Von Karl Kieser

Wunderbar, ein freier Fensterplatz! Sogar auf der Schattenseite der Bahn.
Seit Tagen ist es heiß am späten Nachmittag, wenn Annika sich auf den Heimweg macht.
Heute war wieder ein anstrengender Tag. Nicht jeder Patient ist so nett wie der alte Herr Drewitz, der sich strikt an alle Anweisungen hält und immer aufmunternde Worte für die stressgeplagten Krankenschwestern hat. Mit ihr versucht er immer einen kleinen Flirt. Nie versäumt er, zu betonen, dass sie seine Lieblingsschwester ist.
Annika weiß natürlich von ihrer Wirkung auf Männer. Daher ist ihr das geradezu rüpelhafte Benehmen des Stationsarztes besonders unverständlich. Was hat er nur gegen sie? Heute ist er wieder wegen einer Kleinigkeit ausfallend geworden. Dabei hat sie nur die Anweisungen der Oberschwester ausgeführt.

Erleichtert lässt sie sich auf den Platz sinken und kramt sofort den Thermobecher aus ihrer Tasche, denn der ist mit Eistee gefüllt und sie sehnt sich nach einem kühlen Schluck. Selbst in der ruckeligen Regionalbahn ist das mit dem soliden „Strohhalm“ kein Problem. Die Bahn ruckt auch prompt an und rumpelt über einige sanierungsbedürftige Weichen im Bahnhofsbereich.
Erst jetzt fällt ihr der junge Mann auf, der ihr gegenübersitzt und sie verstohlen anstarrt. Sie weiß sofort, dass sie von ihm keinen Ärger zu erwarten hat. Er gehört eher zu der Sorte der heimlichen Bewunderer. Sie gönnt ihm einen Augenblick ungestörten Betrachtens, indem sie aus dem Fenster blickt und ihm ihr Profil bietet. Sie liebt dieses Spiel, bei dem jede Seite so tut, als ob alles beiläufig und zufällig geschieht.

Wenig später wendet sie sich wieder ihrem Eistee zu und der junge Mann beginnt abrupt an dem Papiergebinde auf seinem Schoß zu nesteln. Fühlt er sich ertappt und will er mit der etwas hektischen Aktion klarstellen, dass er mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist? Annika müsste nach den Regeln des Spiels nun sehr unbeteiligt tun und vielleicht ein Buch aus ihrer Umhängetasche graben. Aber ihr Gegenüber gefällt ihr und sie will ihn ein wenig bestrafen dafür, dass er sie nicht ansprechen wird.
Sie bemerkt, dass er sich mit einem kurzen Blick vergewissert, wie interessiert sie auf das immer noch unversehrte Päckchen starrt. Er muss einfach weitermachen, um sich keine Blöße zu geben. Aber das Klebeband, mit dem das zarte Papiergebilde in Form gehalten wird, ist widerspenstig.
Er hätte längst mit einem Achselzucken aufgeben können, aber etwas treibt ihn weiter. Schließlich ist das Papier in Fetzen und entblößt zwei Stücke Bienenstich.
Die hat er vielleicht für sich und seine Freundin eingekauft und sie sollen womöglich den heutigen Fernsehabend versüßen. Aber wenn die barbarische Kuchenenthüllung einen Sinn ergeben soll, dann …
Die wird er doch wohl nicht hier essen wollen? Jeder weiß doch, dass ein frischer Bienenstich, der aus der Hand gegessen wird, nur in einer Katastrophe enden kann.
Er blickt auf, direkt in Annikas Augen. Sie lächelt, aber das ist ein sardonisches Lächeln.

Annika sieht, dass er leicht zusammenzuckt. Er ist dicht vor dem Aufgeben, möchte den Blick abwenden und so seine Niederlage eingestehen. Doch dann sieht sie seine Entschlossenheit, denn die kunstvolle Umhüllung des Päckchens ist ja schon ruiniert und was hätte es für einen Sinn, jetzt noch aufzugeben. 

Ein wunderbarer Duft weckt die Lebensgeister des schwarz-gelben Insekts. Noch ist nicht die Zeit für endgültiges Aufgeben.

Ohne den Blick von ihr abzuwenden, schafft er es mit traumwandlerischer Sicherheit, eines der Kuchenstücke anzuheben und an den Mund zu führen.

Annika hat nun doch Mitleid mit ihm. Sie könnte ihn mit einer Bemerkung stoppen. Damit würde sie zwar ihre Beteiligung an dem Spiel zumindest einräumen, aber ihre Blicke haben sich förmlich ineinander verhakt. Außerdem geht dann doch alles sehr schnell.
Schon hat er ein Stück abgebissen und nichts quillt hervor oder platscht herunter. Er muss den vorderen Teil der weichen Füllung vor dem Biss herausgesaugt haben. In seinen Augen ist Triumph. Annika will schon zu einer anerkennenden Bemerkung ansetzen, als sie Überraschung und Unsicherheit bei ihm zu erkennen glaubt. Dann kippt der Ausdruck in seinem Gesicht abrupt ins reine Entsetzen. Das Kuchenstück in seiner Hand fliegt zur Seite, als wenn er eine heiße Kartoffel loswerden will. Er beugt sich vor und versucht, den Bissen in das zerstörte Päckchen auf seinem Schoß zu spucken. Die klebrige Masse quillt zwar hervor, aber er muss mit dem  Finger nachhelfen.
Nun sieht Annika den sich windenden Körper einer Wespe oder Biene in dem Matsch und begreift schlagartig, was passiert ist.

