Von Irmi Feldman

 

Verwirrt starrte Mahler auf die sich über ihn beugende Carmen. Er wollte sie fragen, was sie hier mache, obwohl er gar nicht wusste, wo hier war. Ganz benommen war er noch. Reden konnte er auch nicht. Sein Mund war zugeklebt. Mit Pflaster? Er wollte es wegreißen. Erst da merkte er, dass seine Hände gefesselt waren. Aber warum? Hatte Carmen das gemacht? Er versuchte, sich zu erinnern.

Das Letzte, das sich in seinem Bewusstsein verankert hatte, war der Moment, als er von seinem Auftrag nach Hause gekommen war. Funktioniert hatte alles wie geplant. Den Geldkoffer hatte er übergeben. Der Flashdrive, den er dafür eingetauscht hatte, war sicher in seiner doppelten Schuhsohle verborgen. 

Mahler achtete aufs kleinste Detail, überließ nichts dem Zufall, ging keine unnötigen Risiken ein.

Wie immer war er darauf bedacht gewesen, dass keiner ihm folgte. Auf Umwegen hatte er sich durch die Stadt geschlängelt. Erst als er sicher war, dass er nicht verfolgt wurde, war er zur üblichen Parkgarage gefahren, in sein Privatauto umgestiegen und nach Hause gefahren.

Das etwas abseits gelegene Doppelhaus, dessen rechte Seite er sein Eigen nannte, lag in völliger Dunkelheit. Gut. Frau Dorber auf der linken Seite, liebenswert, hilfreich, doch allzu interessiert an seinem Leben, wollte er auf keinen Fall aufschrecken. Es war fast Mitternacht. Tiefliegende Wolken jagten über den Himmel. Ob es heute noch regnen würde? 

Seine Hand schon behutsam auf das sonst quietschende Geländer gelegt, das die drei Stufen zu den beiden Haustüren hinauf einsäumte, registrierte er, dass es heute nicht quietschte. Noch bevor er darüber nachdenken konnte, wurde ihm schwarz vor Augen. Dann war da Nichts.

Erst jetzt war er wieder aufgewacht, weil das rhythmische Geratter, das ihn so gnädig eingelullt hatte, abrupt vorbei war. Jemand rüttelte ihn unsanft an der Schulter. Mahler schüttelte den Kopf, weigerte sich, sein angenehmes Dösen aufzugeben. Als das Rütteln nicht aufhörte, öffnete er unwirsch die Augen. Carmen.

Da erst sah er, dass sie was in der Hand hielt. Mahler hatte Mühe sich einen Reim darauf zu machen. Das Herz schlug im buchstäblich bis zum Halse, als er, zunächst nur schemenhaft, erkannte, was es war. Ein Messer. Ein Messer? Aber wieso? 

Nie habe er gedacht, dass sein Leben so enden würde. Abrupt. Ohne Vorwarnung; obwohl gerade das in seiner Branche nicht unüblich sei. Aber ausgerechnet durch Carmen?

Sie hatten sich in der Oper kennengelernt. Er erinnerte sich, wie sie ihn in der ersten Pause mit vollem Weinglas angerempelt habe.

Doch anstatt sich zu entschuldigen, habe sie nur lachend ausgerufen, was für ein Glückspilz er sei, dass sie Weißwein bevorzuge.

War das alles gespielt gewesen? Geplant bis ins kleinste Detail? Das konnte, nein, das mochte er nicht glauben. Die Begegnung mit einer gleichgesinnten, Opern liebenden Seele habe er immer als glückliche Fügung des Schicksals betrachtet.

Rigoletto sei ihre Lieblingsoper, plauderte sie. Fast habe sie es nicht zur Vorstellung geschafft. Nicht wegen einer Autopanne oder familienbedingter Notfälle. Nein, nein. Nichts könne sie von Rigoletto fernhalten. Alles würde sie dafür tun, hatte sie verheißungsvoll hinzugefügt, an ihrem fast leeren Weinglas genippt und ihm tief in die Augen geschaut.

