Von Franck Sezelli
Julia schreckt auf einmal hoch. Wo ist sie? Das gleichmäßige Rattern des Zuges und die angenehme Wärme ihres Sitzes haben sie wohl einnicken lassen. Ihr Kopf lehnt am Fenster, von ihrer Steppjacke vor unangenehmen Stößen geschützt.
Vor ihren Augen fliegt die Landschaft vorbei. In der Ferne sieht sie ein Wäldchen, das der Herbst schon bunt geschmückt hat. Die junge Frau lehnt sich bequem in ihren Sitz zurück, schließt die Augen und versucht, wieder einzuschlafen. Bis nach Rostock, wo sie ihre Freundin Sophie besuchen will, sind es bestimmt noch anderthalb Stunden.
Sie hat sich bisher noch niemandem anvertraut, ihren Eltern nicht und auch nicht ihren Freundinnen zu Hause. Vielleicht kann sie gegenüber Sophie ihr Herz ausschütten. Denn es ist eine ungeheure Belastung, die in den vergangenen Monaten nicht geringer geworden ist. Diese begleitet sie seitdem praktisch jede Minute ihres Lebens. Julia verspricht sich keine Befreiung, aber doch eine Linderung von den düsteren Gedanken, von der sie ständig bedrohenden und lähmenden Angst. Sie hat Sophie seit deren Wegzug nach Mecklenburg nicht mehr getroffen. Nur übers Internet und telefonisch sind sie in Verbindung geblieben. Dabei waren sie beste Freundinnen in der ganzen Schulzeit und auch während der weiteren Ausbildung. Wegen dieses innerlich noch immer bestehenden sehr engen Verhältnisses einerseits und der räumlichen Distanz andererseits denkt Julia, dass es ihr leichter fällt, der Freundin alles zu erzählen.
Als die junge Frau die Augen wieder öffnet, durchzuckt sie ein furchtbarer Schreck. Ihr Magen zieht sich zusammen, ihr wird schlecht. Es ist, als ob ihr Blut gefriert. Kalte graublaue Augen starren sie zwei Abteile weiter von der anderen Gangseite an. Unter einer schwarzen Basecap mit den tausendfach gesehenen Buchstaben NY lauert ein aggressiver wie auch gieriger Blick. Julia fühlt sich total ausgeliefert und hilflos. Die zurückgedrängten Bilder kommen mit Macht wieder hoch.
Es war ein Nachmittag im August. Sie hatte sich in den Garten zurückgezogen, in ihre Lieblingsecke, wie etliche Male in diesem Sommer und auch schon in den vergangenen Jahren. Hier konnte niemand hineinschauen. Nur ein winziges, stark verschmutztes Mansardenfenster, das zum gegenüberliegenden Haus gehörte, zeugte davon, dass es außerhalb dieses von hohen Hecken umsäumten Rasenstücks eventuell noch Menschen gab. Die Eltern von Julia waren im Urlaub, sie selber hatte heute frei und war allein. Die Sonne schien prächtig vom blauen Himmel herunter, aber zum Glück nicht so heiß wie an den vergangenen Tagen. Also legte die junge Frau sich auf ihre Liege, nicht ohne vorher das Bikini-Oberteil abgelegt zu haben.
Dann … dieser Kerl lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Sie spürt noch heute, wie er nach ihren Brüsten grapscht, kräftige Hände umspannen ihre Handgelenke und drücken sie nach unten. Stinkender, keuchender Atem schlägt ihr ins Gesicht, Geifer rinnt aus einem verzerrten Mund, kalte Augen durchbohren sie. Es gelingt ihr nicht, den Mann abzuschütteln. Sie spürt ekligen Schweiß überall ätzend auf ihrer Haut. Und danach … kann sie nur noch kotzen. Unter der Dusche will der Weinkrampf kein Ende nehmen.
Dieser Blick, diese Augen – sie ist sich sicher, das ist er. Wie er herüberglotzt, hat er sie wohl auch erkannt. Sie kann hier nicht bleiben …
Julia nimmt alle Kraft zusammen, springt auf, schnappt sich ihre Jacke und die Reisetasche und läuft schnell aus dem Wagon. Ein freundlicher älterer Herr neben der Tür hält sie ihr auf, sodass sie schnell den Abstand zu dem Kerl vergrößern kann. Im nächsten Wagon wirft sie sich ihre Jacke über und rennt weiter. Dabei stolpert sie über einen kleinen Koffer, der im Gang steht. Sie bemerkt es kaum. Beim Schließen der nächsten Tür sieht sie voller Panik, dass der Kerl ihr hinterherkommt.
Angst und unbändige Wut überkommen sie zugleich. Sie dreht sich um und flieht weiter durch den Zug, von Wagon zu Wagon, dabei manch verwunderten Blick auf sich ziehend. Der Verfolger nimmt sich Zeit, er genießt offenbar ihre Angst. Julia hat das lähmende Gefühl, ihm nicht entkommen zu können. Sie greift in ihre Jackentasche. Es ist da … Was sie ertastet, gibt ihr ein wenig Halt in ihrer schieren Verzweiflung.
Der letzte Wagen, die letzte Tür … Ich muss hier raus. Dieser Gedanke beherrscht sie. Ich kann unmöglich mit diesem Kerl auf so engem Raum zusammen sein.
Aber da steht er schon vor ihr. Sein Atem stinkt, wie sie es in schrecklicher Erinnerung hat. »Was rennst du denn weg, du dummes Ding? Dir hat es doch auch gefallen …«
Ich muss weg von hier! Julias Blick fällt auf die Notbremse links über der Tür. Der Gedanke und die blitzschnelle Bewegung ihres linken Armes nach oben sind eins. Ein heftiger Ruck! Die Bremsen quietschen. Der Kerl in seiner ihn beherrschenden Gier begreift nichts. Er sieht nur, wie die offene Jacke und der erhobene Arm ihm Gelegenheit geben, sich von hinten an die Frau zu pressen und ihre Brüste zu umfassen. Er drückt sie schmerzhaft. Dann ein erstauntes Aufstöhnen … und er sackt hinter seinem Opfer zusammen.
Die Klinge des Springmessers war gleichsam von allein aus dem Heft hervorgeschnellt.
Am nächsten Tag konnte man in der Ostsee-Zeitung folgende Meldung lesen:
Gestern kam es im IC2178 zu einem tödlichen Zwischenfall. Ein junger Mann wurde schwerverletzt im Zug aufgefunden. Er hatte eine tiefe Stichwunde im Bauchraum, an der er noch in der Nacht im Krankenhaus verstarb. Die tatverdächtige junge Frau hatte die Notbremse gezogen und konnte entfliehen. Nach ihr wird bundesweit gefahndet.
V2: 5552 Z.