Von Matthias Diener
Alles begann an einem sonnigen Mittwochmorgen in Bern. Alice hatte ihren freien Tag und entschied sich ganz spontan für einen Ausflug nach Zermatt. Ihre Arbeitskolleginnen hatten ihr von dem atemberaubenden Ausblick vom Gornergrat über das ganze Mattertal und auf das weltberühmte Matterhorn erzählt.
Alice war vor zwei Monaten von ihrem Heimatort in Deutschland nach Bern gezogen, um ihre neue Stelle in einem bekannten Restaurant anzutreten. Die Berge hatte sie bis jetzt nur von weitem gesehen. Doch irgendwie wurde sie von ihnen magisch angezogen. Seit ihrem ersten Anblick wünschte sich Alice, dort oben auf einem der Gipfel zu stehen und auf die Welt hinauszuschauen. Unvorstellbar. Schon der Blick von einem Hochhaus hatte sie schon immer fasziniert. Von oben herab auf all die winzig kleinen Menschen zu blicken. Wie musste das dann erst auf einem tausende Meter hohen Berg sein?
Also kaufte sie sich übers Internet ein Ticket von Bern auf den Gornergrat und zurück. Nicht gerade billig. Aber so was macht man ja nicht jeden Tag.
In einen kleinen Rucksack packte sie sich ein typisch schweizerisches Picknick für den Mittag. Etwas Brot, Käse, ein Cervelat und einen Apfel. Als stolze Besitzerin eines Schweizer Taschenmessers, welches sie an ihrem ersten Arbeitstag vom Chef geschenkt bekommen hatte, musste sie schliesslich etwas zum Aufschneiden dabeihaben. So ausgerüstet konnte das Erklimmen ihres ersten Berges beginnen. Zwar nicht zu Fuss mit Bergschuhen und Wanderstock, denn dafür gibt es ja Bergbahnen.
Pünktlich um 7 Minuten nach 8 Uhr fuhr ihr Zug nach Visp ab. Sie hatte sich einen Fensterplatz ergattert, damit sie schon unterwegs die Schönheit ihrer neuen Wahlheimat bestaunen konnte. Leise ratternd fuhr der Zug vorbei an spiegelglatten Seen, rauschenden Bächen und steilen, bewaldeten Berghängen. Eine Welt wie in einem Traum. Oder auf Social Media.
Ein paar Stunden später stieg sie nach einem kurzen Spaziergang durch das lebhafte Dorf Zermatt in die Zahnradbahn. Doch mit einem gemütlichen Fensterplatz würde hier wohl nichts werden, dachte sie. Der ganze Zug war voll mit Touristen aus der ganzen Welt. Vorhin im Dorf war ihr das noch nicht aufgefallen. Dort waren viele Wanderer und Spaziergänger unterwegs, die sich zwischen den kleinen surrenden Elektromobilen hindurchschlängelten und hie und da einen Blick in ein Schaufenster warfen. Hier in der Bergbahn fühlte sich Alice aber beinahe wie in Asien. Ganze Touristengruppen mit den neuesten Smartphones und verschiedensten Gadgets, die ein Foto von dem berühmten Berg machen möchten. Worauf hatte sie sich hier nur eingelassen. Sie stellte sich neben die Tür und klammerte sich an einer Haltestange fest. Immerhin konnte sie so durch die schmale Scheibe der Tür etwas hinausschauen.
Ganz langsam schob sich der Zug den Berg hinauf. Schon bald bot sich ihr eine gute Sicht über das Bergdorf. Ob man das überhaupt noch ein Dorf nennen kann? Riesig! Ein Holzchalet reiht sich ans andere, jedes mit üppigen Blumen vor den Fenstern und an den Balkongeländern. Und plötzlich machte ein Berghang die Sicht frei auf das Horn, um welches sich tragische Erzählungen von schiefgegangenen Besteigungsversuchen ranken. Ein Raunen ging durch den Zug. Alle wollten sofort ein Foto vom Matterhorn machen und drückten sich auf die eine Seite. Hoffentlich kippt der nicht um, dachte sie.
Alice hatte es nicht eilig. Sie würde auf dem Gipfel noch genügend Zeit für ein paar Erinnerungsfotos haben. Lieber genoss sie die ständig ändernde Aussicht während der Fahrt, als sich lange mit den unzähligen Funktionen der Kamera herumzuschlagen.
