Von Ina Rieder

Ich war es gewohnt, Dinge selbst zu regeln, ohne Hilfe. So hatte es mir meine Mutter beigebracht. Nicht jammern, Zähne zusammenbeißen und weitermachen, war unsere Devise. Doch mittlerweile fühlte ich mich mit gerade mal 18 Jahren ausgelaugt und vollkommen energielos. Irgendetwas musste sich ändern, und zwar schnell. 

Er saß mir schräg gegenüber auf einem abgewetzten Ledersessel, der meine Augen beleidigte. Das hatte das Monstrum aber damals schon, als es noch nagelneu war. Gleich hässlich wie der fette Sack, der darin fläzt, dachte ich und musste laut lachen, was ihn dazu veranlasste, seinen Kopf in meine Richtung zu drehen. Seine kleinen, dunklen Schweinsäuglein streiften kurz verachtend mein Gesicht und wanderten dann wieder auf den Bildschirm. Ich beobachtete ihn, wie er mit seinen Wurstfingern die Fernbedienung krampfhaft festhielt. Die gut 23 cm in seiner Hand wirkten ähnlich wie ein Zepter der Macht. Er bestimmte das Fernsehprogramm, wie alles andere.

Die Dokumentation mit den Namen „Wie man ein paar Quadratmeter Wald umgräbt“, entwickelte sich zu der Langweiligsten, die ich je gesehen hatte. Lieber wäre ich bei meiner Freundin gewesen, und hätte mit ihr an unserem neuesten Entwurf gearbeitet. Wir liebten Mode und hatten vor kurzem begonnen, eigene Designs zu kreieren. Doch ich achtete penibel darauf, dass ich da war, wenn meine Mutter mit meinem jüngeren Bruder nach Hause kam. So konnte ich ihr beistehen, sofern es wieder einmal eskalierte. 

Mein Stiefvater starrte auf die Uhr über dem Kamin. Es war bereits nach 17:00 h. Jede Sekunde, die verstrich, schien die Luft im Raum dichter zu machen. Er wuchtete sich aus dem Ledersessel, stand auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang ein Stück zur Seite, um die Straße hinuntersehen zu können. Ich hörte seine rasselnden Atemzüge und versuchte, meine Nervosität abzuschütteln. 

„Sie kommt sicher bald“, sagte ich betont zuversichtlich. 

Das leise Ticken der Uhr schien lauter zu werden, als die Minuten vergingen. Mein Stiefvater stand erneut auf, diesmal um ziellos durch das Wohnzimmer zu gehen. Er strich sich durch das fettige, schüttere Haar. Dann hörte ich das vertraute, erlösende Geräusch unseres Land Rover. Ich atmete erleichtert auf. Sie war nur zehn Minuten zu spät. Das tolerierte er in der Regel. Er setzte sich wieder und verfolgte weiter die eintönige Doku, die mir wie ein Sinnbild seines Lebens vorkam.

Als sie die Wohnung betraten, schaute er nicht einmal auf. Mutter hatte eine Sonnenbrille auf der Nase und mein kleiner Bruder lächelte mich scheu an und verdrückte sich sofort in sein Zimmer. Ich nahm meiner Mutter eine Tüte mit Lebensmitteln ab und folgte ihr in die Küche. Dort war es ruhig, nur das leise Summen des Kühlschranks durchbrach die Stille. 

„Was gibt es heute zu essen?“, tönte es aus dem Wohnzimmer. 

„Toast!“, erwiderte meine Mutter und zögerte einen Moment, bevor sie die getönte Brille langsam abnahm. 

Darunter kam ein großes, dunkles Hämatom zum Vorschein, das sich über ihr linkes Auge erstreckte. Ich spürte, wie die Wut in mir hochkochte. Meine rechte Hand wanderte in den Hosensack und ich umklammerte das Springmesser, welches ich seit letztem Sommer immer bei mir trug. Ich hatte mir geschworen, er würde nie wieder ungestraft Hand an mich legen. 

“Es ist nichts,” hörte ich sie murmeln. “Nur ein blöder Unfall.”

„Es reicht, ich zeig ihn an, dieses Arschloch!“, schrie ich so laut, dass es vermutlich auch die Nachbarn gehört hatten.

In jenem Moment wusste ich, dass ich gehen musste. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie ich rüber ging und seine Kehle aufschlitzte. Ich nahm ein paar tiefe Atemzüge, um mich zu beruhigen und zog die Notbremse, indem ich Mutter den Rücken kehrte und unseren Wohncontainer durch die Hintertür verließ. 

In meinem Kopf vibrierte es und eine überwältigende Unruhe stieg in mir auf. Ich wusste, dass es Folgen haben würde. Er ließ nie etwas auf sich sitzen. Ich begann zu rennen. Ich hatte es satt, konnte es nicht mehr ertragen mitanzusehen, wie er meine Mutter misshandelte, wie er seine Wut über sein verpfuschtes Leben an mir und meinem Bruder ausließ. Meine Schritte hallten auf dem Pflaster wider, während ich durch die nächtlichen Straßen eilte. Der Wind peitschte mir ins Gesicht, und die Lichter der Stadt verschwammen zu einem bunten Wirbel. Ich drehte mich immer wieder um, meine Augen huschten nervös von einer Seite zur anderen. Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er mich beobachtete. Ich spürte, wie sich eine kalte Hand der Angst um mein Herz legte.

