Von Marianne Apfelstedt

 

Sanya zieht die Schultern hoch, die Hände sind in den Taschen ihres Hoodys vergraben. Ihr dunkler Pony fällt fast bis zur Nasenspitze. Verriegeltes Schott zur Außenwelt. Die spröden Lippen bewegen sich, ohne dass ein Laut hervordringt. Tief versunken kommt sie zu sich, als die Bahn sich in die nächste Kurve legt und ihr Kopf unsanft mit der Wand des Abteils kollidiert. Ein panisches „NEIN“ stürzt aus ihren Lippen hervor. Sie rennt zur Tür, rüttelt am Haltegriff, zieht mit aller Kraft am roten Notschalter und sinkt auf die Knie.

„Was ist mit Ihnen? Kann ich helfen?“, spricht sie ein Fahrgast an. Als sie zu ihm aufblickt, weicht er zurück. Doch Sanja ist schon auf den Beinen, ein Messer in der Rechten, das sein Ziel findet und Stoff und Haut durchtrennt.

 

 

Zwei Wochen zuvor.

„Komm schon Sanja, wir brauchen dich. Zu zweit macht das keinen Spaß. Bist du denn gar nicht neugierig?“ Auf einem kleinen Tisch lag ein Blatt Papier, darum herum Bodenkissen aus Plüsch. Lea ließ sich auf eines der Kissen nieder und sah Sanja grinsend an. Emma knipste die Lampe am Nachttisch an, dann entzündete sie eine Kerze auf dem Fensterbrett. Zum Schluss löschte sie das Deckenlicht. Zögernd setzte sich Sanya neben Lea. Sie schob eine Strähne ihres schwarzen Haares, die sich aus dem Flechtzopf gelöst hatte, hinter ihr Ohr und verknotete ihre Hände im Schoß. Emma nahm einen Edding und schrieb in die rechte Ecke JA, in die linke NEIN. Quer über das Blatt folgte das Alphabet und darunter die Zahlen Null bis neun. Am unteren Rand notierte sie AUF WIEDERSEHEN.  Neben dem Tischchen lagen ein Glas, eine Taschenlampe und eine weitere Kerze. Emma stellte das Wasserglas auf das Papier und setzte sich im Schneidersitz auf ein Kissen.

„Also, los geht´s. Haltet euch genau an den ausgemachten Text. Ich stelle die erste Frage“, erklärte Emma ihren Freundinnen. Jede legte einen Zeigefinger auf den Glasboden, zusammen sprachen sie die Worte: „Geister, wir rufen euch, wir sind bereit und laden euch ein.“ Die Mädchen intonierten den Spruch, wieder und wieder. Nach der fünften Runde musste Sanya kichern. Emmas ärgerlicher Blick vertrieb ihre Heiterkeit im Nu. Einen Moment später ging ein leichtes Vibrieren durch das Trinkglas, erschrocken zog Sanya den Finger weg. Sie atmete tief aus und legte ihn zögerlich zurück. Langsam schob sich das Glas über das „JA“, stand dort still.
„Möchtest du uns deinen Namen verraten?“, fragte Emma. Das Glas setzte sich wieder in Bewegung und stoppte an einzelnen Buchstaben.
„Alzalam, was für ein schöner Name. Bist du schon lange tot?“ Als Antwort auf Leas Frage blieb das Glas auf dem „Nein“ stehen. Jetzt war Sanya an der Reihe, doch sie schüttelte stumm den Kopf.
„Werde ich heiraten?“ „JA!“
„Welche Note bekomme ich bei der Mathe-Schulaufgabe?“ „3!“
Emma und Lea wechselten sich mit ihren Fragen ab und jede Antwort stachelte sie weiter an. Sie achteten nicht auf Sanya, die versuchte ihren Finger vom Glas zu nehmen, doch er klebte daran und wurde geführt wie der Arm einer Marionette.
„Aufhören“, schrie sie. „Könnt ihr eure Finger wegnehmen?“
„Klar.“ Lea probierte es, doch es ging nicht. Das Glas schob sich weiter über die Buchstabenreihe. „SANYA“, „FRAGE“
Sanya kroch ein Schauder den Rücken hinunter und ihr Mund wurde trocken. Ein Windhauch strich durch das Zimmer, der Docht erlosch und ein Schatten schwebte an der Decke. Eine kühle Brise strich Sanyas Haar aus der Stirn, kalt wie Eisfinger.
„Verschwinde!“, Emma griff sich mit der freien Hand die Taschenlampe und schlug das Glas entzwei. Sanya schrie auf.

