Von Eva Fischer
Ich hatte gerade die Tagesschau zu Ende gesehen und wollte auf den Freitagskrimi umschalten, als es an der Haustür schellte. Wer mochte das sein? Ich erwartete niemanden. Seitdem ich als Witwe allein in meinem kleinen Reihenhaus wohnte, waren Besucher zu dieser Tageszeit eine Seltenheit. Meine Tochter kam schon mal vorbei. Aber sie kündigte sich vorher an und schaute meist vormittags vorbei, wenn Oliver in der Schule war.
Ächzend erhob ich mich von meinem Fernsehsessel und nahm den Stock aus dem Schirmständer im Flur, um einen etwaigen Bösewicht in die Flucht zu schlagen.
Vor mir stand ein Mann unbestimmten Alters. Wasser triefte von ihm herab, da es offensichtlich regnete. Er trug eine zebragestreifte Legging und ein kanariengelbes enges Oberteil.
„Entschuldigen Sie die Störung, liebe Frau, aber ich habe schrecklichen Hunger und leider kein Geld. Könnten Sie mir etwas zu essen geben?“
„Ist das der neueste Trick seine Mitbürger auszurauben?“, fragte ich mürrisch.
„Stehlen und töten sind mir nicht erlaubt“, sagte der Fremde und hob seine Hände hoch, um mir zu zeigen, dass er nichts besaß, keine Waffe, kein Portemonnaie, kein Handy.
„Und ist Ihnen lügen erlaubt?“, konnte ich mir nicht verkneifen, aber ich merkte schon, wie mein Misstrauen bröselte.
„Na, dann kommen Sie mal herein“, sagte ich und öffnete die Tür. Mit meinem Stock zeigte ich ihm den Weg zur Küche.
Ich holte Brot aus der Kiste, machte den Kühlschrank auf.
„Was darf es denn sein? Wurst oder Käse?“
„Ich sehe, Sie haben geräucherte Forellen. Ist es unhöflich, wenn ich Sie darum bitte?“
„Für einen Ausgehungerten sind Sie ganz schön anspruchsvoll“, entgegnete ich.
„Nur wenn es Ihnen keine Umstände macht“, sagte er galant.
Ich sah ihm zu, wie er das Brot mit Fisch oder besser den Fisch mit Brot herunterschlang.
„Noch eine Portion?“ bot ich ihm an.
Während er lustvoll weiteraß, betrachtete ich mir den Fremden genauer. Alles an ihm glänzte wie Brillantine. Das eng anliegende lange Haar, das ins Rötliche changierte, das gelbe schuppenartige Oberteil, das nahtlos in eine weiße Hose mit unregelmäßigen schwarzen Streifen überging. Er trug keine Schuhe, sondern Schwimmflossen, die angewachsen zu sein schienen. Seine Augen waren wasserblau und seine vollen Lippen hätten auch Frauen zur Zierde gereicht.
„Wo kommen Sie denn her? Von einer Schwimmparty?“, wollte ich wissen.
„Ich komme aus dem Atlantik“, sagte er und unterbrach kurz den Kauvorgang.
„Und Sie sind mal eben hierher geschwommen?“
„So in etwa. Über die Nordsee den Rhein enlang. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Mein Orientierungssinn funktioniert sonst eigentlich recht gut.“
Wie der Wal, der einmal hier für Schlagzeilen gesorgt hatte, dachte ich amüsiert.
„Und Sie leben dauerhaft im Atlantik?“
Er nickte.
„Wie kriegen Sie denn da Luft?“
Zu meiner Überraschung hob er sein Haupthaar und zeigte auf Einkerbungen, die an Kiemen von Fischen erinnerten.“
„Da suchen die Menschen nach Außerirdischen auf irgendwelchen Planeten und vergessen unter Wasser nachzusehen“, witzelte ich.
Er grinste mich an.
„Ja, bisher hatten wir wenig Kontakt zu den Menschen“, bestätigte er.