Dass sie es fast nicht geschafft habe, sei daran gelegen, dass sie in letzter Minute einen außergewöhnlichen Auftrag habe erledigen müssen.

Was es denn für ein Auftrag gewesen sei, habe Mahler wissen wollen. Verlegen stoppte er, denn ihm war klar geworden, dass diese Frage sich nicht schickte.

Aber sie habe nur gelacht, den Kopf geschüttelt und geschmunzelt. Das, versprach sie ihm, werde sie ihm ein andermal erzählen.

Sie hatte ihn geduzt. Er war überrascht, gleichzeitig auch erleichtert, weil er sich schon die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen habe, wie er sie denn anreden solle. Nun, da sie ihn geduzt hatte, tat er es auch.

Sie hieße Carmen, wie Bizets Carmen, sagte sie, doch sei sie keine Spanierin. Leider, hatte sie lachend hinzugefügt.

Gewusst, oder zumindest geahnt, habe er ja immer, dass sich hinter Carmens oft sonderbarem Verhalten, Geheimnisse verbargen. Auch später, als sie sich schon besser kannten und er drauf und dran war, sich in sie zu verlieben. Klug war sie, lebendig und schlagfertig und außergewöhnlich attraktiv mit ihren roten Haaren und den ebenmäßigen Gesichtszügen.

Aber er, Mahler, habe ihr ja auch nicht alles erzählt. Sein Job eigne sich nun mal nicht als Gesprächsthema für Partys, Wartezimmer oder Supermärkte. Ausgemacht habe ihm das nie etwas. Doch jetzt, da er Carmen kennengelernt hatte, wünschte er, es sei anders.

Doch er log, gab wichtige Geschäftsreisen oder Familiennotfälle vor, wenn seine Firma ihm einen Auftrag erteilte, der sich nicht aufschieben ließ. Sie verstehe, sagte sie. Ihr ginge es genauso. Sie müsse auch des Öfteren dringend und ohne Vorwarnung verreisen. Sie seien sich ähnlicher, als er denke, habe sie verschwörerisch geflüstert und geheimnisvoll gelacht. Sie lachte oft. Und viel. Er mochte das. 

Und nun war er hier, obwohl er immer noch nicht wusste, wo hier war. Aber so langsam dämmerte es ihm. Carmen. War das überhaupt ihr richtiger Name? Egal. Sie hatte ihn entführt, hatte ihn hierhergebracht. Arbeitete sie allein? Er hätte gern gewusst, wie das alles zusammenpasste. Was hatte sie ihm da nur gegeben? Sein Kopf schmerzte zum Zerspringen. Warum hatte sie ein Messer in der Hand?

Sie hätten nicht viel Zeit, sagte Carmen, und riss ihm abrupt das Pflaster vom Mund; das Messer gefährlich nahe an seinem Gesicht. Mahler wollte aufschreien, doch sie gebot ihm mit ihrem Zeigefinger Ruhe.

Mahler nickte.

„Warum bist du hier?“, fragte er heiser.

„Warum?“, fragte sie zurück. „Weil du etwas hast, das wir wollen.“

Mahler dachte an den Flashdrive in seiner Schuhsohle.

„Was meinst du denn?“ Er stellte sich dumm.

Er solle den Quatsch lassen, sagte Carmen. Sie wisse alles. Sie hätten gefunden, wonach sie suchten. Sie folge ihm schon eine ganze Weile. Sie sei auf ihn angesetzt worden.

„Das Treffen in der Oper?“, fragte Mahler leise.

„Genau das“, sagte Carmen.

Mahlers Blick fiel wieder auf das Messer. Sie müsse das nicht machen, sagte er. Er könne verschwinden. Spurlos. Es täte ihm leid, wenn er ihr in die Quere gekommen sei. Er habe nicht gewusst, dass sie in der gleichen Branche arbeite. Flehend schaute er sie an. Er solle sie gehen lassen, beschwor er sie.

Carmen lächelte traurig.

„Mein Lieber“, sagte sie nur, beugte sich überraschend zu ihm herab und küsste ihn. Wild und leidenschaftlich.

