Von Christian Günther

Auf den nächtlichen Straßen herrschte wenig Verkehr. Der silberne 3er-BMW stand an der Haltestelle vor der Gustav-Heinemann-Brücke, Judith und ich daneben. Unseren Standort vor einigen Minuten durchgegeben, war das kleine Päusken um fünf Minuten vor zwölf abgesegnet. Die leere Thermoskanne im Gepäckabteil verstaut, hatte Judith ihren Becher ein letztes Mal gefüllt.

»Noch darf ich et, ne, Nick?«

»Noch, jau! Dann is aber Schicht im Schacht mit Käffken, Judith. Sonst …«

»Ja, sonst is Küssen verboten.« Sie nippte am Kaffee. »Noch ’n Fitzelken zu heiß.«

»Judith/Nick, für Lena?«, hörten wir in den Knöpfen im Ohr über Funk. Ich griff zum Gerät, das an meiner Schutzweste befestigt war, aber sie fuhr ohne Bestätigung fort: »Pkw-Fahndung! Schwarzer Pick-up, Ruhrtalstraße FR Werden. Maskiert, bewaffnet mit Messer! Flucht nach Tötungsdelikt in S6 vor BHF Kettwig! Nehm Verfolgung auf, iss außer Sicht!«

»Shit«, fluchte Judith. Wohin mit dem Kaffee im offenen Behälter? Sie kippte ihn in einen Strauch neben dem Haltepunkt. Die Rollenverteilung war festgelegt: Ich fuhr, sie bediente den Funk. Während ich zu meiner Tür spurtete, bestätigte sie den Einsatz beim Hineinsetzen: »Verstanden! Pick-up, schwatt. Mit Messer!«

»Tötungsdelikt«, wiederholte ich und startete den Motor per Knopfdruck neben dem Lenkrad.

Es kam eine Antwort: »Jep, Nick!« Lena musste über gute Ohren verfügen, wenn sie meine Bemerkung über Judiths Funk gehört hatte.

Meine Partnerin legte den Gurt an, während ich mit Vollgas auf die Brücke fuhr. Vier Fahrspuren, ganz nach links. Erst jetzt konnte ich das mobile Blaulicht greifen und hinausstellen. Judith schaltete mit einem Knopfdruck parallel die weiteren LED an, die auf dem Armaturenbrett und neben den Scheinwerfen aufblinkten, danach die Sirene.

Ich steuerte auf die Kreuzung vor dem Bahnhof zu. Ein Auto aus Bredeney realisierte uns verspätet, die Vollbremsung endete auf unserer Abbiegespur. Mit rumpelndem ABS kam ich vor ihm zum Stehen.

»Weg, mach Platz!«

Der Wagen ruckelte, abgesoffen! Ein junger Fahrer, panisch! Zu uns sehend, schien er den Schlüssel im Schloss zu suchen.

»Guck doch einfach dorthin!«

»Boah, ich steig gleich aus und schieb ihn weg, ey!« Judith griff schon zum Gurt, doch sein zweiter Versuch klappte. Der Motor startete, mit quietschenden Reifen fuhr der ältere Golf los. Endlich war der Weg frei! Der BMW nahm wieder Geschwindigkeit auf, rauschte zwischen Häuserzeilen hindurch, die alsbald Geschäften wichen.

»So langsam müssten wir en sehen«, schätzte ich.

»Falls er auffe Straß geblieben is«, wandte Judith ein und griff zum Funkgerät. »Lena, für Judith?«

»Lena hört!«

»Wo bisse?«

»Höhe Ruthertal, prüf Abzweig. Und Ihr?«

»Dreihundert vor Schuirweg, bisher nixxe!«

»Judith, Lena?«, schaltete sich Michael, der vor Ort geblieben war, ein. »Täterin, laut Besitzer! Bei ihm geredet. Hat auf ihn eingestochen und Ford geraubt. Nur am Arm verletzt, Massel gehabt!«

Da tauchten in der Ferne Lichter auf!

»Großer Wagen, Judith!«, rief ich.

