Von Raina Bodyk
Angst- und Entsetzensschreie gellen durch die fünf sonnendurchfluteten Waggons des 16:Uhr-Zuges, als plötzlich mit einem heftigen Ruck die Notbremse gezogen wird. Ein Motorschaden? Ein krankheitsbedingter Notfall? Terroristen? Ein Selbstmord auf den Schienen?
Bei den Fantasiebegabten kriecht die Furcht den Rücken hoch und zwingt sie, sich in die gestreiften Polster oder besser noch auf den Boden zu drücken. Die Redefreudigen diskutieren die möglichen Ursachen. Die ewigen Nörgler klagen wie immer: „Typisch Bahn! Diese fortwährende Unpünktlichkeit, die überteuerten Tickets, die Unfähigkeit, bei schlechtem Wetter zu fahren.“
In Waggon drei starren alle entgeistert auf die kurzhaarige, junge Frau, die gerade den Zug so unvermittelt zum Stehen gebracht hat. Ein Aufkeuchen, als sie sehen, was sie in der Hand hält: ein großes, scharf geschliffenes Messer. Mit schnellem Griff packt sie sich unversehens eine ältere Dame, die direkt vor ihr sitzt, zieht sie an sich und drückt ihr das Messer an die Kehle.
Entsetzte Rufe: „Was soll das?“
„Sind Sie verrückt?“
„Lassen Sie die Frau los!“
Die Seniorin blickt flehentlich um sich, will um Hilfe bitten, aber ihre Stimme versagt. Die Augen spiegeln ihre Panik.
„Meine Damen und Herren!“, tönt in diesem Augenblick eine stammelnde Stimme aus dem Lautsprecher.
„Ein bedauerlicher Zwischenfall ist eingetreten. Bleiben Sie bitte alle ruhig auf Ihren Plätzen sitzen. Eindringlinge haben sich gewaltsam Zugang zu dieser Bahn verschafft. Der Fahrer wurde gezwungen, alle Türen zu verriegeln, und wird nun streng bewacht. Niemand darf den Zug verlassen. Man versichert, dass niemand zu Schaden kommen werde. Ich wiederhole: Bleiben Sie ruhig.“
Die Frau mit dem Messer dröhnt durch ihr Mikrofon.
„Ich bin nicht allein! Es nützt Ihnen nichts, mich zu überwältigen. Der Lokführer wird jetzt alle Türen öffnen – außer für Waggon drei – und alle, ich betone, alle dort befindlichen Reisenden werden den Zug verlassen. Danach werden sämtliche Ausgänge erneut verschlossen.“
Panisch und neidisch blicken die Zurückgebliebenen den Aussteigenden nach, die fluchtartig aus der Bahn hasten.
„So, nun zu Ihnen! Sie da vorn, Sie werden jetzt alle Handys einsammeln. Wenn wir nur ein einziges bei Ihnen finden, werden Sie es bitter bereuen. Bleiben Sie entspannt, bis wir unser Ziel erreicht haben. Danach werden Sie den Zug unbeschadet verlassen dürfen.
Wenn Sie Ihrerseits versprechen, sich besonnen zu verhalten, lasse ich diese Dame zurück auf ihren Platz.“
Die Leute schauen sich an, nicken schließlich zögernd. Leises Geflüster. Können sie sich auf die Worte der Geiselnehmerin verlassen?
***
Draußen wählen Unzählige den Polizeinotruf und die Befreiten schildern das Geschehene.
Die Polizei wird in äußerste Alarmbereitschaft versetzt. Das Gebiet um den stehenden Zug wird weitläufig geräumt. Scharfschützen verteilen sich über das Gelände, bringen ihre Waffen in Stellung.
„Es wird nicht geschossen! Zu viele mögliche Opfer im Wagen!“, ordnet Hauptkommissar Katzenwadel an.
„Wir müssen unbedingt herausbekommen, mit wie vielen wir es zu tun haben und mit wem. Psychopathen, Terroristen oder einfach nur gewöhnliche Verbrecher, die mit einem spektakulären Raubüberfall in die Geschichte eingehen wollen?“
„Chef, die Zeugenbefragung hat nichts ergeben. Keiner hat etwas Außergewöhnliches bemerkt.“
„Verdammt! Besorgt Richtmikrofone, wir müssen unbedingt erfahren, was die vorhaben. Macht eine Funkzellenabfrage in dieser Gegend. Stellt fest, wer sich in den letzten zwei Stunden hier eingewählt hat. Und schafft mir die Psychologen für die Verhandlung ran.“
***
Die Geiseln starren die bewaffnete Frau an. Was jetzt?
