Von Denise Fiedler

Zahlen schwebten durch Sebastians Kopf. Sie verknoteten sich zu abstrakten Gebilden und drückten im Takt des Sekundenzeigers gegen die Schädeldecke. Noch zehn Minuten bis zur Mittagspause. Er ließ die Halswirbel knacken und streckte die Arme. Wenigstens diese eine Berechnung wollte er noch schaffen, es wartete genug Arbeit auf dem Tisch.

Der Geruch von gebratenem Reis drang durch die geschlossene Bürotür. Sebastian verzog das Gesicht, konnte Gabi nicht einmal etwas anderes bestellen? Das war das dritte Mal in Folge, dass sie sich etwas vom Chinesen liefern ließ.

Er stellte den Sperrbildschirm ein, griff nach der Geldbörse und der Wollmütze. Noch rechtzeitig sah er das Preisschild baumeln, schnell riss er es ab und warf es in den Müll.

Draußen atmete er tief ein. Vom Imbisswagen wehte ihm ein verführerischer Duft entgegen. Sebastian war froh, dass gerade ein Motor angeschmissen wurde, ehe einer der Passanten einen tollwütigen Hund hinter dem Magenknurren vermutete.

Kurz darauf saß er mit einem Fischbrötchen und einer Flasche Cola auf der Bank vor dem Bürokomplex.

Der Spätsommer verabschiedete sich bereits mit einer kühlen Brise und dem Geruch nach Regen, dennoch beobachtete Sebastian einige Wagemutige, die an ihren T-Shirts festhielten und mit verbissenem Blick vorübergingen.

Das Seltsame an einer Stadt war, dass man die Gesichter kannte, aber deren Besitzer einem fremd waren. Nie hatte er mit der jungen Frau gesprochen, die täglich in den Supermarkt ging. Wahrscheinlich erledigte sie die Einkäufe, bevor sie ihr Kind von der Schule abholte. Einmal war ein kleiner Junge bei ihr gewesen, mit rottriefender Nase.

Der Grauhaarige aus dem Reisebüro stand vor dem Eingang und rauchte die Mittagszigarette, als der alte Otto seinen Einkaufswagen vorbeischob. Ein klappriges Gestell aus der Zeit vor den Pfandschlössern, mit dem Logo eines vor Jahrzehnten geschlossenem Kaufhauses.

Otto ging täglich seine Runden, fischte das Leergut aus den Mülleimern und manchmal auch ein halbgegessenes Brötchen. So war es schon, als Sebastian noch klein war. Er erinnerte sich, wie seine Mutter ihn damals wegzog, als er mit Otto sprach. „Kein Umgang“, hatte sie gezischt.

Mittlerweile hatte der alte Mann die Bank erreicht. Er streckte den Rücken durch, dass es laut knackte, und setzte sich neben Sebastian.

„Na, Junge, wie geht es dir?“ Seine Stimme klang kräftig.

Sebastian lächelte. „Der PC hat mich noch nicht aufgefressen. Was hast du heute gemacht?“

„War in der Bibliothek.“

Irgendwie konnte er sich Otto zwischen den ganzen Büchern nicht vorstellen, aber er wusste, dass der Alte regelmäßig dorthin ging.

„Mia hat gestern ihre Mathearbeit wiederbekommen, eine Zwei plus.“

„Das ist gut, Zahlen sind wichtig, sie sind beständig.“

Sebastian nickte. „Ja, wir sind sehr stolz auf sie.“ Er griff in seine Jackentasche und zog eine kleine Dose hervor. „Hier, für das quietschende Rad.“

Otto nahm das Spray, ölte damit die Räder des Einkaufwagens, dann reichte er es zurück.

Sebastian winkte ab. „Nein, behalte es.“

„Unsinn, du kannst es sicher noch gebrauchen. Außerdem, wo sollte ich es denn hinpacken?“

Sebastians Blick fiel auf den Wagen, aber er verkniff sich eine Antwort. Er wusste, dass es sinnlos war mit Otto zu diskutieren, noch immer sah er das wütende Gesicht vor seinem inneren Auge, als er ihm etwas Geld zustecken wollte, also wanderte die Dose zurück in die Jackentasche.

„Sieh mal, die hab ich in meinem Schrank gefunden.“ Er hielt die Wollmütze hoch. „Jana, mochte sie nie an mir sehen. Weil ich sie immer gerne getragen habe, möchte ich sie nicht einfach wegschmeißen, mir wäre es lieber, wenn ich sie bei jemanden wüsste, der sie zu schätzen weiß.“

Für einen Moment schien der alte Mann nachzudenken, nickte dann aber. „Kann ich verstehen, sie sieht aus wie neu.“

„Ich muss los“, sagte Sebastian. „Bis morgen, Otto.“ Er stellte die leere Colaflasche auf den Mülleimer und winkte ein letztes Mal.

 

Vom Bürofenster aus sah Sebastian, wie die Weihnachtsbeleuchtung auf dem Platz vorbereitet wurde. Bald würden auch dort wieder kleine Holzhütten stehen, die den Duft von Zimtsternen und Bratäpfeln verströmten.

Er dachte an Otto, ob er einen Ort zum Schlafen hatte? Als er ihn später fragte, lachte der nur.

