Von Sarina Stützer

„Au! Verdammt!“ Trotz Taschenlampe habe ich mir zum wiederholten Male den Fuß an einem Stein angestoßen. Ich fluche herzhaft und wackele in den Schuhen mit den Zehen, bis der Schmerz nachlässt. Es war eine saublöde Idee, an Halloween kurz vor Mitternacht auf den Schrock hochzulatschen, aber schließlich geht es um meine Ehre: Wettschulden sind Ehrenschulden. Beim Weitergehen verfluche ich, ebenfalls zum wiederholten Mal, meine Neugier, die mich in diese Situation gebracht hat.

Markus hatte mit mir gewettet, dass ich es nicht schaffen würde, ein unverschlossenes Holzkästchen, in dem nach seinen Worten etwas für mich Entlarvendes lag, eine Woche lang aufzubewahren, ohne hineinzusehen. Weibliche Neugier und so. Das wird mal ein easy gewonnener Kasten Bier, sagte ich mir und schlug ein. Falls ich verlöre, sollte ich in der Halloween-Nacht auf den Schrock hochwandern – nicht, dass das jemals passieren würde. Dachte ich.

Wer konnte denn ahnen, dass es Kameras gibt, die auslösen, sobald ein Gesicht vor die Linse kommt. Markus, der alte Pisser, ahnte es nicht nur, er hatte eine solche Kamera in die Holzkiste montiert.

Okay, dann also doch der Schrock an Halloween. Mich zu drücken, kam natürlich nicht infrage. Wie gesagt, Wettschulden sind Ehrenschulden, da bin ich altmodisch. Markus übrigens auch. Als besondere Nettigkeit hat er noch gefordert, dass Smartphonebenutzung nur im Notfall erlaubt ist und die Wetteinlösung zunichtemacht. Wird natürlich nach Rückkehr kontrolliert.

Die Luft ist dunkel, schwer und feucht und riecht nach Laub. Immerhin regnet es nicht. Meine Nasenspitze wird kalt. Ich ziehe den Reißverschluss meines Parkas höher und stapfe weiter. Immer dem steinigen Lichtkreis nach, den meine Taschenlampe vor mir auf den Weg wirft. Außerhalb des Lichtkreises raschelt und knackst es. Nicht dass ich Angst hätte, auf einem Berg in knapp 400 Metern Höhe mitten in der Eifel überfallen zu werden. Außer mir ist mit Sicherheit niemand sonst so bekloppt, um die Uhrzeit hier herumzulaufen.

Plötzlich meine ich Schritte hinter mir zu hören. Ein Adreanlin-Tsunami rollt durch meinen Körper. Jeder Muskel spannt sich an, zur Flucht bereit. Doch das kann eigentlich gar nicht sein, beruhige ich mich. Dann spricht jemand.

„Guten Abend!“

Die Taschenlampe fällt mir aus der Hand und kullert bergab.Das Scheißescheißescheiße, das mir durch den Kopf geht, steckt mir in der Kehle fest. Weglaufen geht auch nicht, meine Beine bewegen sich nicht. Ich stehe nur da und starre ins Dunkel. Jemand hebt die Taschenlampe auf und kommt damit auf mich zu. Freundlicherweise leuchtet er-sie-es mich nicht an und hält sie mir hin. Erst beim dritten Versuch schaffe ich es, sie zu greifen, und meine Hand zittert dabei so sehr, dass der Lichtkegel im Gebüsch einen Discokugeleffekt hervorruft.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschr– argh!“

Ich bin bei Weitem nicht so höflich wie er-sie-es und leuchte der Person direkt ins Gesicht. Geblendet schließt er – es ist ein Er – die Augen. Nachdem ich ihn mir angesehen und die Verkleidung – so was wie ein Dreispitz, langer Wollumhang, Schnallenschuhe – registriert habe, senke ich die Taschenlampe. Etwa einen halben Kopf größer als ich, dunkle Locken, schätzungsweise mein Alter, so Anfang dreißig. Das Gesicht kenne ich nicht.

„Sehr witzig!“, blaffe ich. „Richten Sie Markus aus, dass ich mich gehörig erschreckt habe. Das war doch der Sinn der Sache, oder?“

Schweigen. Dann ein Räuspern. „Markus?“

„Natürlich! Der hat Sie doch geschickt. Okay, Scherz gelungen. Ich gehe jetzt weiter, ich hab was zu erledigen.“

Ich richte die Taschenlampe wieder auf den Weg und setze mich in Bewegung. Halb befürchte ich, dass er mich von hinten anfällt oder mir was über den Schädel zieht, halb versichere ich mir, dass niemand sich am 31. Oktober am Schrock auf die Lauer legt, um Leute anzufallen. Ich mein, der wäre mumifiziert, bevor zufällig jemand vorbeikäme. Also kann er nur auf Bestellung von Markus hier sein. Völlig klar.

Von hinten nähern sich schnelle Schritte. Ich schlucke trocken und umklammere die Taschenlampe, um damit gegebenenfalls hart zuschlagen zu können. Aber das ist nicht nötig, er schließt nur auf und geht dann neben mir her.

„Entschuldigung“, sagt er, „wer ist Markus?“

Ich verdrehe die Augen. „Der Gag hat funktioniert, aber jetzt ist dann langsam auch mal gut.“

„Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Jakob Frangenheim.“

„Ich bin Meike; Leute, die mich nicht zu Tode erschrecken wollen, nennen mich Mick. Schickes Kostüm übrigens.“

Er antwortet nicht.

„Okay, tun wir mal so, als habe nicht Markus Sie hergeschickt. Was machen Sie dann hier um diese Uhrzeit?“

„Ich habe mich verlaufen. Ich bin auf dem Weg nach Mayschoß.“

„Klar, mitten in der Nacht.“ Ich könnte pausenlos die Augen verdrehen, aber dann würde ich mir nur wieder den Fuß stoßen.

