Von Agnes Decker  

Der Vorfall ereignete sich im frühen Herbst. Ich wollte Verwandte an der Donau besuchen und, da es von hier aus eine halbe Tagesreise ist, schon früh aufbrechen. Der Sonntag ist für mich der ideale Zeitpunkt für ein solches Vorhaben. Die Autobahnen leer, kein Berufsverkehr, keine LKWs. Aber, wie häufig, wenn ich etwas vorhatte, klingelte das Telefon genau in dem Moment, in dem ich das Haus  verlassen wollte. Der Abfluss im Haus meiner Mutter war verstopft. Ein Notdienst ist teuer und so fühlte ich mich verpflichtet, ihr zur Hilfe zu eilen. Als ich endlich ins Auto stieg, war es Mittag. 

Auf der Autobahn kam ich gut voran. Das Radio spielte Oldies und ich sang leise mit. Das mag sich so anhören, als wäre ich im Rentenalter. Weit gefehlt. Aber ich hätte mich in den 60ern sicherlich wohl gefühlt. Etwa dreißig Kilometer vor der Ausfahrt sah ich vor mir die Warnblinklichter der  vorausfahrenden Autos und dachte, na bitte, ging ja lange gut.

Das muss ich erklären. Ich bin es nicht gewohnt, dass etwas ohne Komplikationen verläuft. Mein gesamtes bisheriges Leben besteht aus Umwegen. Das betrifft mein Privat- und Berufsleben genauso wie die Mobilität. Es gilt für Auto- oder Zugfahrten, und für kurze Strecken genauso wie für Reisen, auch Wanderungen, selbst Spaziergänge sind davon betroffen. Hier sind es Staus oder Oberleitungsschäden, dort ein querliegender Baum oder eine fehlende Markierung. Ganz ehrlich, es macht mir nichts mehr aus. Ich kenne es nicht anders und bin gewappnet. Nie bin ich ohne Verpflegung unterwegs. Nicht fehlen dürfen Zahnbürste, Sonnenbrille, Regenschutz, Taschenlampe und Taschentücher, sowie die Notfallmedikation bei Wespenstichen und Migräne. Des Weiteren gehören eine größere Summe Bargeld, Personalausweis, EC-Karte und Impfpass zur Grundausstattung. 

Ist eine längere Autofahrt geplant, informiere ich mich zuvor über Baustellen, Schulferien oder Feiertage, fülle Tank  und Reservekanister bis zum Rand und überprüfe, ob Wolldecke, Kissen und Autoatlas an ihrem Platz sind. Natürlich besitze ich ein Navi. Aber das reicht mir nicht mehr. 

Meine Freunde nennen es zwanghaft und machen sich gerne darüber lustig, bevorzugt, wenn das eine oder andere Glas Wein getrunken wurde. Sollen sie sich amüsieren. Mir ist Sicherheit wichtiger als das dumme Gerede. 

Als sich der Stau endlich auflöste, wurde es dämmrig und ein heftiger Regen setzte ein. Ich rief die Verwandten an, um mitzuteilen, dass ich gleich das Hotel aufsuchen und mich am nächsten Vormittag melden würde. Froh, der Autobahn entkommen zu sein, bog ich in die Landstraße ein. Ich musste mich  konzentrieren, da die Fahrbahn durch den immer heftiger werdenden Regen sowie die zunehmende Dunkelheit schlecht zu erkennen war. Die Straße verlief immer parallel zur Donau und so war es eigentlich unmöglich, mich zu verfahren. Aber, wie gesagt, ich hatte schon einiges erlebt und zur Sicherheit das Navi eingeschaltet.

Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Eine rot-weiße Barriere versperrte den Weg.  Das Umleitungsschild zeigte auf ein enges, von Bäumen umsäumtes Sträßchen. Aha, dachte ich und na also. Ich habe es ja schon erklärt, Umwege sind für mich eher die Regel als die Ausnahme. 