 

Als Sanya die Augen wieder aufschlug, lag sie am Boden und Emma saß neben ihr.
„Das war echt gruselig. Er ist verschwunden. Du warst ziemlich lange weggetreten. Lea ist schon gegangen.“ Sanya setzte sich auf.
„Ich kann mich nicht erinnern, weiß nur, dass wir den Geist eingeladen haben.“ Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand. „Mist, ich muss nach Hause, bevor Papa heimkommt.“

 

Sanya räumte die Spülmaschine aus und stellte den Topf mit dem Wasser für die Nudeln auf den Herd. Sie trug den Müllbeutel raus und bemerkte die Dunkelheit, als sich die Wolken vor den Halbmond schoben. Wieder spürte sie Eisfinger in ihrem Gesicht, und eine Gänsehaut rieselte ihren Rücken hinunter.
„Sanya!“ Nur ein Wispern, doch diese Stimme brachte ihr Herz zum Stolpern. Sie rannte zur Haustür und schlug sie zu.
„Du kannst mich nicht aussperren. Du hast mich nicht verabschiedet, ich muss bleiben. Bin ganz nah.“
„Wer bist du?“, flüsterte sie.
„Du hast mich gerufen und kennst meinen Namen.“
„Ich wollte das nicht.“ Panisch sah sie sich um, ohne etwas zu entdecken.
„Deine Stimme hat mich angelockt, wie der Gesang einer Sirene.“
„Auf Wiedersehen. Verschwinde!“
„Zu spääät.“
Sanya befahl dem iPod: „Spiel meine Playlist. Lauter!“ Sie sang mit, während sie den Tisch deckte, um die Stimme zu übertönen. Immer wieder sah sie nach hinten, fühlte sich beobachtet.

 

„Hallo Paps.“
„Hier riecht es schon prima.“ Er setzte sich an den Tisch und schob sein Geschirr auf die Seite, damit das Notebook Platz hatte.
„Musst du noch arbeiten?“, fragte Sanya, als sie die Teller mit Spaghetti und Soße füllte.
„Ja, die Daten für den neuen Kunden müssen überprüft werden, vor dem Meeting morgen.“
„Er wird dir nicht glauben. Hält dich für verrückt.“
„Paps, glaubst du an Geister?“
Er sah zu Sanya, schob sich eine weitere Gabel der Nudeln in den Mund, bevor er antwortete. „Geister gibt es nicht. Was soll die Frage?“
„Wir haben heute bei Emma Geister beschworen.“
„Mit einem Wasserglas? Das habe ich auch mal mit meinen Freunden ausprobiert.“ Er grinste. „Wusste gar nicht, dass das immer noch in ist.“ Er schob den leeren Teller zur Seite. „Lass das Geschirr stehen, ich räume es später in die Spülmaschine. Wenn du morgen Oma besuchst, sag ihr liebe Grüße von mir.“
Sanya schob die restlichen Nudeln auf ihrem Teller herum. Appetit hatte sie keinen mehr.
„Ich hatte Recht. Kannst du dir sparen. Dem sind seine Kunden viel wichtiger als du. Wenn du jetzt der Flasche einen Schubs gibst, kann ich das Wasser direkt auf sein Handy lenken. Wäre ein schöner Spaß.“
Sanya stand sofort auf und räumte die Wasserflasche vom Tisch.

