Von Helmut Blepp

Kein halbwegs normaler Mensch ginge heute noch mit einem Fuchspelz auf die Straße, doch der alten Dame war das wohl gleichgültig. Das gefiel Lisa sofort, nachdem sie sie auf dem Bahnsteig entdeckt hatte. Auch das schrille Makeup der Oldtimer Lady, die protzigen Klunker und die waffenscheinverdächtigen High Heels waren unglaublich. Und dabei war sie so liebenswürdig und aufgeschlossen, sprach unbefangen über die Kreativität von Klimaprotesten und propagierte lautstark das Recht auf Seniorensex. Die Zeit beim Warten auf den Zug verging wie im Fluge. Als er endlich in den Bahnhof einfuhr, trat bereits die Dämmerung ein. 

Der Schaffner begrüßte die beiden Frauen überaus freundlich und wies ihnen den Weg zu ihren Abteilen. Leider hatte die amüsante Dame 1. Klasse reserviert, so dass Lisa sich ein wenig traurig auf den Weg in ihr Arme-Leute-Abteil machte. Drinnen zog sie die Vorhänge zum Gang zu und setzte sich auf den linken Fensterplatz. Ihren Rucksack stellte sie neben sich ab. Sie schob den rechten Arm in die Trageriemen für den Fall, dass sie einschlief und schloss entspannt die Augen. 

Tatsächlich nickte sie ein und wachte erst durch das Ruckeln des Zuges auf, als er an der nächsten Station hielt. 

Ein älterer Herr stieg zu. Er orientierte sich kurz, ging in die 2. Klasse und entschied sich für das Abteil mit den geschlossenen Vorhängen. Schwungvoll schob er die Tür auf und trat ein. 

„Guten Abend, junge Dame“, grüßte er höflich. „Ich hoffe, ich störe nicht?“ 

„Aber nein“, erwiderte Lisa, obwohl sie das Abteil gerne noch ein wenig für sich allein gehabt hätte. 

Der Mann lächelte sie an und wählte den anderen Fensterplatz für sich. Dann öffnete er seinen Mantel, behielt ihn aber an. 

Lisa kramte in ihrem Rucksack, in dem ziemliche Unordnung zu herrschen schien, denn es dauerte eine Weile, bis sie es schaffte, einen Apfel und ein Obstmesser daraus hervorzuholen. Sie legte ein Papiertaschentuch auf ihren Schoß und schälte den Apfel, viertelte ihn und entfernte das Kerngehäuse. Dann nahm sie ein Stück und biss herzhaft hinein. Sie kaute ausgiebig und fragte mit noch halbvollem Mund: 

„Möchten Sie auch etwas davon?“ 

„Nein, vielen Dank“, erwiderte der Mann und deutete fast beschämt auf seine Lippen. „Meine Zähne machen da nicht mehr mit.“ 

„Verstehe! Das tut mir leid für Sie.“ 

Sie nahm sich noch ein Stück, schlug die verbliebenen zwei Apfelviertel in ein anderes Taschentuch ein und legte sie in den Rucksack. Das sorgfältig abgewischte Obstmesser steckte sie in eine der Seitentaschen. 

„Sie sind wohl keine Hiesige?“, fragte ihr Mitreisendender nun, im Versuch, Konversation zu betreiben. „Machen Sie Urlaub in unserem schönen Niederösterreich?“ 

„Ja, in der Tat! Ich bin Kunststudentin und nutze die Semesterferien für eine Wandertour. Heute in der Frühe bin ich von Passau herübergekommen, um in Zwickledt das Wohnhaus von Alfred Kubin zu besichtigen. Dann ging es weiter nach Schärding, wo ich Rast machte, um eine Kleinigkeit zu essen. Eigentlich hatte ich vor, anschließend noch eine Etappe zu wandern, aber der Regen hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt bin ich auf dem Weg zum Zielpunkt, den ich ursprünglich morgen erst erreichen wollte.“ 

„Kubin also. Einer der größten Künstler, den unser kleines Land hervorgebracht hat, ganz zweifellos. Aber mir ist er doch oft zu morbide.“ 

Lisa zuckte die Achseln. Sie hatte keine Lust, das Thema zu vertiefen. Er merkte das wohl und ließ es auf sich beruhen. 

„Ich hatte geschäftlich in Schärding zu tun“, sagte er nach einer Weile. „Dort gibt es einen sehr vertrauenswürdigen Juwelier, dem ich einige Schmuckstücke meiner verstorbenen Frau verkauft habe. Die Gute ist schon seit über zehn Jahren tot, und ich vermisse sie noch immer. Aber als Pensionär kann man sich keine Sentimentalitäten leisten. Und ich habe ein ordentliches Sümmchen für die Teile bekommen.“ 

Zufrieden hob er die Hand zur linken Brust, wo er in der Innentasche seines Mantels wohl seine Brieftasche verwahrte. 

„Schön für Sie“, erwiderte Lisa. Was gab es dazu sonst zu sagen? 

Minutenlang war es still im Abteil. Beide schauten aus dem Fenster in die abendliche Landschaft, durch die sie fuhren. Bald aber versuchte der ältere Herr erneut, ein Gespräch in Gang zu bringen. 

„Haben Sie das schon mitgekriegt von diesem fürchterlichen Serienmörder?“, fragte er unvermittelt. 