Diese starrt zurück, nickt dann.
„Es dauert noch ein Weilchen, bis es weitergeht. Sie wissen schon, Verhandlungen mit der Polizei und so.“
Worauf wartet sie? Wieder zweifeln sie. Wartet sie auf das Killerkommando? Geht es ihnen doch an den Kragen? Mancher fängt an zu beten, andere denken mit Tränen in den Augen an ihre Familien, die sie vielleicht nie wiedersehen werden.
„Ey Leute! Ich halte mein Versprechen! Euch passiert nichts! Lasst uns einfach ein bisschen quatschen.“
„Worüber denn?“, traut sich ein Mann mit wenig Haar und viel Bauch.
„Irgendwas. Mal sehen … Was tätet ihr zum Beispiel, wenn ihr an der Regierung wärt?
„Endlich was fürs Klima tun.“
„Mehr Ladestationen für e-Autos.“
„Mehr Kindergärten und Kitas. Mehr Lehrer.“
„Kriminelle Ausländer raus.“
„Die Wirtschaft subventionieren.“
„Die Staatsschulden verringern.“
„Blödmann! Beides geht nicht, sparen und Wirtschaft fördern!“
„Da müssen sich die da oben eben was einfallen lassen!“
„Die Neonazis einsperren.“
Die Geiselnehmerin nickt zustimmend. „Tja, das wäre schön, wenn das alles machbar wäre.“
Da schreit ein blonder Jüngling aus den hinteren Reihen: „Ein starker Mann muss her. Dann gibt es auch keine Verbrechen mehr.“
„Spinnst du, willst du einen neuen Hitler? Nee, nie wieder.“
„Da herrschte wenigstens Zucht und Ordnung.“
Bevor sich Missverstandene und Empörte in die Haare kriegen, schaltet sich die Messerfrau ein: „Ich finde auch, wir brauchen einen durchsetzungsstarken Mann bzw. Frau.“
„Sie meinen Diktatur?“
Unruhiges, teils zorniges Gemurmel beherrscht das Abteil.
Die Passagiere vergessen bei der hitzigen Debatte vollkommen ihre bedrohliche Lage. Sie kennen diese Themen von daheim. Diskussionen voll Unzufriedenheit und Angst.
Die Attentäterin erklärt: „Ich meine keinen richtigen Diktator, mehr was für einen Übergang. Nur für, sagen wir mal, eine Wahlperiode. In dieser Zeit löst diese Person, natürlich mit den besten Fachleuten, die vorhandenen Probleme, ohne sich durch bürokratische Hürden und kleinliche Gesetze behindern zu lassen. Keine Opposition oder Koalition, die nur die Beschlusskraft behindern. Alle Politiker und ebenso alle Bürger haben das, was die Regierung tut, zu akzeptieren. Jeder muss Opfer bringen für das Allgemeinwohl, auch wenn es weh tut. Wer dazu nicht bereit ist, wird bestraft.“
Ein Fahrgast ist empört. „Um Gottes willen, was für eine Schwachsinnsidee! Macht macht süchtig. Dann sind wir am Ende die Gelackmeierten, zahlen noch mehr Steuern, verlieren noch mehr Jobs. Neue Gesetze werden das Volk ausbluten und die Reichen und Mächtigen werden noch mehr Vermögen anhäufen.“
***
„Verflucht, wer sind die? Gibt‘s was Neues?“, schnauzt der Hauptkommissar, wütend über die eigene Hilflosigkeit.