Den Kuchenliebhaber hält es nicht mehr auf seinem Platz. Er springt auf und greift sich an den Hals. Sein Mund ist weit geöffnet. Sie kann die monströs geschwollene Zunge sehen, immer noch verschmiert mit Cremeresten und Mandelstückchen. Dass dabei der Rest des Kuchenpaketes auf Annikas nackten Knien gelandet ist, bemerkt sie nicht. Hier ist ein Mensch, der schnelle Hilfe braucht. Sie springt ebenfalls auf und greift fast automatisch nach der Notbremse. Erst nach dem ersten Bremsruck fragt sie sich, wie sinnvoll das war, denn auf freier Strecke ist ja noch weniger Hilfe zu erwarten.
Im Kreischen des bremsenden Zuges gelingt es den beiden, stehen zu bleiben. Annika packt die Schultern des Mannes, schüttelt ihn und schreit: „Notfallset?“ In seinen Augen ist nur Angst und Unverständnis. Noch einmal versucht sie es: „Haben Sie ein Notfallset dabei?“ Wild schüttelt er den Kopf. Sein Brustkorb arbeitet krampfhaft, um Luft in die Lungen zu bekommen. Aus seinen Augen schreit die Panik.
Bei Annika hat die routinierte Krankenschwester die Regie übernommen. Sie will die Verantwortung für dieses Leben nicht, obwohl sie sich an dem unglücklichen Verlauf nicht unschuldig fühlt. Aber sie weiß, dass bei einer solchen allergischen Reaktion auf einen Wespenstich nur radikale Mittel helfen. Ohne Notfallset bleibt nur noch ein Weg. 

Mit einem Ruck kommt die Bahn zum Stehen. In die plötzliche Stille ruft Annika verzweifelt: “Hilfe! Ist ein Arzt hier?“
Die Bahn ist gut besetzt, aber niemand meldet sich. Dafür werden von allen Seiten Stimmen laut, die fragen, was denn eigentlich los ist.
Der Allergiker ist auf den Mittelgang hinausgestolpert und dort zusammengekrümmt auf die Knie gesunken. Sein Körper bäumt sich wie in Krämpfen in dem verzweifelten Versuch, Luft zu bekommen. Annika weiß, dass höchste Eile geboten ist. Wenn niemand mit der Kompetenz eines Arztes erreichbar ist, dann muss sie selbst aktiv werden. Ihr graut davor, denn die notwendigen Schritte einer Tracheotomie kennt sie nur theoretisch. Trotzdem ist sie im Geiste bereits ihre Hilfsmittel und Möglichkeiten durchgegangen. Der metallene Trinkhalm ihres Thermobechers kann die Luftröhre offenhalten und das winzige Taschenmesser, ihr Schlüsselanhänger, muss das Skalpell ersetzen.
Erst jetzt dringt die ganze Wucht der Verantwortung in ihr Bewusstsein. Oh nein, doch nicht hier, auf dem Boden eines schmutzigen, engen Ganges, ohne die kontrollierende Aufsicht eines erfahrenen Lehrers. Was ist, wenn sie etwas falsch macht? Niemand wird ihren Fehler korrigieren.
Vielleicht trägt aber ein anderer Passagier ein solches Mittel bei sich und diese Prüfung bleibt ihr erspart?
Mit beginnender Verzweiflung schreit sie gegen die Fragen der anderen Passagiere:
„Schnell, ein Anaphylaxie-Notfallset, hat das jemand dabei?“ 

Wieder meldet sich niemand. Annika hat selbst das Zittern in ihrer Stimme bemerkt. Jetzt wird sie plötzlich ruhig und gefasst. Es gibt keinen leichten Ausweg. Sie stellt sich der Aufgabe. Mit der Alternative könnte sie nicht leben. Das hieße ja, dem armen Kerl beim Sterben zuzusehen.
Entschlossen wendet sie sich erneut an die Fahrgäste: „Anaphylaktischen Schock. Blockierte Atemwege. Ohne Hilfe wird der Mann ersticken. Ich bin Krankenschwester. Ich versuche es. Aber ich brauche Helfer. Sein Kopf, Arme und Beine müssen fixiert werden.“

Erstaunlicherweise gibt es sofort helfende Hände. Ein Mann stürzt aus dem vorderen Bereich des Wagens heran: „Ich bin Sanitäter, ich nehme den Kopf.“
Der Sanitäter ist resolut und teilt weitere Helfer für ihre Funktionen ein, während Annika beruhigend auf den Erstickenden einredet.
„Versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Ich helfe Ihnen. Gleich können Sie wieder atmen.“

Es geht erstaunlich schnell. Allen ist klar, dass keine Zeit ist für Diskussionen. Nur Augenblicke später kniet Annika über dem Erstickenden und tastet nach der richtigen Stelle. Sie blickt kurz hoch zu dem Sanitäter, der nickt und sie setzt den ersten Schnitt.

Als der Zugführer, der aus dem vorderen Teil des Zuges durch alle Wagen hastet, bei der Menschentraube ankommt und mit der vollen Autorität seines Amtes wissen will: „Was ist denn hier los?“, macht der Patient unter Beifall der Mitreisenden gerade den ersten Atemzug.

Dieser Notstopp schafft es mit der irritierenden Überschrift „Junge Frau zieht zuerst Notbremse, dann das Messer“ noch in die Morgenausgabe der Zeitung und Annika wird von ihrem Stationsarzt mit einer tiefen Verbeugung begrüßt.

 

Version 2