Nachdem mein Navi es aufgegeben hatte, mich zum Wenden zu überreden, führte es mich auf engen, holprigen Wegen bergauf und bergab, durch Wälder, im Tiefschlaf liegende Dörfer und endlose Felder, bis ich genau an der Straßensperre ankam, von der aus ich eine gute Stunde zuvor losgefahren war. Ok, dachte ich verärgert, soviel zur modernen Technik und stieg aus, um den Autoatlas aus dem Kofferraum zu holen. Leider war er weder dort, noch auf der Rückbank, noch in irgendeiner der Seiten- oder Rücksitztaschen zu finden. Auf dem Küchentisch, verdammt, erinnerte ich mich, das Telefonat mit meiner Mutter. Frustriert stieg ich wieder ein, löschte das Licht, um die Batterie zu entlasten, und schaltete die Warnblinkleuchte ein. Vielleicht kam ja jemand vorbei, den ich nach dem Weg fragen konnte. Ich holte Thermoskanne und Butterbrotdose hinter dem Rücksitz hervor, aß genüsslich zwei belegte Brote und trank zwei Tassen Kaffee. 

Da bisher niemand vorbeigefahren war,  beschloss ich, mich auf den Weg zu machen  und an den Umleitungsschildern zu orientieren. Ich bog also erneut in die schmale Straße ein, die in engen Kurven steil bergauf führte. An der Kreuzung zweigte ich nach links ab, entgegen der zuvor eingeschlagenen Richtung. Der Weg führte über eine Hochebene, zwischen Wiesen hindurch, auf denen ich schemenhaft eine Herde Rinder erkennen konnte. Es war eine mond- und sternenlose Nacht, der Himmel von Wolken verhängt, aus denen es immer wieder heftig regnete. Bisher hatte ich kein einziges Umleitungsschild gesehen. 

Endlich tauchte ein Ortsschild aus dem Dunkel auf. Rettung naht, dachte ich, als ich den großen Platz und den erleuchteten Gasthof erblickte. Aus der Gaststube dröhnte volkstümliche Musik und ein Schwall heißer Luft nahm mir den Atem.  Verschwitzte, vom Alkohol gerötete Gesichter starrten mich an. Mit meiner grauen Jogginghose, dem pinkfarbenen Kapuzenpulli und den auf dem Kopf zu einem Knödel zusammengerafften Haaren wirkte ich vermutlich wie ein Fremdkörper zwischen all den Trachten.

„Mannsbilder halt“, sagte die junge Bedienung, die meinen Blick auffing, mit einem Lächeln. Was gab es da zu lachen? Das war doch die pure Gier, die mir hier entgegenschlug. Was starrt ihr denn so? hätte ich am liebsten laut geschrien. Plötzlich trat einer der Trachtler heran und sprach über meine Schulter hinweg in einer unverständlichen Sprache mit der Kellnerin. Sein von Alkohol geschwängerter Atem hüllte mich ein und ich spürte seinen Körper dicht an meinem. Angewidert rettete ich mich an die Theke.

„Er fragt, wer Sie sind“, übersetzte die Bedienung und lachte erneut. Eine ältere Frau, die auf der anderen Seite der Theke Bierkrug um Bierkrug füllte, schaute mich freundlich an. Als ich mein Anliegen vortrug, wischte sie sich die Hände an der Schürze ab, nahm einen Bierdeckel, schrieb etwas darauf und reichte ihn mir wortlos. Ich erkannte das Wirtshaus sowie den Weg, den ich von dort aus einschlagen sollte. „Vielen Dank“, rief ich ihr zu und folgte der jungen Frau, die mich zu einem Nebenausgang geleitete. 

Erleichtert atmete ich die kühle Nachtluft ein und begab mich zügig zu meinem Auto. Ich war gerade eingestiegen und dabei, einen geeigneten Radiosender zu finden, als ich neben mir eine Bewegung wahrnahm. Ein verzerrtes Gesicht presste sich an die Fensterscheibe. Dahinter sah ich einen zweiten Mann, der mit den Hüften eindeutige Bewegungen machte. Was sind das für Menschen? dachte ich angewidert. 