»Tät passen!«, stimmte Judith zu. »Lena? Verdächtiges Fahrzeug Höhe Schuirweg.«

Die Lichter verschwanden spontan nach rechts, die genannte Straße hoch! Ich gab mehr Gas, während meine Partnerin die Wagenkamera nahe dem Rückspiegel einschaltete und Lena die Info über den Kurswechsel weitergab. Vor dem Abzweig bremste ich hart und bog in die Verbindung zur A52. Die ältere F30-Generation hatte noch Gänge statt Automatik. Ich ließ den dritten drin und der BMW nahm nur verhalten Gas an. In der direkt folgenden Linkskurve waren beidseits Pkw abgestellt.

»Samma, hasse ’en Eco-Modus drinne?«, stichelte Judith.

Ich schaltete in den zweiten zurück. »Parkende, eng?«

»Du, wir ham Vorfahrt! Und: Kommt keiner, seh et.«

Ich konnte die Engstelle nun ebenfalls überblicken und durchfuhr sie. Auf der anschließenden Geraden sahen wir die Rücklichter des Ford. Er hatte ähnlich viele Pferde unter der Haube wie wir, aber ein deutlich höheres Kampfgewicht, das uns an der Steigung das Aufholen erleichterte. In den Kurven kamen wir immer näher!

»Ford Ranger«, teilte Autokennerin Judith über Funk mit. »Wat is inne S6 passiert?«

»Eine Tote«, antwortete Corinna. »Erstochen, nach Notbremsung. Kurz vor BHF.«

»Notbremsung? Weshalb?«

»Mutmaßlich durche Täterin ausgelöst. Danach hat se auf et Opfer eingestochen, de Tür geöffnet, und raus! Dort hat se ’en Pick-up auffe Straß gestoppt, der zufällig vorbeikam.«

Die Höhe erreicht, war der Ford mit geöffneter Ladefläche nur noch ein paar Meter vor uns. Auf beiden Seiten oberhalb der Fahrbahn Felder, aufgeteilt durch eine lange Gerade. Gegenverkehr Fehlanzeige! Die Fahrerin fuhr auf der schmalen Straße mittig.

»Dat klappet!« Judith löste ihren Gurt und drückte den Schiebedachknopf. »Schalte auf Dauerfunk anne Weste. Och, Mikro is schon an«, stellte sie überrascht fest. »Noch näher, Nick!«

»Wat hasse vor, Judith?«, fragte ich ahnend.

»Umsteigen, wie bei ’em Bus damals!«

»… und wieder ohne Fahrschein?«

»Brauch ich als Bulle nicht.« Sie richtete sich auf und legte die Ellenbogen auf das Autodach, stieß sich hoch. »Näher noch!« Die Beine verschwanden aus meinem Blickfeld und tauchten auf der Windschutzscheibe wieder auf.

»Nähere mich Schuirweg«, teilte Lena über Funk mit, »und komm nach. Judith, dit iss nich, wat ick vermute, wat Du …?«

»Sie weiß, wat se tut«, unterbrach ich, während Judith auf der Haube in die Hocke ging und den Kopf nach vorn wandte, sich nur mit einer Hand an der Schiebedachöffnung festhaltend. Sie zögerte noch! Fehlender Mut war das nicht. Wir näherten uns einer leichten Linkskurve, das Feld nun fast auf derselben Ebene.

Bemerkte die Fahrerin des Ford Judiths Plan? Sie begann mit Schlangenlinien und nutzte die komplette Fahrbahnbreite aus. Meine Partnerin wartete weiter ab, fixierte die Ladefläche. In diesem Moment kam der große Wagen links von der Straße ab. Die Fahrerseite hob ab und er schleuderte ins Feld.

»Halt!«, schrie ich laut.

Judith reagierte sofort und drehte sich, wieder beide Hände an der Schiebedachöffnung. »Brems!«, erlaubte sie ebenfalls schreiend.

Ich verzögerte hart, während sich der Ford mehrfach überschlug. Auf der Seite blieb er liegen, wie seine Lichter verrieten. Gut dreißig Meter von der Fahrbahn entfernt. Mit gezückter Waffe sprang Judith von der Haube und entsicherte sie.

»Korrigiere Licht!« Ich setzte zurück und richtete den BMW so aus, dass Ranger und Umfeld erfasst wurden, schaltete zusätzlich Fernlicht an. Flüchtete jemand von dem Wrack? Judith näherte sich nach zwischenzeitigem Spurt vorsichtig der Fahrerkabine. Aus gebührender Entfernung richtete sie ihre Pistole hinein. Innerhalb von sieben Metern war es bei einem Messerangriff gefährlich. Als sie sich bückte, zuckte sie mit den Achseln.

