Von Michaela Grüdl-Keil

Ich nahm dankend den Platz an, den der Herr mir anbot, und setzte mich mit einem angedeuteten Lächeln neben die ältere, eigentlich fast schon alte Dame. Kritisch blickte sie mich an und senkte den Blick dann wieder auf die große altmodische Handtasche, die auf ihren Knien lag. Auf den ersten Blick wirkte die Frau hier, in dem modernen Wartezimmer, seltsam fehl am Platze, auf den zweiten Blick ebenfalls. Sie wirkte auf mich eher abwartend als wartend. In einem Blumenkleid, das in ihrer Jugend sicher einmal modern gewesen war, saß sie da und summte zufrieden vor sich hin. Der Stuhl, auf dem sie saß, und ihre Füße wippten leicht auf und ab. Erstaunt bemerkte ich, dass sie auffällige rote Laufschuhe einer exklusiven Sportmarke trug.

 

            Auf der anderen Seite des Raumes stand ein kleiner Junge von seinem Stuhl auf, kam auf mich zu, wandte sich dann aber der alten Dame zu und sagte artig : „Danke schön.“ Er blickte sich um, und der durchaus attraktive Mann gegenüber, der wahrscheinlich sein Vater war, nickte ihm zu. „Ich habe einen Löffel geschenkt bekommen“, sagte das Kind zu mir und hielt stolz etwas vor mein Gesicht. Ein kleiner Löffel, ein Teelöffel genauer gesagt, mit einem eingravierten Delfin, noch verpackt in einer Tüte. „Schön“, antwortete ich und fragte mich gleichzeitig verwundert, wer einem Kind hier einen einzelnen Löffel schenken würde. „Nur für mich, nicht für meinen Bruder“, erzählte der Junge weiter. „Na, das wird wieder Ärger geben“, dachte ich mir, „wenn das Kind nachher stolz seinen Löffel zuhause präsentiert und der Bruder leer ausgeht.“ „Gibt es hier noch mehr Kinder?“,  hörte ich da neben mir die Stimme der alten Frau. Erstaunt sah ich, dass sie Handschuhe trug, mit denen sie nun ihre doch recht große Handtasche öffnete, um aus dem Mittelfach einen weiteren Löffel zu holen. Dieser Löffel war lang und schmal und wohl für Eis oder Joghurt gedacht und ebenso verpackt wie der erste. „Für deinen Bruder“, sagte sie und übergab ihn dem Jungen.

 

            Ich konnte meinen Blick nur schwer von der Tasche abwenden, in deren Mittelfach noch Löffel für mindestens acht weitere Brüder steckten, alle sorgfältig verpackt. Was mich jedoch viel mehr erstaunte und gleichzeitig faszinierte, war die Menge an 100€-Scheinen, die achtlos zusammengeknüllt in der Tasche lagen. Als die alte Frau meinen Blick bemerkte, schloss sie die Tasche rasch wieder und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Ich wandte mich wie ertappt ab und wunderte mich über die Leichtsinnigkeit alter Menschen im Umgang mit Geld. Bestimmt trägt sie ihre ganzen Ersparnisse in der Tasche mit sich herum, weil sie den Banken nicht traut, überlegte ich. Ob sie sich keine Gedanken über Trickbetrüger und Handtaschenräuber machte?

 

            In dem Moment wurde meine Aufmerksamkeit auf den Fernseher an der Wand gelenkt. Dort lief gerade wieder ein Bericht über einen weiteren Banküberfall in unserer Kleinstadt. Es war schon der dritte innerhalb eines Monats. Wieder einmal wurde der Bankangestellte mit einer alten Handgranate bedroht und wieder war der Täter zu Fuß geflüchtet. Die Strumpfmaske hatte er beim Verlassen der Bank weggeworfen und war in das gegenüberliegende Kaufhaus geflüchtet. Da es dort wegen eines fehlerhaften Feueralarms zu einem kurzen panikartigen Tumult kam, in den leider auch ich geraten war, war eine Verfolgung nicht möglich. Dem Täter gelang es so, zu entkommen. Bisher konnte die Polizei noch keine  Erklärung für das ungewöhnliche Vorgehen des Räubers finden. Auch nicht dafür, dass das erbeutete Geld stets ein paar Tage später fast vollständig an die beraubten Banken zurückgeschickt wurde. Auch die Bedeutung des beigelegten Löffels blieb im Dunkeln.

 

            Irgendetwas an den Ausführungen kam mir vage bekannt vor, doch ich konnte den Gedanken nicht fassen. „Das Geld ist nirgendwo sicher“, bemerkte die alte Dame neben mir und umklammerte ihre Handtasche fest. Also lag ich wohl richtig mit meiner Vermutung. Fast glaubte ich, sie lächeln zu sehen, aber sicher hatte ich mich da getäuscht. Wahrscheinlich war es nur ein nervöses Zucken gewesen, aus Angst um ihr Geld. Irritiert konzentrierte ich mich wieder auf die Nachrichten. Was von dem Gehörten glaubte ich nur wiederzuerkennen ? Die Stimme des Jungen riss mich aus meinen Gedanken. „Papa, die Löffelfrau trägt die gleichen Schuhe wie …!“, rief er aufgeregt. Der Rest des Satzes ging in lautem Sirenengeheul eines ankommenden Polizeiwagens unter und Blaulicht flackerte durch die Fenster und über die Wand.

 

            Erschrocken zuckten wir beide zusammen, die alte Dame und ich. Blitzschnell, wie ich es ihr nie zugetraut hätte, öffnete die alte Frau ihre Handtasche, zog eine Dose Pfefferspray aus dem kleinen hinteren Fach, versprühte es im Raum und rannte los. Sie sprintete  förmlich aus dem Zimmer. Schon fast aus der Tür, drehte sie sich kurz um und rief uns lachend zu : „Schade, dass die Gesetzeshüter mich nun fast schon erwischt haben, aber Löffel sammeln als Hobby war mir auf die Dauer zu langweilig!“

 

Dann war sie weg und meine tränenden Augen sahen einen Haufen 100€-Scheine, die wie Konfetti vor mir auf den Boden regneten.