 Instinktiv drehte ich den Schlüssel um und  trat aufs Gaspedal. Der Fiesta machte einen gewaltigen Satz nach vorne. In schneller Fahrt folgte ich der Straße bis zum Ortsausgang. Kurz hinter dem Ort sah ich im Rückspiegel Scheinwerfer aufblitzten. Da ich ein freundlicher Mensch bin,  lenkte ich meinen Wagen an den Straßenrand, um das nachfolgende Auto überholen zu lassen. Es kam schnell heran und befand sich bald auf gleicher Höhe mit meinem Fahrzeug. Ein Blick aus dem Fenster ließ mich erstarren. Im Wagen neben mir sah ich zwei Männer, die zu mir herüberwinkten. Ich beschleunigte und ließ sie hinter mir zurück. Die Kerle vom Parkplatz, schoss es mir durch den Kopf. Magensäure stieg nach oben, mir wurde übel und ich spürte, wie die Panikwelle anrollte und sich anschickte, mich zu überschwemmen.

 „Überlegen, analysieren, handeln“, murmelte ich vor mich hin, immer wieder, wie ein Mantra und spürte, wie die Welle sich widerwillig zurückzog. Das hilft fast immer. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und dachte konzentriert nach. Die Polizei, ich würde die Polizei anrufen. Ich schaltete das Handy ein. Kein Signal, selbst die Notruffunktion versagte – aber was hatte ich denn erwartet? 

 Der andere Wagen fuhr dicht auf und versuchte erneut, mich zu überholen. Ich lenkte mein Fahrzeug in die Straßenmitte und beschleunigte das Tempo. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ich würde das nächste Auto, das mir entgegenkam, zum Anhalten zwingen. Aber was, wenn da drin eine Frau saß, oder, noch schlimmer, wenn die Männer Freunde angerufen hatten, die mich von vorne stoppen sollten? Der Schweiß brannte heiß in meinen Augen.

Ich starrte in die Finsternis und sah zu meinem Entsetzen, dass der begrenzende Graben und dahinter liegende Weidenzaun endeten und sich jetzt links und rechts der Straße abgeerntete Felder erstreckten. Meine Verfolger hatten das wohl auch erkannt. Der Motor ihres Wagens brüllte auf und sie setzten erneut zum Überholen an. 

Die zweite Panikwelle traf mich hart. Ich brüllte die Worte so oft und laut, bis das Zittern aufhörte und mein Verstand wieder arbeitsfähig war. Während der Wagen an mir vorbei schoss, verlangsamte ich das Tempo und legte eine Vollbremsung hin. Mit schweißnasser Hand ging ich in den Rückwärtsgang, und sah, noch im Wendevorgang, wie der Wagen der beiden Männer sich auf der Straße querstellte. Ich dagegen trat aufs Gas und raste zurück, in die Richtung, aus der ich gekommen war.

Kurze Zeit später tauchten die Scheinwerfer wieder im Rückspiegel auf. Da aber fuhr ich schon auf den Markplatz zu. Ich bremste und brachte den Fiesta genau vor dem Eingang des Gasthofs zum Stehen. Dann betätigte ich die Hupe, anhaltend und immer weiter, bis in den umliegenden Häusern die Lichter angingen, Fenster geöffnet wurden und Menschen aus dem Gasthof strömten. 

Man erzählte mir, dass ein Wagen mit abgedeckten Nummernschildern weggefahren sei und schilderte mir detailliert, was alles hätte passieren können und wie froh ich sein könne, dass es nicht passiert wäre. Das war später, als ich wieder zu mir gekommen war.

Noch viel später, als ich wieder zu Hause war, habe ich als erstes den Autoatlas mit einer Schnur am Beifahrersitz befestigt. Ach ja, und das Pfefferspray im Handschuhfach gehört jetzt auch zur Grundausstattung. Man weiß ja nie.

 

Version 3