 

In der Nacht wachte sie mehrmals schweißgebadet auf. Sie fühlte sich wie eine Maus in der Falle, schließlich schlief sie bei brennender Lampe wieder ein. Am Morgen erinnerte sich an ein Messer und Blut, in verschiedenen Bildern. Im Spiegel erblickte sie ihr Gesicht blass und mit Augenringen.
„Es waren zwölf Opfer.“ Seine Stimme zerrte die Träume ans Tageslicht.
Sanya drehte das Radio auf und trank eine Tasse schwarzen Kaffee, um die Geister der Nacht zu vertreiben und seine Worte.
„Auch hier gibt es ein scharfes Messer. Du solltest es mitnehmen, wir haben eine Aufgabe. Ich wurde getötet, bevor ich mein 13. Opfer erstechen konnte. Das ist jetzt deine Aufgabe.“
„Ich werde es nicht mitnehmen. Verschwinde endlich.“

 

Sanya wartete keine Antwort ab, sie klopfte kurz und betrat das Zimmer.
„Besuch ist da.“
„Ich habe dich schon erwartet. Es gibt Käsekuchen.“ Auf dem Tisch stand eine Teekanne aus Porzellan und der Roibuschtee verströmte seinen Karamellduft. Erna erzählte vom Bastelnachmittag. Die Senioren hatten Herbstkränze gebunden. Sanya rieb sich in Gedanken die Schläfen, ihrem Lieblingskuchen schenkte sie keine Beachtung.
„Du bist so blass und still. Was ist mit dir?“
„Glaubst du an Geister?“
„Nun, ich selbst hatte noch keine Begegnung mit einem Geist, aber ich bin sicher, es gibt sie. Ich räuchere mit Salbei, besonders in den Rauhnächten, um sie auf Abstand zu halten.“
„Mit ein bisschen Rauch lasse ich mich nicht vertreiben.“
Sanya erzählte vom Nachmittag bei Emma, dem gesplitterten Glas und der Stimme, die seitdem zu ihr sprach.
„Das sollten wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.“ Erna holte einen Gegenstand aus der Schublade ihres Nachtkästchens.
„Das ist ein roter Jaspis, er ist mein Glücksbringer und Kraftstein. Der wird dir Kraft geben.“ Sie legte Sanya den Stein auf die Handfläche, er fühlte sich glatt und warm an. „Ich kenne jemanden, der Tarotkarten befragt. Ich werde mich erkundigen, wie wir deinen Quälgeist loswerden.“
„Die wird gleich sehen, wie es ist, wenn ich sie quäle.“
„Ich geh dann mal wieder, muss noch was für ein Referat lesen. Wir können ja nachher telefonieren.“ Erna umarmte ihre Enkelin, drückte sie fest an sich.

Die Vase auf dem Tisch kippte um, das Wasser bildete einen See, der sich um Ernas Füße verteilte, als sie vorbeilief. Sie rutschte aus und lag stöhnend auf dem Boden. Weil sie nicht aufstehen konnte, wurde sie mit dem Rettungswagen in ein Krankenhaus gefahren. Dort bestätigte sich der Verdacht, Schenkelhalsbruch.

 

„Wir haben eine Aufgabe. Lass uns das Messer holen.“
Sanya lief auf direktem Weg nach Hause, sobald Oma versorgt war.
„Du warst das, du Monster.“ Sie zitterte vor Wut über den Unfall.
„Immerhin lebt sie noch.“
Sie verließ ihr Zimmer nur, wenn niemand zu Hause war. Über die Kopfhörer hörte sie laute Musik, trotzdem wurde Alzalams Stimme beständig kräftiger, genauso wie die Kopfschmerzen.

„Nimm das Messer! Pack es in deinen Rucksack! Wir brauchen es.“

 

Zwei Tage zuvor.

„Du kannst nicht gewinnen!“
Sanya zog den roten Jaspis aus der Hosentasche. Der einstmals rot glänzende Stein war mit grauen Schlieren durchzogen.
„Er kann dich nicht schützen. Nimm das Messer!“
Ein Beben ging durch den faustgroßen Stein und er wurde glühend heiß. Sie ließ ihn fallen und pustete auf die roten Handflächen. Der Stein war jetzt komplett grau. Seine Stimme wirbelte durch sie hindurch, war in ihr. Mutlos packte sie das Messer in ihren Rucksack.

 

 

Als der Zug zum Stillstand kommt.

 

Sanya sieht sich selbst am Boden liegen, ein Messer steckt in ihrem Bauch. Eine Frau mit blonden Haaren schwebt neben ihr, nimmt ihre Hand und Sanya fühlt sich leicht, ohne die Stimme in ihrem Kopf.
„Das war sehr mutig, es war der einzige Weg. Er hat deinen Willen unterschätzt. Nun muss er sich ein neues Opfer suchen. Komm mit mir.“

 

 

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