Von Miklos Muhi
»Notrufzentrale, Schmidt am Apparat. Sprechen Sie bitte.«
»Mein Name ist Brenner, Schaffner des D-Zuges Nummer 377 von Stuttgart nach München. Wir haben einen Toten am Bord.«
»In welchem Bahnhof stehen Sie?«
»Mitten in der Pampa nachdem jemand die Notbremse gezogen hat. Ich gebe Ihnen unsere Koordinaten durch …«
*
Kommissar Nelson arbeitete seinen Bericht zum Mordfall Umhauser durch. Als hätte er nicht genug Papierkram am Hals. Seine Weigerung, alles im angeforderten und schwerfälligen Amtsdeutsch zu formulieren, hatte nicht zum ersten Mal Konsequenzen.
»Idioten …«, murmelte er hin und wieder, während er tippte.
Das Klingeln seines Bürotelefons empfand er als Erlösung. Nachdem er auflegte, begab er sich zur Tiefgarage, wo ein Einsatzfahrzeug auf ihn wartete.
*
Sie wurde müder, doch sie hatte genug Kraft, um einige weitere Stunden im alten Brunnen auszuharren. Mit dem Rücken zum Schacht, bestehend aus Backsteinen, und mit ihren Füßen gegen die gegenüberliegende Seite drückend, trotzte sie der dunklen und nassen Untiefe.
Der Brunnen lag auf einem verlassenen Bauernhof, vorschriftsmäßig abgedeckt und abgesperrt mit einem Vorhängeschloss. Sie hatte den Schlüssel in der Tasche und da der Deckel nicht eng am Rand auflag, war es möglich, von innen das Schloss zu öffnen und zu schließen.
Weit weg von den Gleisen hörte sie nur gelegentliches Tropfen, Vogelzwitschern und das Rauschen des Windes durch den verwilderten Garten.
Sie holte aus ihrem Rucksack, den sie vorne trug, anstatt auf dem Rücken, eine kleine Lampe legte sie auf ihrem Schoß und schaltete sie ein. Dann zog sie eine Kosmetiktasche heraus und machte sich an die Arbeit.
*
Um zum Zug zu kommen, waren die Beamten gezwungen, in ein Geländefahrzeug umzusteigen. Die Verstärkung, um die Umgebung zu abzusuchen, war schon da.
Der Tote lag vor der Tür zwischen zwei Waggons, mit einer Stichwunde im Rücken.
»Hallo allerseits. Was wissen wir?«, fragte Kommissar Nelson die Anwesenden.
»Nur, dass er tot ist und dass jemand die Notbremse gezogen hatte. Wir haben schon angefangen, alle Passagiere zu befragen.«
»Wo ist der Schaffner?«
»Ich hole ihn.«
*
Sie packte alles zurück in ihren Rucksack und ließ ihn fallen. Nach zwei Sekunden hörte sie das Platschen und das darauffolgende Blubbern in der Tiefe.
Dann stieg sie im Schacht nach oben und horchte. Vorsichtig drückte sie den Deckel hoch, öffnete den alt und festgerostet aussehenden Vorhängeschloss, kletterte aus dem Brunnen und verriegelte ihn.
*
Kommissar Nelson saß in einem verdunkelten Besprechungsraum zusammen mit zahlreichen Beamten an einem runden Tisch. Auf einer der weißen Wände flimmerte ein Bild der Sicherheitskameras des Zuges. Darauf war eine Frau Mitte 20 mit kurzen dunklen Haaren und einem Rucksack auf dem Rücken zu sehen.
»Das ist unsere Verdächtige«, sagte Kommissar Nelson. »Auf dem Zug haben wir sie nicht angetroffen. Was hat die Suchaktion in der Umgebung ergeben?«
»Es gibt einige verlassene Bauernhöfe in der Gegend. Alle haben wir durchsucht, aber nichts gefunden. Auf den Straßen und Trampelpfaden sind uns an verschiedenen Stellen vier Personen begegnet. Zwei Männer und Frauen, über 60 Jahre alt aus der Gegend.«
»Und das wissen Sie weil …«
»Wir haben sie alle überprüft. Zwei hatten einen Ausweis dabei, die anderen haben wir nach Hause begleitet, wo sie sich ausgewiesen haben.«
»Herr Dr. Du Fault, was haben Sie uns aus gerichtsmedizinischer Sicht zu berichten?«
»Die Leiche hat eine Stichwunde im Rücken, die aber nicht tödlich war. Die Todesursache scheint eine Vergiftung mit einem unbekannten Nervengift zu sein. Die Analysen laufen.«
»Das wirft einige Fragen auf«, murmelte Kommissar Nelson. »Ich zeige jetzt die Videoaufnahmen der Sicherheitskameras aus dem Zug«, sagte er.