Sie hielten an jeder Station an, doch nur wenige stiegen ein oder aus. Die meisten wollten vermutlich gleich ganz nach oben. Das gleichmässige Ruckeln des Wagens und das stetige unverständliche Brabbeln der anderen Fahrgäste machten Alice etwas müde. Sie lehnte sich gegen die Tür, so dass sie mit der Nase beinahe die Fensterscheibe berührte. Gedankenversunken liess sie die Landschaft an sich vorbeiziehen. Sie fuhren aus dem Wald hinaus auf eine saftig grüne Alpweide, in deren Mitte nicht die erwarteten Kühe weideten, sondern eine zugedeckte Schneekanone auf den Winter wartete. Nach einer langgezogenen Kurve fuhr der Zug in eine Galerie hinein. Also ein Tunnel, der auf einer Seite offen ist. Nach jedem Stützpfosten konnte man wieder das Matterhorn sehen.
Alice fragte sich gerade, wie es wohl ist, nach stundenlangem Klettern auf diesem spitzen Gipfel zu stehen, als sie plötzlich von der Scheibe zurückwich und laut aufschrie. Was war das gerade eben? Sie hatte für einen kurzen Augenblick zwischen zwei Stützposten der Galerie einen Mann an einem Seil baumeln sehen. Da erhängt sich jemand! Oder war das ein abgestürzter Bergsteiger? Geistesgegenwärtig griff sie nach dem roten Griff der Notbremse neben der Tür und zog kräftig daran. Ruckartig blieb der Zug stehen und man hörte pfeifend den Druck der Luftleitungen entweichen. Die erschrockenen Reaktionen der Touristen nahm sie gar nicht mehr war, als sie ihr rotes Messer aus der Hosentasche nahm und die freigegebene Tür aufdrückte. Ich muss diesem armen Kerl helfen, war ihr einziger Gedanke. Sie sprang aus dem Zug, stolperte die paar Meter zurück über den groben Schotter des Trasses und klappte gleichzeitig mit zittrigen Fingern das Messer auf. Nach der nächsten Stütze blieb sie erstaunt stehen. Da stand ein Mann in Arbeitskleidern vor ihr auf einem Felsbrocken und rückte sich die Sicherungsgurte zurecht. Ebenfalls erstaunt schaute er Alice an und fragte mit breitem Walliser-Dialekt: «Hallo, ich habe mich gerade gefragt, weshalb der Zug hält. Warst du das etwa? Und was willst du mit dem Messer?»
Stirnrunzelnd schaute er auf das Taschenmesser in ihrer Hand.
«Da ist doch einer an einem Seil gebaumelt», erwiderte Alice unsicher. Verwirrt schaute sie mit einem Seitenschritt hinter die nächste Säule. «Wo ist er denn jetzt?»
«Das war ich», lachte der junge Mann, «Ich habe mich gerade von da oben abgeseilt.» Er deutete an die Aussenkante des Galeriedaches. «Wir sind dabei, die Steinschlagnetze zu kontrollieren.»
Mit einem Mal fiel die ganze Anspannung von Alice ab. Sie begann in der kalten Luft zu frieren und realisierte, was sie da gerade angerichtet hatte. Hunderte von Menschen mussten wegen ihr im stehengebliebenen Zug warten und wussten nicht einmal weshalb. Dabei war sie sich so sicher, dass hier jemand ihre Hilfe benötigt. Aus der dunklen Galerie heraus konnte sie vor dem sonnenbeschienenen Hintergrund zwar nur die Umrisse erkennen. Doch es hätte wirklich jemand in Not sein können.
Beschämt kauerte sie sich neben dem Zug nieder und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Wie peinlich. Wie konnte ihr das nur passieren. Der Arbeiter und der herangeeilte Lokführer redeten ihr gut zu und versicherten ihr, dass sie richtig gehandelt hatte und begleiteten sie durch den schmalen Durchgang zwischen Zug und Säulen an die Spitze des Zuges.
Den Rest der Fahrt durfte Alice im Führerstand mitfahren. Oben auf dem Gornergrat angekommen, konnte sie dann doch noch die ganze Pracht der Alpenwelt geniessen, ein paar schöne Fotos machen und auf einem Felsen sitzend mit ihrem Taschenmesser das ‘zMittag’ zubereiten. Doch die Erinnerung an den Schreckensmoment im Zug wird ihr bestimmt das ganze Leben lang bleiben. Innerlich über sich selbst lachend, dachte sie daran, was wohl am nächsten Tag auf der Titelseite des Tagesanzeigers stehen würde: «Junge Frau zieht erst Notbremse, dann das Messer.»
Version 2, 17.11.2024