Im Fahrgastraum war niemand! Oben drauf? Nein!

»Leer«, teilte sie über Funk mit und wollte vor der Motorhaube hersehen. »Wo … aua!« Sie stolperte rückwärts. »Au!« Unsanft landete sie auf dem Acker, die Waffe fiel zur Seite. Die Frau kam aus ihrem Versteck hinter dem Wagen. Wir wussten nur von dem Messer. Hatte sie noch mehr dabei? Warum hatte Judith »Aua!« gerufen?

Ich zog die Pistole, als die maskierte Person auf Judith zustürmte, und entsicherte sie. »Polizei, stehen …«

Es war keine Zeit mehr, der Schuss fiel zur Warnung. Die Verdächtige stolperte Richtung Partnerin, ein zweiter Versuch nicht mehr möglich. Ich war noch zehn Meter entfernt. Was für ein Acker, voller tiefer Furchen und mit Steinen übersäht!

Steine?

Judith wich dem ungezielten Schlag der Stolpernden aus, die auf ihr landete. Einige Haare ragten unter der Sturmhaube hervor, energisch griff die Partnerin danach, riss sie ihr regelrecht aus. Mit einem Schmerzensschrei rollte die Kontrahentin neben ihr auf den Rücken, in der Position zunächst verharrend. Blitzartig sprang Judith auf, die Gegnerin folgte mit Verzögerung.

»Schicht im Schacht!« Judith trat ihr vor den Oberkörper. »So, und jetzt ab auf ’en Bauch!« Sie packte sie nachhelfend an Schulter und Taille, zückte ihre Handschellen. »Hände auf ’en Rücken! Flüchtige gestellt«, sprach sie in den Funk, als ich sie erreichte. Blut rann von ihrer Stirn aus zwischen den Augen hindurch zum Mund.

»Steinschlag?«, vermutete ich.

Sie nickte und zog der Frau die Sturmhaube vom Kopf.

Ich stupste auf Judiths Nase, als sie sich wieder mir zuwandte. »Aber die is heil geblieben.«

»Ein Bruch hat mir gereicht«, schmunzelte die uneitle Frau, die bis auf den Ehering keinen Schmuck trug. »Sonst mag mich mei’n Immchen bald nich mehr, nich?«

»Dat würd ich so nich sagen.«

Bevor Judith zu einer Antwort kam, rollte Lenas S-Max Streifenwagen hinter unserem BMW aus und Corinna meldete sich über Funk: »Opfer als Regine Zoller identifiziert, siebenundvierzig.«

»Regine Zoller«, wiederholte meine Partnerin und sah zur deutlich jüngeren Verhafteten, die ihr Gesicht in unsere Richtung wandte: »In welchem Verhältnis stehen Se zu ihr?«

Die Antwort bestand aus einem Spucken vor Judiths Füße.

»Dat werden die Ermittlungen ergeben«, meinte ich.

»Hat ’ne Visitenkarte bei«, fuhr Corinna fort. »Is Abteilungsleiterin von ’ner Bank. Hab ich zufällig inne Zeitung gelesen: Die Bank hatte diesen Abend ’ne Jubiläumsfeier.«

Zwar war sie nach Kampf und Unfall in Mitleidenschaft gezogen, die hochwertige Kleidung, dennoch … »Sie arbeiten nich zufällig inne Bank?«, fragte ich die geschätzte Mittzwanzigerin, die beharrlich schwieg. »Sie sind gut, womöglich sehr gut, nö? Gar die Beste, meinen Se? Ja, dat is ’n Unterschied, Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung!« Ich näherte mich ihr provozierend. »Jung, dynamisch, ideenreich, aber noch nich gut genug? Hab ich recht? Da kommt so ’ne ältere …«

»… und spannt mir den Sohn vom Chef aus!« Sie konnte sprechen, die Verdächtige! »Die schrumpelige Kuh!«

Lena näherte sich. »Also, Nick, Du bist echt…«

»Unwichtig!«, fiel ihr Judith ins Wort. »Samma, Lena, hasse Kaffee dabei? Hasse doch sonst immer nachts, nich? Wärst meine letzte Rettung!«

Die Uniformierte grinste. »Darfste dit nach zwölf noch?«

»Woher …?«

Lena tippte auf den Funk. »Interessante Pausengespräche!«

 

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