„Natürlich wollte ich schon längst angekommen sein. Freiwillig tue ich mir das hier bestimmt nicht an.“ Jetzt nehme ich auch in seiner Stimme einen Anflug von Ungeduld wahr. „Und was ist mit Ihnen?“, fügt er dann hinzu.

„Ich hab ‘ne Wette verloren“, brumme ich in Gedenken an Markus‘ Hinterhältigkeit missgestimmt.

Schweigend gehen wir weiter. In der Ferne ist gelegentlich das hustende Bellen eines Fuchses zu hören. Als wir die Schutzhütte auf dem Gipfel erreichen, bin ich erleichtert. Jetzt noch die Flasche Sekt am vereinbarten Ort deponieren, die beweisen soll, dass ich wirklich oben war, und dann auf dem schnellsten Weg nach Hause. Aber zuerst eine Minute ausruhen. Ich lasse mich auf eine der Bänke in der Schutzhütte fallen und strecke die Beine aus. Es riecht nach moderndem Holz und Urin. Jakob setzt sich mir gegenüber. Ich klemme die Taschenlampe so zwischen die Balken, dass der Unterstand erleuchtet ist und ziehe die Flasche aus dem Rucksack. Während ich das das Etikett betrachte, auf dem wir alle unterschrieben haben, kommt mir die Idee für eine kleine Rache an Markus.

„Haben Sie Lust auf einen Sekt?“ Wenn die Clique morgen hier hochkommt, um den Beweissekt zu trinken, werden sie schön blöd schauen, wenn sie nur die leere Flasche finden. Geschieht ihnen recht.

Jakob lächelt. „Warum nicht? Ich laufe schon so lange sinnlos durch die Gegend – etwas Belebendes wird mir guttun.“

Der Plastikkorken knallt mit einem trockenen „Pock“ an die Decke, wir reichen die Flasche hin und her und versuchen, beim Trinken nicht zu viel Flüssigkeit herausblubbern zu lassen. Ich erzähle von der Wette, von dem Holzkästchen und Markus‘ Fiesigkeit, er davon, dass er auf dem Weg nach Mayschoß ist, um dort ein Schwein zu kaufen, das für Weihnachten geschlachtet werden soll. Meine Bereitschaft, seine Worte infrage zu stellen, sinkt proportional zur Flüssigkeitsmenge in der Flasche. Schließlich bringe ich die leere Flasche ins verabredete Versteck und wir machen uns kichernd Arm in Arm auf den Rückweg. Nicht dass ich betrunken bin, es braucht mehr als eine halbe Flasche Sekt, um ein echtes Eifelermädchen umzuhauen. Aber etwas leichter und lustiger nehme ich die Situation jetzt schon. Jakob anscheinend auch, zumindest haben wir jede Menge Grund zu kichern. Zwischendurch rülpsen wir die Kohlensäure heraus und versuchen, ein Echo zu erzeugen, was uns überaus lustig vorkommt.

Je weiter wir runterkommen, desto ruhiger werden wir. Langsam lässt die Wirkung des Alkohols nach und ich werde müde. Es muss weit nach Mitternacht sein. An einer Weggabelung bleibt Jakob stehen. „Hier kenne ich mich wieder aus. Ich muss hier entlang“, sagt er und weist in Richtung Altenahr.

„Mein Auto steht an der Ahrtalschule, ich kann dich fahren“, sage ich.

Er schüttelt den Kopf. „Schon in Ordnung. Ich werde heute schon noch irgendwo ankommen. Und falls nicht – es ist nicht das erste Mal, dass ich im Freien übernachte.“

Ich zucke die Schultern. Dass muss er selbst wissen, er ist ja erwachsen. Ich jedenfalls will jetzt auf dem schnellsten Weg nach Hause.

Wir umarmen uns zum Abschied. Sein feuchter Wollumhang riecht ein bisschen wie nasser Hund.

Mir fällt etwas ein. „Hey, warte mal!“, rufe ich, als er bereits ein paar Schritte weg ist. „Wie wäre es, wenn wir uns mal ohne den ganzen Halloween-Firlefanz auf ein Bier treffen? Gibst du mir deine Telefonnummer?“

Er schaut überrascht und sagt dann: „02641 5311.“ Er winkt, dreht sich um und verschwindet im Dunkel.

Befriedigt nehme ich das letzte Stück Weg in Angriff. Ein Geist oder Wiedergänger oder so was kann er schon mal nicht sein, dann hätte er nämlich keine Telefonnummer. Und keinen Wollumhang mit Odeur à la Lumpi nach Dauerregen. Beizeiten werde ich aus Markus und Jakob schon noch ein Geständnis herauskriegen, so viel steht fest.

 

Markus schwört bis heute Stein und Bein, dass er niemanden hinter mir hergeschickt hat. Selbst erhebliche Mengen Alkohol haben ihn von dieser Aussage nicht abgebracht, dabei ist er einer der Typen, die alles verraten, wenn sie nur besoffen genug sind. Die Telefonnummer, die Jakob mir gegeben hat, gehört zum Museum Römervilla in Ahrweiler. Die kennen dort natürlich keinen Jakob Frangenheim.

Das alles ist ganz schön schräg. Okay, irgendjemand hat sich auf meine Kosten einen Scherz erlaubt und lacht sich jetzt ins Fäustchen. Schlimm genug. Das Allerschlimmste aber ist, dass ich wahrscheinlich niemals erfahren werde, wer Jakob ist und warum er wirklich an Halloween auf dem Schrock herumlief. Und das bringt mich schier um.

 

Version 2