Von Monika Heil

»Nun haben sie ihn doch tatsächlich abgeschoben!!!«

»Wen?«

»Amir. Amir Hamudi, meinen besten Schüler im Deutschkurs, der so glücklich war, als er das Zimmer bei Sanders mieten durfte und endlich aus der Asylunterkunft raus war. Wie stolz war er, als er mir erzählte, er könne vielleicht im Herbst eine Ausbildung als Altenpfleger im Gertrudisheim beginnen.« 

»Und wieso dann jetzt das?« Fragend schaut Benjamin seine Schwester an. »Muss man das verstehen?«

»Meine Güte, was für ein Wechselbad der Gefühle für einen so jungen Menschen.« Vorwurfsvoll wedelt Miriam mit dem Tageblatt. Ihr Bruder nimmt es ihr aus der Hand.

»Hier steht, er hatte nur Duldungsstatus«, kommentiert er knapp. 

»Ja, das stimmt. Das hat mir die Sachbearbeiterin bei der Ausländerbehörde schon damals erklärt, als er meinem Deutschkurs zugeteilt wurde.«

Benjamin liest weiter. »Bei Nacht und Nebel. Wie einen Verbrecher haben ihn Polizei und Ausländerbehörde aus seiner Unterkunft rausgeholt und zum Flughafen gekarrt.« Konsterniert schüttelt er den Kopf. »In was für einem Land leben wir denn, dass ein Mensch, der durch seine Vergangenheit traumatisiert und aufgrund seiner Jugend noch unstabil ist, erleben muss, wie Stolz und Hoffnung in Wut und Enttäuschung umschlagen?«

 

Amir ist einer von zwanzig Männern unterschiedlichen Alters, die an jenem schwülen Sommertag zum Flughafen gefahren werden. Keiner von ihnen will diese Reise ins Ungewisse antreten. Doch die Abschiebungsmaschinerie läuft unerbittlich.

 

Ralf Weber gehört zu den Bundesbeamten mit den gelben Westen, auf denen „Backup-Team“ steht. Begleitperson. Neben ihm sitzt Olaf Mahoni, der Dolmetscher. Beide dürfen die Gefühle von Angst und Verzweiflung nicht an sich heranlassen, die die Luft zu kontaminieren scheinen. Ralf gelingt das in letzter Zeit immer weniger. Er weiß, was der Übersetzer gerade erklärt:

»Durchsuchung, warten, dann fährt der Bus zum Flieger.»

Das Durchsuchen, das hinter einer verschlossenen Tür passiert, ist für alle Beteiligten unangenehm. Aber ohne geht es nicht, weiß Ralf. Er hat inzwischen schon mehr als 1000 Menschen gegen ihren Willen in deren Heimatländer gebracht. Er und seine vierunddreißig Kollegen und Kolleginnen der Bundespolizei, die mitfliegen, damit alles reibungslos geht. Lange kann er das nicht mehr aushalten. Er denkt an Miriam, die nette Blondine, die er vor einem Monat in der Disco kennengelernt hat. Sie haben sich bisher zweimal getroffen. Er muss ihr erzählen, was er beruflich macht. Er kann ihren Fragen nicht länger ausweichen, wenn er will, dass sich ihre Bekanntschaft vertieft.

 

Es ist noch dunkel, als die Busse vor die Halle rollen. Eine kurze Fahrt zum Flieger. Dann wieder warten. Je zwei Polizisten haken einen Abzuschiebenden rechts und links unter. Einzeln werden die Männer die Flugzeugtreppe hochgeführt. Drinnen warten Flugbegleiter einer Chartergesellschaft. Sie tragen blaukarierte Kleider und Makeup. Alle lächeln professionell. Auch als ein Mann ins Flugzeug gebracht wird, dem die Polizisten mit einem schwarzen Gurt die Arme am Rumpf fixiert haben. Sie wissen inzwischen, „Body cuff“  nennen sich die Vorrichtungen, die sich locker oder straff ziehen lassen.