»Wie Sie hier sehen, steht die Verdächtige am Ende des Waggons. Dann kommt das Opfer, vermutlich mit der Absicht, die Zugtoilette zu benutzen. Die Frau zieht die Notbremse und ein Messer aus ihrer Tasche. Sie sticht zu und verschwindet.«
»Was wissen wir über das Opfer?«
»Werner Dorfmann, verheiratet und Vater von vier Kindern, vorbestraft wegen Betruges. Er arbeitete als Leiter bei einer Elektronikfirma im Außenhandel mit dem Schwerpunkt Nahen Osten, hauptsächlich Iran und Jemen. Er pendelt regelmäßig zwischen Stuttgart und München. Sein Arbeitgeber steht unter Beobachtung der Behörden. Man vermutet, dass die Firma mithilfe eines Geflechts undurchsichtiger Geschäfte Embargos umgeht. Wir werden Nachforschungen anstellen.«
»Iran? Jemen? Hoffentlich wird das nicht irgendeine Skandalgeschichte mit Krieg und Spionage und alles drum und dran. Das würde …«
Das Klopfen an der Tür ließ ihn verstummen.
»Herein!«
Ein uniformierter Beamter trat ein.
»Wehe, wenn es nicht wichtig ist«, sagte Kommissar Nelson.
»Die Frau aus dem Video heißt Juanita Posadas und ist vor vier Tagen aus Argentinien eingereist.«
»Danke. Ich gebe gleich den Kollegen vom Grenzschutz und der Presse die neuesten Erkenntnisse durch und der Fahndungsaufruf wird ergänzt.«
»Nein, wird er nicht.«
Die Stimme gehörte einem hoch gewachsenen Mann, im schwarzen Maßanzug und teuer aussehenden Lederschuhen. Er hatte soeben den Raum betreten.
»Wer zum Teufel sind Sie denn?«, fragte Kommissar Nelson.
»Ich bin Peter Paul Gruber, Verbindungsoffizier beim BND. Sie übergeben uns sofort alles, was sie zu diesem Fall haben.«
*
Ihre langen rötlichen Haare waren in dünne Zöpfe geflochten. Zusammengehalten wurde ihre Frisur von zahlreichen Haarspangen, die schon vor Jahrzehnten aus der Mode gekommen waren.
Sie schritt eilig zur Passkontrolle am Franz-Joseph-Strauß-Flughafen. Für den Flug nach Auckland wurden die Passagiere vor Kurzem aufgefordert, sich schleunigst zum Gate zu begeben.
»Hello«, grüßte sie und überreichte ihren Pass.
»Good Afternoon«, antwortete der Beamte, nahm das Dokument entgegen und scannte die erste Seite mit dem Bild ein. Nach kurzem Warten meldete der Computer, dass nichts gegen die Neuseeländerin Dolly White vorliege. So stempelte er den Pass ab.
Ihr Aufenthalt in Auckland dauerte nur zwei Stunden. Die meiste Zeit verbrachte sie in einem Badezimmer, gemietet für 10 Dollar, um sich vor ihrem nächsten Flug frischzumachen.
Als sie sich zur Passkontrolle für den Weiterflug begab, trug sie ihre nunmehr blonden Haare kurz und die Fetzen des neuseeländische Passes, mit dem sie eingereist war, schwammen in der Kanalisation unter der Stadt.
Ein langer Flug folgte. Sie gönnte sich endlich etwas Schlaf. Der weiße Flieger mit den blauen Streifen und dem Stern war fast schon Heimatland. Nach der Landung bemerkte niemand, dass sie hinter einer Tür mit der Aufschrift Wartung – Kein Zutritt für Unbefugte verschwand.
Nach einigen weiteren Türen und einem vollständigen Fingerabdruck-Scan nahm sie in einem bequemen Sessel platz. Ihr gegenüber stand ein Schreibtisch aus solider Eiche, hinter dem ein ergrauter Mann saß.
»Im Namen der Organisation: Willkommen zurück, Nokema. Gratuliere!«
»Danke.«
»Du hast jetzt zwei Wochen Urlaub. Danach steht deine nächste Geschäftsreise an und für uns hier etwas weniger Raketen zum Abfangen.«
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