Von Beate Fischer
Die Frau scheint auf dem Friedhof zu wohnen. Immer wenn ich Tobias hier besuche, läuft sie mir über den Weg. Sie schleppt schwere Gießkannen, lockert die Erde mit einer Hacke oder pflanzt neue Blumen ein – jedes Mal an einem anderen Grab. Ob sie dem Gärtner hilft? Aber dafür ist sie doch schon viel zu alt. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln, während ich ein paar vertrocknete Blätter von den Buschwindröschen zupfe.
Sie geht gebückt, ihr Gesicht gleicht einem schrumpeligen Apfel, aber sie strahlt eine Kraft aus, um die ich sie beneide. Denn meine Energie ist verpufft. Mit dem Tank meines Wagens in die Luft geflogen.
Während meines Komas habe ich gekämpft. Jetzt frage ich mich wofür. Tobias hat es nicht geschafft. Er liegt seit fast einem halben Jahr in der feuchten Erde. Dabei hätte er es so viel mehr verdient als ich, weiterzuleben.
Seit ich wach bin vegetiere ich hinter Stacheldraht. Er ist mit mir verwachsen. Ich sehe, wie die anderen sich bemühen, zu mir durchzukommen, aber sie reißen sich die Haut auf und tun sich weh. Ich tue ihnen weh, kann ihnen nicht entgegen kommen.
Am Grabstein kauernd streichle ich Tobias‘ Foto. Sein Großvater hat es gemacht, als sie im letzten Jahr nach dem Abi gemeinsam nach Berlin gefahren sind. Mauerreste im Hintergrund, ein lachender Tobias davor. Mein Rücken schmerzt, die Narbe auf meiner Stirn juckt. Ich kralle die Fingernägel in meinen Unterarm bis Blutstropfen heraussickern. Äußere Wunden verheilen wenigstens.
Die Glocken der Friedhofskapelle beginnen zu läuten. Menschen strömen heraus, bilden einen Trauerzug und setzen sich in Bewegung. Sie kommen auf mich zu. Kenne ich diesen Mann mit der Sonnenbrille nicht sogar? Meine Haut kräuselt sich im kalten Wind. Ich will fort. Doch meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Hilflos schaue ich mich um.
Plötzlich steht die alte Frau neben mir und hebt mich in die Höhe, als wäre ich federleicht.
„Komm, wir setzen uns auf die Bank.“
Ich will mich sträuben, doch ein Blick aus ihren smaragdgrünen Augen lässt jeden Widerstand erlöschen.
„Trink das, es wird dir guttun“, weist sie mich an und reicht mir einen dampfenden Becher. „Kamille, Lindenblüten und Johanniskraut“, erklärt sie und dreht den Deckel der Thermoskanne zu. Dann fängt sie an zu summen. Ich kenne das Lied, aber der Text will mir nicht einfallen.
Die Trauergemeinde ist abgebogen und verschwindet hinter ein paar Bäumen. Ich atme auf. Der Tee wärmt meine Hände und meinen Magen. Vielleicht kann er auch meine Seele auftauen?
„Oh, dabei kann er zwar eine Nebenrolle spielen, aber die Hauptrolle musst du übernehmen.“
Verblüfft wende ich mich um. Weiß diese Frau, was ich denke?
„Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist, dass wir uns mal unterhalten. Du darfst mich übrigens Sophie nennen. Seit acht Wochen kommst du jetzt schon hierher und besuchst deinen Sohn, ohne dass ich bei dir irgendeinen Fortschritt bemerke. Außer, dass du mich entdeckt hast, aber dafür kannst du ja nichts.“ Sie lächelt mich an.
„Klar, acht Wochen sind keine Zeit für eine anständige Trauer, aber du trauerst auch nicht. Du suhlst dich geradezu in Selbstmitleid und Beschuldigungen.“
Ich fahre auf.
„Sie haben doch keine Ahnung. Haben Sie schon mal einen Sohn verloren? Durch Ihre eigene Schuld?“
„Ja“, antwortet sie ruhig und nimmt meine Hand. „Zumindest habe ich es nicht geschafft, ihn zu retten.“
„Es war im Hungerwinter gleich nach dem Krieg“, beginnt sie zu erzählen. „Mein Mann Georg war in den letzten Kriegstagen umgekommen und ich stand alleine mit vier Kindern da. Das Jüngste, mein Sohn Hannes, war noch keine zwei Jahre alt. Wir aßen Brot aus Eicheln und Sägemehl und tranken schmutziges Wasser. Mein Hannes wurde krank. Der Durchfall wollte nicht enden, er konnte nichts mehr bei sich behalten. Innerhalb von fünf Tagen war er tot. Wir begruben ein winziges, bleiches Kerlchen aus Haut und Knochen in der frostigen Erde.“
Sie seufzt und senkt den Kopf. Eine Träne rinnt ihr über die Wange.