Die Gedanken rasten. Warum blieb sie bei ihm? Er war aufgrund eines Unfalls seit Jahren arbeitsunfähig, betäubte sich mit Tabletten und Alkohol und tyrannisierte uns. Ich hatte sie schon zig Mal angefleht, ihn zu verlassen. Er war wie eine tickende Zeitbombe. Trotz allem war sie ihm hörig wie ein Schatten, der seinem Träger folgt. 

Ich rannte weiter, meine Atmung wurde schwerer. Ich dachte an meine beste Freundin. Sie hatte mir schon so oft ihre Hilfe angeboten.

„Du kannst bei mir wohnen. Es gibt Leute, die Erfahrung haben und dich beraten …“ 

Sie war immer für mich da, doch bisher hatte ich jede Hilfe abgelehnt. Meine Probleme wollte ich selbst lösen. Ich wurde langsamer, blieb stehen und stützte mich keuchend auf den Knien ab. Unbewusst war ich bis zu Blairs Haus gelaufen, erkannte ich und mein Herz klopfte wild, nicht nur von der Anstrengung, sondern auch von der Erkenntnis, dass ich hier sicher war. Die letzten Schritte zum Eingang ging ich zögerlich und klingelte.

Nach einem Moment öffnete sie die Tür. Ihre Augen weiteten sich kurz vor Überraschung, doch dann zog sie mich in eine feste Umarmung. 

„Alles wird gut,” flüsterte sie und die Anspannung fiel langsam von mir ab. 

Sie zog mich hinter sich her. Wir gingen am Wohnzimmer vorbei, ich begrüßte kurz ihre Eltern und dann verschwanden wir in ihrem Zimmer. Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, überredete sie mich, auszugehen. Ablenkung hilft, meinte sie. Ich versuchte, die jüngste Vergangenheit zu verdrängen. Während wir uns umzogen und schminkten, verflogen meine trüben Gedanken und wichen einer freudigen Erregung. 

Hand in Hand machten wir uns glucksend eine Stunde später auf den Weg zu einer der angesagtesten Straßen der Stadt. Plötzlich glaubte ich, ein Geräusch hinter uns zu hören. Ich drehte mich abrupt um, doch da war niemand. Nur der Schatten der Bäume, die im schwachen Licht der Straßenlaternen tanzten. Ich zwang mich, weiterzugehen, das Gefühl der Verfolgung ließ mich aber nicht los.

Die Musik aus den Clubs und Bars vermischten sich zu einem lebhaften Klangteppich, der uns magisch anzog. Wir betraten ein Lokal, dessen Lichter in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Es war brechend voll. Ich spürte das Adrenalin in meinen Adern, als wir uns in die Menge stürzten. Die Bassrhythmen vibrierten durch den Boden. Wir kämpften uns zur Bar durch, bestellten Drinks. Ich beobachte die tanzenden Menschen um uns herum und mir fiel auf, dass zwar jeder in seiner eigenen Welt zu sein schien, aber dennoch alle durch die Musik und die Freiheit der Nacht vereint waren.

Mit den Getränken in der Hand wagten wir uns auf die Tanzfläche. Ich schloss die Augen und ließ mich von der Musik tragen, meine Bewegungen wurden eins mit dem Rhythmus. Für einen Moment vergaß ich alles – die Sorgen, die Ängste, die Unsicherheiten. Inmitten der tanzenden Menge stieg ein lebendiges und freies Gefühl in mir auf.

Wie aus dem Nichts fasste eine harte Hand auf meine Schulter. Ich öffnete die Augen und sah in das wütende Gesicht meines Stiefvaters. Sein Blick war kalt und durchdringend. 

“Du kommst sofort mit nach Hause!” 

Die Menschen um uns herum bemerkten die Szene und wichen zurück, bildeten einen Kreis um uns und Panik stieg in mir auf. Ohne darüber nachzudenken, fuhr meine Hand in die Hosentasche, griff nach dem Messer und eine Sekunde später hielt ich es drohend an seine Halsschlagader.

Er war wie gelähmt und starrte mich ungläubig an. Ich wollte nicht zurück, nicht zu dem Ort, der sich wie ein Gefängnis anfühlte. Blair, die in der Nähe tanzte, bemerkte die Aufregung und eilte zu mir. 

“Lass sie in Ruhe! Sie ist volljährig und du hast ihr gar nichts zu sagen!” 

Ihre Stimme klang fest und entschlossen. Sie stellte sich neben mich und ihre Augen funkelten vor Wut. „Mach dich nicht unglücklich. Nimm das Messer weg. Er ist es nicht wert …“, redete sie beruhigend auf mich ein.

 “Ich werde nirgendwo hingehen und wenn du jemals wieder Hand an meine Mutter oder meinen Bruder anlegst, gehe ich zur Polizei und zeige dich an,” zischte ich und steckte das Messer schnell wieder ein, bevor ich die Aufmerksamkeit der Security auf mich zog.  

Die Menge um uns herum begann zu murmeln, einige hatten ihre Handys gezückt, um die Szene zu filmen. Mein Stiefvater merkte, dass er keine Unterstützung hatte und dass jede weitere Eskalation nur gegen ihn arbeiten würde. Mit einem letzten, wütenden Blick drehte er sich um und verschwand in der Menge. Tränen liefen über mein Gesicht. Blair hielt mich fest und flüsterte beruhigende Worte in mein Ohr. “Du bist nicht allein. Wir schaffen das zusammen.” 

Und da wusste ich, dass ich Hilfe brauchte und auch annehmen musste. Seit jenem Abend bin ich nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. Manchmal beobachte ich sie heimlich aus der Ferne. Es scheint gleich weiterzugehen, wie vorher, nur, dass ich nicht mehr bei ihnen wohne. 

V2 (9.337)