„Meinen Sie diesen brutalen Raubmörder, der gerade ganz Bayern in Aufruhr versetzt?“ 

„Nein, davon weiß ich gar nichts“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich rede von dem Verrückten, der bei uns hier in Österreich schon acht Frauen umgebracht hat.“ 

Er verstummte kurz und ließ die Aussage wirken. 

„Vielleicht sogar mehr“, ergänzte er dann und beugte sich vor, als wolle er ein Geheimnis teilen. „Es gibt auch Vermisste.“ 

Lisa wich unwillkürlich zurück. Der Mann wirkte zwar harmlos, war aber von kräftiger Statur und vielleicht behänder als er aussah. 

Jetzt lächelte er. 

„Habe ich Sie erschreckt, meine Liebe? Das tut mir aber leid! Ich wollte mich doch nur ein wenig unterhalten. Wissen Sie, als Witwer bin ich selten in der Gesellschaft von Frauen, und solche Gelegenheiten wie hier genieße ich. Bitte, nicht böse sein!“ 

„Schon gut!“, beruhigte Lisa ihn. 

„Da bin ich aber froh.“ 

Er schlug sich erleichtert auf die Schenkel, wobei er sich erneut leicht vorbeugte. 

„Was muss das für ein Mensch sein, der so viele Frauen ermordet?“, nahm er seinen Faden wieder auf. „Man muss sich das einmal vorstellen: Diese hilflosen Opfer, allein mit diesem Unhold. Was mögen sie wohl noch gedacht haben, ehe er über sie hergefallen ist?“ 

Lisa spürte die Enge ihrer Umgebung. Links die Fensterfront. Rechts der schwere Rucksack. Und vor ihr dieser Mann, der offenbar ganz fasziniert war von seinem Thema. Sie sagte nichts, beobachtete aber genau, was er tat. 

Da er auf seine Fragen offenbar keine Antworten erwartete, fuhr er fort: „Die Polizei tappt im Dunkeln, wie immer. Bis die den Kerl kriegen, hat er mehr Morde auf dem Gewissen als Unterweger. Von dem schon mal gehört?“ 

Sie schüttelte stumm den Kopf. 

„Jack Unterweger. Er saß wegen dem Mord an einer Frau im Häfen, hatte lebenslänglich gekriegt, wurde aber rausgelassen, weil er so schöne Gedichte schrieb. Das hat neun weitere Frauen das Leben gekostet. In der Nacht nach seiner erneuten Verurteilung hat er sich in seiner Zelle erhängt.“

„Schlimme Geschichte“, bestätigte Lisa. „Wirklich ganz schlimm!“ 

„Ja, da haben Sie völlig recht“, ereiferte sich der Mann. „Und der jetzt ist noch schlimmer. Auf mein Wort!“ 

Der Mann schien mit einem Mal sehr aufgeregt zu sein. Frauenmörder schienen ihn sehr zu beschäftigen. 

„Mit ihren Höschen hat er sie erwürgt, der Unterweger. Kann man das glauben?“ 

„Nein, das ist unglaublich“, redete sie ihm das Wort. 

Sie stand langsam von ihrem Sitz auf, wobei sie sich mit dem rechten Arm auf den Rucksack stützte. 

„Entschuldigen Sie! Ich muss mal zur Toilette“, erklärte sie sich. 

Langsam ging sie an ihm vorbei Richtung Abteiltür und vermied es dabei, ihm den Rücken zu kehren. Sein Blick folgte ihr. Doch er reagierte überhaupt nicht, als sie plötzlich die Notbremse zog. Sie klammerte sich daran fest, bis der Zug zum Stehen gekommen war. Und dann, während der Mann noch versuchte, sich auf seinem Sitz zu halten, sprang sie auf ihn zu und rammte ihm das Obstmesser bis zum Heft ins Ohr. Er war sofort tot. 

Ohne große Eile durchsuchte sie die Leiche und fand eine prall gefüllte Brieftasche. Er hatte nicht übertrieben mit dem ordentlichen Sümmchen. Das mussten mindestens fünftausend Euro sein, schätzte sie. 

Das Geldbündel war schnell verwahrt, das Messer am Mantelärmel des Opfers abgewischt. 

Lisa schaute sichernd in den Flur. Leer. Sie bewegte sich schnell zur Zugtür. Bevor sie sprang, vergewisserte sie sich, dass auch niemand auf dem Bahndamm war. Den Rucksack geschultert, rannte sie auf ein kleines Wäldchen zu und verschwand in der Nacht. 

 

Der freundliche Schaffner beobachtete die Flucht des Mädchens durch das Fenster eines 1. Klasse-Abteils.

Hübsches Ding, dachte er und lächelte dabei, während auf der Polsterbank unter seinem erbarmungslosen Würgegriff die exzentrische alte Dame ihr Leben aushauchte. 

„Junge Frau zieht erst Notbremse, dann das Messer“ titelte die Boulevard-Zeitung später auf Seite1 und kündigte ein Exklusiv-Interview mit dem einzigen Zeugen, einem freundlichen Bahnschaffner, im Innenteil an. 

Das Verschwinden einer alten Dame, die nach Aussage ihrer Betreuer zuletzt einen auffälligen Fuchspelz getragen hatte, war nur eine Kurzmeldung wert. Niemand wusste ja, dass sie in einem kleinen Wäldchen im Schatten einer umgestürzten Eiche und sorgfältig mit Laub und Ästen bedeckt, ihre letzte Ruhe gefunden hatte.