Von Ingo Pietsch

Der Zug auf der Lhasa-Bahn zuckelte im gemächlichen Tempo dahin.
Er war völlig überladen und es roch nicht sonderlich angenehm, da auch Haustiere aller Art mit transportiert wurden. Wer keinen Sitzplatz gefunden hatte, lehnte sich gegen die anderen Passagiere oder kauerte zwischen Taschen und Körben auf dem Boden.
Kinder schrien und Schafe blökten.
An einem der offenen Fenster hockte eine Gestalt mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen.
Rebekka Schulz hatte schon am Anfang ihrer Reise nach Tibet ihre Kunstfaser-Hightech-Kleidung gegen eine gefütterte Lederjacke und bunte Sherpa-Mütze getauscht. Jetzt fiel sie unter den Einheimischen kaum auf, obwohl ihr heller Hautteint natürlich sofort ins Auge sprang. Ihre schulterlangen rötlichen Haare hatte sie gänzlich unter der warmen Mütze versteckt und um ihren Mund einen Wollschal gewickelt.
Sie saß jetzt schon seit etlichen Stunden im Zug und ließ die letzten Tage vor ihrem geistigen Auge Revue passieren.
Trotz der Enge versuchten sich Leute in ein anderes Abteil zu quetschten, was immer wieder zum Unmut der anderen Fahrgäste führte, die sich auch kaum bewegen konnten. Hühner flatterten aufgeregt umher und ließen vor Schreck schon mal ein Ei fallen. Ein Hund schnappte nach ihnen, hatte aber keinen Erfolg.
Mit jedem Halt wurde der Zug voller, als kannten die Menschen kein Aussteigen.
Wahrscheinlich wollten die meisten zum nächstgelegen Markt oder in eine größere Stadt.
Rebekka hatte keine Ahnung, wo sie sich genau befand. Irgendwo zwischen Tibet, Nepal und China.
Ihr Handy  war verloren gegangen und sie hatte Angst irgendwo zu rasten, weil sie fürchtete, dass ihre Verfolger sie einholten.
In der nächsten Stadt würde sie eine Botschaft aufsuchen und um Hilfe bitten, aber bis dahin war sie auf sich allein gestellt. Bei dem Gedanken kamen ihr die Tränen, die über ihr schmutziges Gesicht liefen.
Ihr Partner, Christian Laubner, war sonst wo und sie konnte nicht nach ihm suchen.
Vor gut einer Woche waren sie in ins tibetanische Hochland aufgebrochen, um das legendäre Shangri-La zu finden.
Christian war Experte für Reliquien und Artefakte und sie Sprachwissenschaftlern. Sie hatte die  unglaubliche  Fähigkeit, schon nach wenigen Minuten eine Sprache zu erlernen und auch zu lesen.
Ihr Auftrag hatte sie bis zu einem völlig entlegenen Felsmassiv gebracht. Mittels zweier Schlüssel, einer Sonnen- und einer Mondscheibe, hatten sie das Tor zur Stadt öffnen können.
Leider waren sie nicht alleine auf der Spur der geheimen Stadt gewesen und ihre Verfolger hatten sie gerade eingeholt, als der Zugang sich öffnete. Es hatte einen wilden Schusswechsel gegeben und das Tor sich währenddessen geschlossen. Nur Christian war hindurchgeschlüpft, Rebekka mit den Scheiben zurück geblieben und nur mit Mühe und Not mit ihrem Transportschlitten bergabwärts entkommen.
Sie fühlte unter ihrem Anorak die beiden Scheiben, ohne die man nicht nach Shangri-La kommen konnte, soweit sie wusste. Vielleicht gab es noch andere Zugänge.
Hinter diesen Scheiben waren ihre Verfolger her und sie musste sie um jeden Preis schützen.
Rebekka starrte auf der gegenüberliegenden Seite zum Fenster hinaus, auf die vereiste Bergkette.
Auch hier hatte der Klimawandel nicht haltgemacht und es lag nicht annähernd mehr so viel Schnee, wie man es möglicherweise erwartet hätte. Trotzdem konnten die Temperaturen jeden unerfahrenen Reisenden das Leben kosten.
Aus den Augenwinkeln erkannte sie unter den Einheimischen eine Person, die sich ihr näherte.