Und dann, mit einer schnellen, gekonnten Bewegung senkte sie das Messer und machte einen Schnitt. Mahler schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder. Er war nicht tot. Sie hatte nicht seine Kehle, sondern seine Handfesseln durchgeschnitten.

Sie hätten nicht viel Zeit, sagte Carmen wieder. Ihr Kumpel komme gleich zurück. Der werde nicht so sanft mit ihm umgehen. Er müsse verschwinden. Sofort. Sie habe ihren Kumpel weggeschickt, damit er, Mahler, fliehen könne.

„Was ist mit dir?”, fragte Mahler. Sie solle mitkommen, beschwor er sie. Sie könnten gemeinsam fliehen.

Er wisse genau, dass das nicht gehe, sagte Carmen. Die Famiglia, wie sie sie nannte, werde die Suche nach ihnen nie aufgeben, und er wisse, was geschehe, wenn sie sie fänden.

Mahler nickte. Er wusste es. Diese Art von Arbeit war gefährlich. Ein Menschenleben war nichts.

„Schnell!“, befahl Carmen. „Ich werde meinen Kumpel so lange wie möglich aufhalten.“

Mahler nickte nur. Carmen zog ihn auf die Beine. Er konnte kaum stehen. Seine Knie fühlten sich immer noch wie Wackelpudding an.

Erst dann sah Mahler, dass sie sich in einem Zugabteil befanden. Carmen hatte wohl die Notbremse gezogen, denn es schien, dass der Zug auf freier Strecke zum Stillstand gekommen war. Zumindest sah er weit und breit kein Licht. Keine Menschenseele. Es war Nacht. Der Regen prasselte in Strömen hernieder. Nun regne es also doch, registrierte Mahler.

„Warum?“, fragte Mahler wieder. Warum sie ihn gehen ließe.

Weil sie so dumm gewesen sei, sich in ihn zu verlieben, sagte Carmen.

In ihrer Branche sei das lebensgefährlich. Vielleicht sähen sie sich irgendwann wieder.

„Wäre schön“, sagte sie wehmütig.

Sie öffnete das Zugfenster, zog ihn auf die Sitzbank hinauf und war dabei ihn aus dem Fenster zu hieven.

Wie durchtrainiert sie ist, dachte Mahler, und wunderte sich darüber, dass ihm das nie zuvor aufgefallen war. Gleichzeitig ärgerte er sich, dass er in dieser Situation an sowas Banales dachte. Er müsse sich konzentrieren, schalt er sich.

Etwa einen Kilometer, tief im Wald, informierte ihn Carmen, sei ein Auto versteckt, ein alter grauer Renault. Geld sei auch da. Ebenso ein Pass. Er müsse auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Vor dem Abteil wurden Stimmen laut.

„Mein Kumpel“, flüsterte Carmen. Er vertraue ihr nicht.

Mit einem letzten Stoß schubste Carmen ihn aus dem Fenster. Unsanft fiel Mahler auf die vom Regen aufgeweichte Erde. Er rappelte sich auf, bezeugte ihr mit einem thumbs up, dass er ok war. Hellwach war er jetzt.

Das letzte, was er von Carmen sah, war wie sie sich selbst mit dem Messer in den Oberschenkel stach. Sie verzog keine Miene.

Was für eine Frau! dachte Mahler wehmütig.

Im Schutz der Dunkelheit und des niederprasselnden Regens, der gnädig seine Spuren verlöschen werde, spurtete Mahler Richtung Wald.

Er werde entkommen, versprach er sich. Schon ihretwegen.

Er sah nicht mehr das grobe Rütteln am Abteil, nicht die brutal eingetretene Tür, nicht das ungläubige Gesicht ihres Kumpels, als Carmen ihm keuchend und mit einer auf die blutende Wunde gedrückten Hand berichtete, dass Mahler sie überwältigt, die Notbremse gezogen, und sie mit dem Messer angegriffen habe, bevor er geflohen sei. 

 

Auch das soeben gezückte Messer sah Mahler nicht mehr.

 

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