„Mir gehört die Welt, mach dir um mich keine Sorgen.“ Dann zeigte Otto auf die Tageszeitung, die Sebastian achtlos neben sich gelegt hatte. „Liest du die noch?“

Sebastian schüttelte den Kopf. „Nein, kannst sie haben.“

Er beobachtete, wie der alte Mann den Wirtschaftsteil studierte. In letzter Zeit waren seine Bewegungen langsamer geworden, auch das Flaschensammeln schien ihm nicht mehr so leicht zu fallen.

Auf einmal hielt Otto inne, er griff in seinen Wagen und zog einen kleinen Teddy hervor.

„Sieh mal“, sagte er. „Den hab ich auf dem Spielplatz gefunden. War eine Woche lang täglich da, aber niemand kam, um den kleinen Kerl zu suchen. Dachte, er gefällt der kleinen Mia.“

Sebastian nahm den Teddy. Jana wird er nicht gefallen, dachte er lächelnd, sie wird ihn mindestens dreimal waschen, aber Mia wird ihn lieben.

„Ich mag diese Zeit.“ Otto zeigte auf eine Sternschnuppe, die gerade an einer Laterne befestigt wurde. „Die ganzen Lichter, so wird auch die dunkle Jahreszeit beschaulicher.“

Sebastian schnaubte. „Ich denke da nur an Stress und genervte Kassierer.“

„Aber all das ist vergessen, wenn man in die Augen der Kinder schaut.“

Sebastian fühlte, wie sich sein Brustkorb zusammenzog. Wann hatte Otto das letzte Mal leuchtende Kinderaugen unter einem Weihnachtsbaum gesehen? Er schob den aufkeimenden Gedanken zur Seite, Jana würde es nicht zulassen und Otto wäre zu stolz, so einer Einladung nachzukommen.

„Macht Mia wieder bei den Sternensängern mit?“

„Ich denke schon.“

„Das ist gut. Letztes Mal hat sie die Zeichen auf eine Tafel gemalt und sie mir an den Wagen gehängt.“

Ja, er konnte stolz auf seine Tochter sein, sie hatte den alten Kauz genauso liebgewonnen wie er selbst.

 

Es war seltsam, um ihn herum erblühte das Leben. Die ersten Blumen hatten ihre Köpfe aus dem Boden gesteckt und an den Bäumen sprossen jungen Triebe. Dennoch fühlte er eine Leere, begleitet von dem drückenden Gefühl von Schuld.

Er hatte es aus der Zeitung erfahren – im Park aufgefunden – hieß es. Zu spät, der alte Otto schon beigesetzt, ein klägliches Grab mit einem Holzkreuz. Lediglich der Pastor und zwei Friedhofangestellte hatten ihm die letzte Ehre erwiesen.

Der Brief hatte ihn erstaunt. Nachlassgericht – alleiniger Erbe.

„Wofür braucht einer wie der ein Testament?“, fragte Jana. „Was will er dir vererben, seinen Einkaufswagen? Eher einen Haufen Schulden!“

„Ich weiß es nicht“, war die ehrliche Antwort.

Aber er wollte es nicht einfach ausschlagen, wollte sich informieren. Der absurde Gedanke, ein vererbter Einkaufswagen gäbe ihm die Berechtigung, einen Stein auf Ottos Grab zu setzen – zu sagen, wir standen uns nah.

Nun saß Sebastian in dem kleinen Bankbüro, die Sekunden zogen sich, während der Berater seine Unterlagen prüfte. Anscheinend hatte Otto viel vor seinem Tod bedacht, so hatte er die Bank bevollmächtigt, seinen Nachlass zu regeln.

Otto und ein Konto, diese Vorstellung war grotesk, wie die ganze Situation hier, auch der Mann vor ihm schien sichtlich nervös.

Sebastian rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Wissen Sie, ich bin etwas verwirrt, dass er überhaupt ein Konto bei Ihnen hatte. Meine Frau macht mir die Hölle heiß, weil die Stadt uns die Bestattungskosten auflegen will, solange ich das Erbe nicht ausgeschlagen habe.“

„Nun, ich denke, in dieser Hinsicht kann ich Sie beruhigen. Es gibt keine weiteren Gläubiger, die Ansprüche stellen. Herr Wagner hatte seine finanzielle Situation gut im Griff.“ Über seine Brillengläser hinweg sah er in Sebastians Augen. „Den Ansprüchen der Stadt werden Sie nachkommen müssen, aber auch das sollte in diesem Fall kein Problem sein.“

„Und von welchem Fall sprechen wir hier?“ Sebastian spürte, wie sein Mund trocken wurde.

„Herr Franke, ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, weil ich die Ehre hatte, Herrn Wagner persönlich kennenzulernen. Wir reden hier von einer erheblichen Summe. Herr Wagner hatte bei unserer Bank mehrere Aktienpakete und Wertpapiere deponiert. Um genau zu sein, handelt es sich um einen Gesamtbetrag von 1,6 Millionen Euro und dem Inhalt eines Schließfaches, dessen Schlüssel ich Ihnen gleich aushändigen werde.“

Sebastian wurde schwarz vor Augen, er krallte sich an die Stuhllehne, den Rest des Gespräches vernahm er nur noch wie in Trance. Er ließ sich zu den Schließfächern führen, nahm den Schlüssel entgegen, öffnete mit zittrigen Händen die Box. Mehrere Goldbarren lagen darin, Dokumente mit Ottos Namen, Steuerunterlagen und ein Brief.

 

Das Glück liegt nicht in den Reichtümern, die wir horten, sondern darin, wie wir täglich die Welt umarmen, und manchmal auch in einer Wollmütze.