„Und haben Sie auch einen Namen?“
„Ich heiße Nauta 5013. Meine Vorfahren waren Seeleute, die 1417 auf einer Insel im Atlantik gestrandet sind. Sie mussten fischen und schwimmen lernen, um zu überleben. Und ich bin der fünftausenddreizehnte Nachfahre.“
„Nur wer sich anpasst, hat eine Überlebenschance, wie schon der alte Darwin herausfand“, murmelte ich.
„Entschuldigen Sie, ich kenne den Herrn nicht“, sagte Nauta 5013.
„Kein Wunder. Die gestrandeten Bücher dürften nicht mehr lesbar sein.“
Nach einer Weile des Grübelns fügte ich hinzu: „Gibt es denn bei Ihnen auch Weibchen, eh ich meine Frauen? Denn irgendwie müssen Sie sich ja fortgepflanzt haben?“
„Unser Urururvorfahre hatte verbotenerweise seine Verlobte an Bord, so dass wir durchaus auch ‚Weibchen’ haben, wie Sie es nennen.“
„Na ja, sehr fruchtbar seid ihr ja nicht, wenn ihr in 500 Jahren nur 5013 Exemplare hinbekommen habt.“
„Die Überlebensquote ist sehr bescheiden“, gab mein Gast zu, dessen Anwesenheit mir Spaß zu machen begann. Das hier war viel besser als so ein langweiliger Krimi.
„Kann ich noch etwas für Sie tun?“, fragte ich daher.
„Vielleicht ein Bad in der Badewanne?“
Seine Augen glänzten wie seine Schuppenhaut.
Ich ließ ihm Wasser in der Badewanne ein. Kaltes, versteht sich. Ich selbst hatte die Wanne schon seit Jahren nicht mehr benutzt, weil ich den Ausstieg nicht mehr schaffte. Nun kam sie wenigstens wieder zum Einsatz, freute ich mich.
„Soll ich etwas Salz hinzufügen?“, schlug ich vor.
„Gerne!“
Ich schüttete meine Salzvorräte hinein und Nauta 5013 glitt in voller Montur wie ein Aal in die Wanne. Ich zog mich dennoch diskret in mein Wohnzimmer zurück und bat ihn, den Wasserhahn zu schließen, wenn die Wanne voll ist.
Fieberhaft überlegte ich, wem ich meinen sensationellen Besucher mitteilen konnte.
Meiner Tochter? Sie würde mich für verrückt erklären und ins Heim stecken wollen.
Der Polizei? Sie würde den vermeintlichen Irren ebenfalls in eine Klapse einweisen.
Auch die Wissenschaftler ließen Nauta 5013 garantiert nicht mehr frei, sondern würden ihn in einem Aquarium einsperren, um seine Verhaltensweisen für die Nachwelt zu dokumentieren.
Da sah ich, wie Wasser ins Wohnzimmer floß. Ich eilte ins Badezimmer. Mein Gast schlief. Ich drehte den Wasserhahn zu und holte den Aufnehmer.
Irgendwann muss ich dann auch in meinem Fernsehsessel eingeschlafen sein.
Als ich wieder aufwachte, ging ich ins Badezimmer. Die Wanne war leer. Das heißt Nauta 5013 war weg, aber die mit Wasser gefüllte Wanne und die Pfützen auf dem Boden zeugten eindeutig davon, dass ich nicht geträumt hatte.
Von da an führten mich meine Spaziergänge immer wieder an den Rhein, in der Hoffnung, Nauta 5013 würde auftauchen. Welch wahnwitzige Idee! Bestenfalls hatte er den Weg zurück in den Atlantik zu seinen Lieben gefunden.
Laufen konnte ich nicht mehr so gut. Aber wie wäre es mit Schwimmen? Tja, das mit den Kiemen war sicher ein Problem. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie mir wuchsen?
Eines Tages, als ich wieder am Fluss verweilte, warf ich den Stock weg. Die Wellen streichelten meine Füsse. Die Gräser kitzelten meine Waden. Der Wind bauschte meinen Rock auf. Ich winkte den Schiffen zu, die das Wasser durchpflügten, und schritt weiter voran. Da spürte ich sie. Zwei starke Hände packten mich und geleiteten mich hinunter. Als mein Kopf unter Wasser war, riss ich die Augen auf. Ich sah eine andere Welt.