„Doch es musste weitergehen. Ich hatte ja noch Gisela, Käthe und Horst. Gisela war schon fast erwachsen, aber Käthe hatte die Kinderlähmung erwischt, sie konnte kaum gehen. Und Horst war noch ein kleiner Junge. Zu viert schlugen wir uns die nächsten Monate durch. Du weißt schon: Kohlen klauen, betteln, in den Suppenküchen anstehen und natürlich schuften, was das Zeug hält. Ich schleppte Steine, pflegte verwundete Kriegsheimkehrer, nähte Hosen und Schürzen und schrubbte Fußböden. Ich hatte keine Zeit für Trauer und irgendwann ging es dann aufwärts. Allerdings nur mit der Wirtschaft und dem Wetter. Nicht mit mir. Ich brach zusammen und wollte nur noch schlafen. Nie mehr erwachen.“
Ich starre sie an und irgendwo in meinem Hinterkopf ploppt plötzlich ein Fragezeichen auf, das ich noch nicht greifen kann.
„Doch dann war da plötzlich eine Frau. Sie erschien mir wie ein Engel und war da, als ich sie am Notwendigsten brauchte. Gab mir zu essen und zu trinken, versorgte meine Kinder, machte mir kalte Wickel, wenn ich fieberte und nach meinem Sohn und meinem Mann rief. Zwei Wochen lang blieb sie an meiner Seite. Das hat mir Gisela später erzählt. Eines Morgens wachte ich auf und sie war weg. Auf meinem Nachttisch lag ein Zettelchen, auf dem nur stand: Von hier an schaffst du es alleine. Deine Trauer wird dich begleiten, aber du bist stark genug, um sie zu tragen und dennoch zufrieden weiterzuleben. Ich werde Georg und Hannes von dir grüßen. Leb wohl.“
Die Frau schaut mir tief in die Augen und mir wird warm ums Herz.
„Und genau das möchte ich auch dir sagen: Trauere um deinen Sohn, aber hadere nicht mit dem Schicksal. Du bist stark genug, um dennoch ein erfülltes Leben zu leben.“
Und wieder summt sie diese Melodie, die mich tief drinnen berührt und mich ganz ruhig werden lässt. Was macht diese Frau nur mit mir?
Ich spüre, dass ich den Schmerz nicht mehr alleine tragen muss. Als die Kirchturmuhr schlägt schrecke ich auf. Bin ich eingeschlafen? Habe ich das alles nur geträumt?
In meiner Hand knisterst ein kleines Stück Papier: Ich werde Tobias von dir grüßen, steht darauf.
Es beginnt bereits zu dämmern und außer mir scheint keine Menschenseele mehr hier zu sein. Die untergehende Sonne wird von glühenden Wolken bedeckt. Ich recke mich und erwarte, dass mich die pessimistischen Gefühle überfallen. Doch der Absturz bleibt aus. In mir keimt Zuversicht. Mein schlechtes Gewissen hat sich für den Augenblick zurückgezogen.
Noch einmal kniee ich vor Tobias‘ Grab.
„Es war nicht richtig, dass du sterben musstest, mein Sohn und ich werde mein ganzes Leben um dich trauern. Es wird immer wieder Zeiten geben, in denen ich um dich weine. Aber ab heute will ich auch wieder die schönen Seiten des Lebens sehen. Das wird mir nicht immer gelingen, doch jetzt weiß ich, dass es sich lohnt, durchzuhalten.“
In diesem Moment schiebt sich ein Sonnenstrahl durch ein Wolkenfenster und erleuchtet den Horizont. Mein ganz persönlicher Hoffnungsschimmer.
Ich rufe ein Taxi und schlendere an ein paar Gräbern vorbei, während ich warte. Sophie Becker steht auf einem Steinkreuz, gestorben 2001, mit 95 Jahren. Ein Name unter vielen. Doch dann lese ich weiter. Sie ruht hier zusammen mit Georg, Hannes und Käthe Becker. In mir macht es Klick.
Vielleicht ruht sie nicht immer, denke ich, vielleicht bringt sie manchmal verzweifelte Menschen zurück in die richtige Spur. Fange ich jetzt an zu spinnen? Egal. Sie war bei mir und nur das ist wichtig.
Als ich ins Taxi steige läuft das Radio. „Would you know my name, if I saw you in heaven?“, fragt mich Eric Clapton und ich erinnere mich an Sophies Lied.
Als die letzten Worte ertönen flüstere ich „Wir sehen uns später, Tobias“, und singe leise mit: „I must be strong and carry on, ‚cause I know I don’t belong here in heaven“.
Der Taxifahrer nickt und unsere Blicke treffen sich im Rückspiegel.
Version 2