„Leider nein. Chef, die Psychologen sind da und bereit, mit den Geiselnehmern zu sprechen.“
***
„Eben nicht!“, erklärt die Geiselnehmerin. „Nur eine Wahlperiode lang soll getan werden, was nötig ist, um die Ordnung wiederherzustellen. Nur vier Jahre, dann zurück zur Demokratie!“
„Gute Frau, Sie glauben doch wohl nicht, dass Ihr ‚guter Diktator‘ dann freiwillig gehen wird?!“
„Doch! Ich will für eine begrenzte Zeit diese Person sein, die Ordnung schafft. Ich besitze genug gesunden Menschenverstand, so wie Sie alle auch. Lassen Sie uns eine Partei der Vernunft gründen und alle Dummschwätzer wegjagen!“
„Ja! Das ist die beste Idee, die ich seit langem gehört habe.“
„Seid ihr verrückt? Diese Frau hat uns als Geiseln genommen. Sie ist kriminell. Mit sowas wollt ihr euch zusammentun?!“
„Ich weiß nicht … Da ist schon was dran, was sie sagt.“
***
Die Polizei ist völlig entgeistert angesichts der merkwürdigen Unterhaltung, die sie unter Rauschen und Knistern in Teilen mitbekommt. Was sollte das werden? Eine Schulstunde in Politik? Ist diese Bande geistesgestört? Dann könnte alles außer Kontrolle geraten
Die Psychologen versuchen vergebens, mit den Verbrechern Kontakt aufzunehmen.
Es gibt keinerlei Reaktion. Die Beamten werden sichtlich nervös. Katzenwadel kann sich immer noch nicht entschließen, Betäubungsgas in den Waggon zu leiten. Die Kriminellen könnten durchdrehen und schießen. Am meisten Sorgen macht ihm, dass bisher keinerlei Forderungen gestellt worden sind. Das könnte schlimmstenfalls bedeuten, dass sie mit ihrem eigenen und dem Tod der Reisenden ein grausiges, politisches Fanal setzen wollen.
***
Der Tag danach.
Am folgenden Morgen berichtet die gesamte Presse über diese ruchlose Tat und ihr sensationelles Ende:
Junge Frau zieht erst Notbremse, dann das Messer
Eine unglaubliche Geiselnahme fand ein glückliches Ende. 24 Geiseln wurden von nur zwei Kidnappern in einem Regionalzug gefangen gehalten. Einzige Waffen: je ein Messer. Nach stundenlangen, fruchtlosen Bemühungen um Kontakt öffneten sich unerwartet die Zugtüren. Zuerst stieg ein Mann mit erhobenen Händen aus der Lok, danach die Geiseln aus ihrem Waggon. Dann geschah das Unfassbare: Diese rannten nicht hilfesuchend auf die Polizisten zu, sondern blieben einfach vor dem Wagen stehen und warteten offensichtlich auf die Täterin. Als diese in der Tür erschien, brandete Beifall auf. Was war da im Zug geschehen? Die Polizei schweigt sich bisher aus.
***
„Chef, der Innenminister ist am Apparat. Persönlich!“
„Katzenwadel! Was lese ich da für einen hirnlosen Schwachsinn in der Zeitung? Was war da los?“
„Herr Minister, das Ganze war eine einzige Show. Zwei Leute haben den ganzen Polizeiapparat zum Narren gehalten. Allerdings – die Geiseln waren echt.“
„Aber wozu?“
„Hmm. Sie werden es nicht für möglich halten. Das alles sollte landesweit für die Gründung einer neuen Partei werben.“
„Waaas?!“
„Die Geiseln waren nie in Gefahr. Sie wurden im Gegenteil binnen weniger Stunden zu treuen Anhängern der neuen ‚Retterin der Nation‘ und versicherten alle, dass sie Parteimitglieder der ‚WRD – Wir retten Deutschland‘ sein wollen.“
***
Vier Jahre später im Bundeskanzleramt
„Denkst du noch an unsere Zugaktion damals? Das war genial!“
„Tja, man nehme einen Teil Durchschnittsbürger, pfeffert sie mit Versprechen und Hoffnung, vermischt mit ein bisschen Stockholm-Syndrom und Show. Im Nu bist du in aller Munde und der Presse.“
„Ein schöner Erfolg! Unsere Taschen sind randvoll. Deutschland ist ‚gerettet‘! Die Steuern für Reiche abgeschafft, Pflicht zur Arbeit, ein soziales Jahr für unsere Jugend, Opposition verboten.“
„Prost! Auf die nächsten vier Jahre!“
V3 – 9.995 Z