Von Maria Monte
Morgen wird unser Sohn Martin vierzehn Jahre alt. Er hat natürlich einige Freunde eingeladen und will mit ihnen ins Kino gehen. Am Wochenende planen wir eine größere Feier im Kreis unserer Familie. Dazu zählen auch seine Pateneltern Aliya und Malik und deren Familie. Die drei Kinder von ihnen, zwei Mädchen und ein Junge, sind für unseren Sohn wie Geschwister. Sie verbringen viel Zeit miteinander, auch die Ferien. Daher ist es für uns selbstverständlich, die muslimische Religion und die Traditionen der anderen Kultur zu respektieren.
Am Abend vor dem großen Tag sitze ich mit meinem Mann noch gemeinsam bei einem Glas Secc au Chocolat und wir bereiten den Geburtstagstisch vor. Ein Highlight stellt diesmal unser Fotoalbum dar. Wir haben die Kindheit unseres Sohnes nach Höhepunkten dokumentiert und kleine Anekdoten dazu verfasst. .
Auf der ersten Seite klebt dieser Zeitungsartikel aus der Bildzeitung:
Junge Frau zieht erst Notbremse, dann das Messer
Darüber kommen wir ins Erzählen. „Weißt du noch?“ Nun wird der Abend doch etwas länger und wir schenken uns noch ein Gläschen nach.
„Ja, es war ein wirklich denkwürdiger Tag, als unser Martin zur Welt kam“, nehme ich den Faden auf. „Du fuhrst früh zur Arbeit, ich sollte zum Mittagessen zu Deiner Mutter in den Prenzlauer Berg kommen. Von dort wolltest du mich dann am Abend abholen.“
„Genau, es war ein wunderschöner sonniger Frühlingstag, ich erinnere mich, als wenn es gestern gewesen wäre“, sagt mein Mann Gerhard. „Und dann kam ja alles ganz anders.“
„Als du aus dem Haus warst, machte ich in aller Ruhe den Haushalt und die Betten und dann watschelte ich hochschwanger zur S-Bahn. Mir ging es gut, ich war guter Dinge, das Ziehen im Rücken nahm ich als gegeben hin. So einen Bauch vor sich hinzutragen, das geht schon auf die Bandscheiben, sagte ich mir. Beim Einsteigen in die S-Bahn lief mir plötzlich Wasser die Oberschenkel entlang. Ich erschrak mächtig, die Fruchtblase schien geplatzt zu sein. Dann zog es schrecklich im Unterbauch, ich taumelte und kam gerade noch zu einer freien Bank. Mir gegenüber saß eine gleichaltrige Frau mit Kopftuch, die mich unverwandt, aber lächelnd ansah.“
„Legen Sie die Beine hoch, atmen Sie ruhig und tief“, gab sie mir Anweisungen. „Ich bekam Panik, sie nahm meine Hand und tätschelte sie zart. Dann verschwamm meine Umgebung vor mir, ich hatte nur mit mir und den Wehen zu tun, die immer stärker und die Abstände immer kürzer wurden. Die Bahn zuckelte durch die Stadt, endlos erschien mir die Strecke. Schaffe ich es noch bis in die nächste Klinik? Dann presste ich irgendwann heraus: Ich kann nicht mehr, bitte helfen Sie mir!“
„Aliya hat mir später erzählt, dass sie in ihrer Verzweiflung die Notbremse gezogen hat“, ergänzt nun mein Mann.
„Ja, die Gute rechnete schon mit einer beginnenden Geburt und bat deswegen die wenigen Reisenden, ins nächste Abteil zu wechseln, gestand sie mir später.
Sie redete beruhigend auf mich ein: „Ich habe bereits drei Kinder geboren, alle zu Hause. Das ist bei uns Tradition. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich ziehe Ihnen jetzt den Schlüpfer aus und raffe das Kleid etwas hoch. Falls das Kind es eilig hat, kann ich besser hantieren“, erklärte sie und zog sich selbst ihren Kaftanmantel aus.
