nickte kurz zurück. Ein Kleiderschrank, der vor der Tür stand, musterte ihn von oben bis unten, tauschte Blicke mit dem Barbesitzer aus und trat beiseite.
In der Mitte des Raumes hing ein Kronleuchter. Der darunter, mit grünem Filz bezogene Tisch, bot Platz für sechs Personen. Vier Plätze waren schon besetzt. Keiner davon mit Belle Starr. Enttäuschung kroch in Toms Magengrube. Er setzte sich auf einen der freien Plätze. Vor ihm waren Chips mit 5, 10 und 20 Dollar Wert gestapelt. Insgesamt 1.000 Dollar, die er schon vor Antritt des Turniers getauscht hatte.
Dann schwang die Tür auf. Eine Frau im roten, seidenen Kleid betrat den Raum. Die schwarzen Haare waren hochgesteckt mit einer Haarnadel, an deren Ende eine rote Feder steckte. Eine Perlenkette betonte das tief ausgeschnittene Dekolletee. Begleitet wurde sie von einem grimmig dreinblickenden Cherokee. Zwei geflochtene Zöpfe fielen aus einem breitkrempigen Hut, der mit einer Adlerfeder geschmückt war. Tom wusste, dass das Belles Ehemann sein musste.
„Guten Abend, die Herren!“, rief sie fröhlich. „Ich hoffe, eure Geldbörsen sitzen locker.“
Pflichtschuldig lachten die anderen Pokerspieler, während Belle sich Tom direkt gegenübersetzte. Belle war hübsch, schoss es ihm durch den Kopf. Keine Schönheit, aber ihr selbstbewusstes Auftreten zog alle Anwesenden direkt in den Bann. Der Geber verteilte die ersten Karten und die Spieler machten ihre Einsätze. Das große Spiel begann.
***
Das Spielzimmer war rauchgeschwängert. Der Spieler zu seiner Rechten, der Arzt der Stadt, warf entnervt seine Karten auf den Tisch.
„Ich passe! Für mich ist der Abend gelaufen.“
Belle blies einen Kringel Rauch in die Luft und lachte, während sie mit beiden Händen einen Haufen Chips aus der Tischmitte zu sich rüberzog. Sie blickte Tom tief in die Augen.
„Dann sind nur noch wir zwei übrig, Darling. Oder pisst du dir in die Hosen?“
Die vulgäre Sprache schockte Tom, aber zog ihn auch gleichzeitig an. Er sah ihr tief in die Augen, hielt ihrem Blick stand und machte seinen Einsatz. Belle verteilte die Karten. Zwei Damen und zwei Zehnen. Dazu die Kreuzacht. Tom nahm einen großen Schluck Whisky. Den Abend über hatte er seinen Auftrag vollkommen verdrängt. Zu versessen war er, dieses Spiel zu gewinnen und zu gefangen von Belle Starr, die ihn den ganzen Abend wie eine Raubkatze beäugt hatte. Sehr zum Missmut von ihrem Ehemann, der die ganze Nacht über hinter Belle an der Wand gelehnt stand und Tom böse anstarrte. Es war kein Geheimnis, dass die Banditin es mit der ehelichen Treue nicht allzu ernst nahm, und Toms Plan war, sie wie die Maus in die Falle zu locken.
„Ich nehme eine“, sagte Tom, worauf Belle ihm eine Karte zuwarf. Es war eine weitere Dame. Full-House! Das war seine Siegchance. „Dann hören wir doch mit den Spielchen auf. All-in, Lady!“
Belle lachte auf. „Yes, Sir! All-in und dazu kriege ich deinen hübschen Arsch!“ Jim knurrte. „Halt die Klappe, du Schlappschwanz!“, fauchte sie ihn an. „Dann zeig‘ mal, was du hast“, flötete sie Tom zu.
„Full-House!“ Tom strahlte und wollte den Topf einstreichen.
„Nicht so schnell, Bürschchen!“ Langsam legte sie eine Karte nach der anderen offen. Kreuz As. Pik As. Karo As. Und letztendlich das Herz As. Belle hatte gewonnen.
„Man sollte sich nie zu sicher sein, Cowboy. Langsam schritt sie zu ihm rüber, stellte lasziv ein Bein auf den Stuhl neben ihm, so dass er ein Blick auf ihre langen Beine zu sehen bekam, die in schwarzen Netzstrümpfen und Schnürstiefeln steckten. „Und jetzt will ich meinen Preis“, hauchte sie ihm ins Ohr.
***
Toms Kopf dröhnte. Die Zunge war pelzig. Langsam öffnete er die Augenlider. Das Licht schmerzte und als er versuchte, die Augen zu reiben, konnte er seine Arme nicht bewegen. Seine Hände steckten über Kopf in Handschellen, die am Bett befestigt waren. Er hörte ein höhnisches Lachen.
„Die gehören, glaube ich, dir. Nicht wahr? Agent Jackson.“
Erst jetzt bemerkte er Belle, die am Bettende stand. Die Abendgarderobe hatte sie inzwischen gegen schlichte Männerkleidung getauscht. „Woher weißt du?“
„Glaubst du, ich überprüfe nicht die Teilnehmer meiner Pokerrunden?“ Sie warf ihm seinen Dienstausweis der Pinkerton Agency aufs Bett. „So long, Tommy-Boy.“ Sie tippte sich an den Hut und verließ lachend das Zimmer.
***
Tom saß in der Eisenbahn auf dem Rückweg nach New York. Er war gescheitert. Belle Starr war wieder vom Erdboden verschluckt. Er sah auf und schluckte. Auf der Zeitung seines Gegenübers war zu lesen:
‚Belle Starr tot aufgefunden. Verletzungen durch zwei Schrotladungen. Jim Starr auf der Flucht‘
„Ruhe in Frieden“, dachte Tom wehmütig und schloss die Augen.
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