Sie kauerte sich weiter zusammen, aber das würde ihr nicht viel nützen.
Der Mann sah sich suchend um. Nicht mehr lange und er würde sie entdecken.
Sie lauschte dem Stimmengewirr, aber es waren nur alltägliche Gespräche.
Rebekka schaute kurz auf und ihre Blicke trafen sich.
Langsam zog der Mann eine kleinkalibrige Pistole aus seiner Jacke.
Niemand beachtete ihn.
Rebekka stand auf und drängelte sich zu einer Tür.
Dabei trat sie einem Hund, der kurz aufjaulte, auf den Schwanz.
Eine Frau schickte ihr einen wütenden Spruch nach.
Sie schaute nach draußen: Eine weite, öde Graslandschaft erwartete sie. Weit hinten ein paar Häuser.
Sie hatte jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder aus dem Zug springen, was auch bei der langsamen Fahrt gefährlich war, oder den Zug zu stoppen und so schnell wie möglich zu flüchten, damit niemand anderes verletzt wurde.
Der Mann näherte sich ihr zielstrebig und quetschte sich zwischen den Personen hindurch.
Rebekka erspähte die Notbremse und schob sich bis dorthin durch.
Ohne auf ihren Verfolger zu achten, zog sie an dem altersschwachen Metallgriff. Sie erwartete einen Ruck, aber nichts geschah.
Sie zog noch einmal und noch einmal. Vergeblich.
Rebekka ging die Möglichkeiten durch, die sie jetzt noch hatte, und wollte einfach die Tür aufreißen, die sich aber verzogen hatte und klemmte.
Der Mann war nicht mehr weit entfernt und richtete seine Pistole auf sie. Er wirkte wie die Sorte Mensch, die erst schoss und dann Fragen stellte.
Rebekka drückte noch einmal den Türgriff und ließ den Typen dabei nicht aus den Augen.
Ein Huhn flog dem Mann ins Gesicht und er wischte den Vogel einfach zur Seite.
Rebekka nutzte den Moment und tauchte unter.
Sie hatte als einzige Waffe ein Überlebensmesser dabei, mit dem sie die Tür aufzuhebeln versuchte. Es knackte, als die Tür sich löste.
Rebekka wurde hochgerissen.
„Her mit den Scheiben!“, hauchte der Typ ihr mit üblem Knoblauchatem entgegen.
Rebekka hob ihr Messer, doch der Mann schlug es einfach beiseite.
Inzwischen ratterte der Zug über eine Schlucht hinweg.
„Keine Mätzchen. Du weißt, was ich will.“ Der Mann drückte sie an die Wand und durchsuchte sie, was ihr unangenehm war. Sie trat dem Mann an die Beine.
Er zog seine Waffe und trotz der Überfüllung des Zuges, war plötzlich um sie herum ein leerer Halbkreis entstanden.
Frauen kreischten und eine Katze zog einen Buckel und fauchte.
Rebekka tastete um sich herum und hatte plötzlich einen angebissenen Apfel in der Hand, den sie nach dem Angreifer warf.
Der wehrte den Wurf mit dem Arm ab und der Apfel traf einen angeleinten Ziegenbock.
Der meckerte so laut, dass sich einige Leute die Ohren zuhielten.
„Jetzt ist Feierabend!“ Den Mann scherte nicht, was um ihn herum geschah, so fixiert war er auf Rebekka.
Die Ziege riss sich los, traf den Typen mit ihren Hörnern mit voller Wucht in sein Gesäß und beförderte ihn zur Tür hinaus, die unter dem Gewicht aufsprang.
Es gelang dem Verfolger sich noch irgendwie am Türgriff festzuhalten, ehe er mit schreckgeweiteten Augen in die Tiefe stürzte.
Der Fahrt- und Fallwind zerrte an Rebekkas Haaren und Kleidung.
Ein Schaffner, der in das Abteil gekommen war, zog in aller Seelenruhe die Tür wieder zu und es kehrte wieder Normalität ein, als wäre nichts geschehen.
Rebekka hatte ihr Messer eingesteckt und sich die Kapuze wieder tief ins Gesicht gezogen.
Am nächsten Bahnhof würde sie eine andere Möglichkeit finden müssen, in Sicherheit zu gelangen und Christian zu retten.

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