Dann ging alles recht schnell. Der Schaffner kam in dem Moment, als die Geburt losging. Und meine Helferin hatte zu tun, mir beizustehen und das Köpfchen zu packen. Ich schrie meinen Geburtsschmerz heraus, mein Kind begrüßte die Welt mit einem Gequäke.“
„Aliya erzählte mir, dass die Mitreisenden neugierig ihre Köpfe reckten, um das Ereignis mit zu verfolgen. Derweil zog sie aus ihrem Abaya ein Taschenmesserchen und schnitt damit die Nabelschnur durch. Sie rief dann lachend und erleichtert in die Runde: es ist ein Junge! Schnell wickelte sie unseren Sohn in das Tuch ihres Mantels und strahlte vor Freude und Stolz.“
So in Erinnerungen lächelt auch mein Mann glücklich.
„Ja, so muss es gewesen sein. Ich hatte keinen Blick für meine Umgebung, konnte vor Erschöpfung auch kaum etwas sagen.“
„Die Fahrgäste freuten sich ebenfalls über den guten Ausgang des Geschehens und applaudierten der Geburtshelferin, erzählte mit Aliya, ergänzt Gerhard.“
„Das Nächste, was ich mitbekam, war der Transport mit dem Notarztrettungswagen“, warf ich ein. „In der Klinik wurden wir beide sofort untersucht und nachbehandelt. Erst jetzt kam mir das Ausmaß dieses außergewöhnlichen Ereignisses zu Bewusstsein. Am Abend kamst du ja ins Krankenhaus und konntest Martin das erste Mal anschauen.“
„Oh ja, das werde ich wohl nie vergessen. So ein kleines zerknautschtes Wesen, das ein richtiger Mensch werden wollte. Und nun wird er vierzehn, unser Großer, wie doch die Zeit vergeht!“
„Erst Wochen später, als wir unser Familienglück fassen und auch besser die Zeitabläufe strukturieren konnten, fiel mir ein, dass ich der Unbekannten nicht mal gedankt hatte. Ich wusste nichts von ihr. Da kam eines Tages deine Mutter mit einem Zeitungsartikel aus der Bildzeitung zu uns und meinte, vielleicht könne uns dieser weiterhelfen.“
„Junge Frau zieht Notbremse, dann das Messer“
„Halsschreierisch in großen Buchstaben zog die Überschrift auch unsere Blicke auf sich. Der Schreiber des Textes verstand nicht die Bohne vom Geschehen, fantasierte seine Version der Geburt nur beiläufig, ließ aber den Neugierigen genug Raum für muslimische Anfeindungen. Erinnerst du dich, da sind wir aber ganz schön aus der Haut gefahren“, ergänzt mein Mann.
„Wollen wir die Bildzeitung auffordern, diesen Artikel klarzustellen? Der Redakteur muss zur Verantwortung gezogen werden“, ereiferten wir uns beide. „Erinnerst du dich, wir waren voller Sorge, dass die Fremde Unannehmlichkeiten durch ihre Hilfe bekommen haben könnte. Es war ein Mittwoch, da hatte ich immer Training. Diesmal ließ ich es sausen und wir machten uns auf den Weg zur Bildzeitung. Sie sollten den Reporter ausfindig machen, wir bestanden auf ein unter vier Augen Gespräch“.
„Ja, und dazu kam es dann auch einige Zeit später. Der Mann gab zu, diesen Artikel nur mit Aussagen eines Freundes verfasst zu haben und er hatte sogar ein schlechtes Gewissen. Er half uns dann ja auch, die hilfsbereite Muslimin zu finden. Und das war gut so.“
„Ach, wie bin ich froh, dass wir so stur und unnachgiebig geblieben sind! Das gemeinsame Erlebnis hat Aliya und mich zusammengeschweißt. Es war der Grundstein zu dieser tollen Freundschaft unserer Familien. Und unser Martin hat eine patente Patentante in Aliya gefunden, die ihn vom ersten Schrei an schon kennt. Besser geht es gar nicht.“
„Komm, gieß uns noch den letzten Tropfen ein und lass uns auf unser Glück anstoßen!“
Maria Monte V3