Von Thomas Gärtner
Das Scheinwerferlicht des Zuges durchdrang die mondlose Nacht, die Waggons ratterten mit gleichmäßigen Schlägen über die Gleise. Es war nach Mitternacht, die meisten Passagiere schliefen oder dösten vor sich hin.
Nelly saß angespannt auf der Kante des Sitzes, ihre Finger trommelten nervös auf dem Handy. Das Display zeigte Nachrichten an, aber sie fand nicht die Ruhe, sie zu öffnen. Es gab kein Entrinnen, das war ihr jetzt klar. Sie hatte gehofft, der Zug könnte sie weit genug forttragen aus der Gefahrenzone, doch die Wahrheit sah anders aus. Vorhin war er zugestiegen. Kein Zweifel. Sie hatte ihn sofort erkannt – seine erschreckend vertraute Gestalt.
Das hatte für einen Moment dafür gesorgt, dass ihr die Luft wegblieb. Das Gefühl, unmittelbar in tödlicher Gefahr zu schweben, das sie seit Jahren kannte, war zurück.
Sicherheit gab es nirgendwo. Die Polizei hatte Nelly zu verstehen gegeben, dass sie erst dann etwas für sie tun könnte, wenn der Täter erfolgreich zugeschlagen hätte. Ohne Leiche wäre da wenig bis gar nichts zu machen. Aus polizeilicher Sicht sei sie nur eine weitere Nummer in einem Aktenstapel. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie solle sich unter Angabe ihres Aktenzeichens zurückmelden, sobald er sie ermordet hätte.
Zum wiederholten Male schob Nelly die Schiebetür auf und sah den langen Gang hinunter. Hinten, in der Tiefe des Raumes, erkannte sie jetzt seine Gestalt, die sich auf ihr Abteil zubewegte. Der Mann war unauffällig gekleidet, trug ein einfaches Hemd, dunkle Jeans und weiße Turnschuhe. Das war er, kein Zweifel! Er hatte sie also wieder einmal aufgespürt…
Instinktiv sprang Nelly auf und lief den Gang entlang, von Abteil zu Abteil. Vielleicht konnte sie sich irgendwo verstecken, vielleicht die Aufmerksamkeit eines anderen Passagiers auf sich ziehen.
Vielleicht, vielleicht.
Doch niemand sah zu ihr auf, als sie vorbei hastete, und sie spürte, wie die Distanz zwischen ihr und ihrem Verfolger geringer wurde.
Einer plötzlichen Eingebung folgend zog sie die Notbremse. Ein schrilles Kreischen, und der Zug kam zum Stillstand.
Die wenigen Passagiere schreckten aus ihrem Schlaf hoch. Der Mann, der ihr gefolgt war, stolperte und ging zu Boden.
Das war der Moment, den Nelly gebraucht hatte.
Sie zog ein scharfes Messer aus der Tasche. Ihre Hände zitterten zwar, doch ihre Augen blieben fest auf den Angreifer gerichtet. „Du wirst mich nicht mehr jagen“, flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm. Die Angst wich, und nur noch Entschlossenheit blieb. Das war neu. Geradezu befreiend.
Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich keiner kriegen.
Dieser Satz kam ihr wieder in den Sinn. Das war nicht einfach nur eine Drohung, sondern das Manifest einer Besessenheit, die ihn zu dem unerbittlichen Verfolger gemacht hatte, der er inzwischen war.
Der Mann erhob sich langsam und starrte sie an, einen Hauch von Respekt in seinen Gesichtszügen. Bevor er agieren konnte, drangen die Schritte des heraneilenden Zugpersonals zu ihnen. Der Verfolger riss die Zugtür auf. Sie spürte die eiskalte Luft von draußen. Mit einem letzten, hasserfüllten Blick drehte er sich um, sprang und verschwand dann in der Dunkelheit.
Nelly ließ das Messer sinken. Sie wusste, dass die Gefahr nicht gebannt war, nicht einmal ansatzweise, nur für diesen einen Augenblick. Flucht und Verfolgung würden weiter gehen. Endlos und solange, bis er sie zur Strecke gebracht hätte.
Oder sie ihn. Das war seit heute eine neue Option. Nicht mehr nur der Gewalt ausweichen. Sondern selbst Angreiferin sein.
Zu verlieren hatte sie nichts.
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