 

In der Maschine ist es ruhig. Niemand schreit, niemand spricht laut. Stummes Entsetzen in den Mienen der unfreiwilligen Passagiere, nicht gezeigtes Mitleid bei Ralf und einigen seiner Kollegen. Nachdem die Maschine abgehoben hat, wird es noch stiller. Für die Polizisten ist es ein relativ entspannter Flug. Fesseln und Spuckschutzhauben, die sie eingepackt haben, kommen nicht zum Einsatz. Auch für die Ausländerbehörden ist es ein gutes Ergebnis. Zwanzig Rückzuführende am Tag ist für sie eine Erfolgszahl. Manchmal kommt auf den letzten Metern ein Gerichtsbeschluss. Diesmal nicht.

 

Inzwischen fällt Tageslicht von draußen herein. Beklommene Blicke aus den Fenstern. Stumme Enttäuschung, Resignation. Unten Bergkämme, Hochtäler, rotbraun und kahl. Nach der Landung geht alles ganz schnell. Ralf Webers Kollegen von der Bundespolizei ziehen Schutzwesten an. Sie steigen aus, um das Flugzeug zu sichern. Quälend langsam gehen die Abgeschobenen die Flugzeugtreppe hinunter. Zwei Mitarbeiter der deutschen Botschaft, die ebenfalls unten stehen, schauen zu. Dann geht es per Bus zum Terminal. Jeder Neuankömmling muss seine Papiere vorzeigen. In einem Nebenraum gibt es Geld, rund 150 Euro von einer UN-Behörde. Das reicht, um einige Tage in einer billigen Unterkunft zu essen und zu schlafen. Die meisten Rückkehrer ahnen, was danach kommt und fürchten sich vor der Realität.

 

Ralf Weber weiß, dass er morgen wieder zu Hause sein wird. Und er weiß, dass er eine Entscheidung treffen muss.

 

»Hey, die haben tatsächlich meinen Leserbrief veröffentlicht, in dem ich meine Wut über die unmenschlichen Abschiebungen zum Ausdruck gebracht habe. Guck mal, hier.“ Miriam hält ihrem Bruder das Tageblatt hin. Er liest. Er nickt, er blättert weiter.

»Hast du den Artikel auf der Seite ´Politik` gelesen?», fragt er eine Viertelstunde später.

»Welchen?»

»Unser Gesundheitsminister war letzte Woche in verschiedenen Staaten unterwegs. Hat Menschen anwerben wollen, die in Deutschland zu Alten- oder Krankenpflegern ausgebildet werden können.«

»Wie pervers ist das denn? Amir hatte die Möglichkeit und durfte seine Chance nicht wahrnehmen und unser Minister reist rund um den Globus, um Menschen wie ihn anzuwerben. Ich fasse es nicht!«

 

Als Miriam ein gutes Jahr später in der Klinik eintrifft, ist ihre Fruchtblase schon geplatzt. Ralf scheint aufgeregter zu sein, als seine hochschwangere Frau. Während sie im Kreißsaal verschwindet, kommt ein Krankenpfleger auf ihn zu.

»Hallo, junger Mann. Kein Grund zur Aufregung. Ihre Frau ist hier in guten Händen. Alles wird gut. Es gibt Schlimmeres im Leben, als die Geburt eines neuen Erdenbürgers. Kommen Sie, ich bringe Sie in den Warteraum. Trinken Sie einen Kaffee. Beruhigen Sie sich.« Ralf, der etwa zehn Jahre älter sein dürfte, muss über die Anrede schmunzeln. Die beiden Männer schauen sich freundlich an. Ein plötzliches déjà-vu, erneuter Blickwechsel –  nachdenklich, forschend, schweigend. Amir hakt den werdenden Vater unter und schiebt ihn durch die Tür zum Aufenthaltsraum. Er muss schnell weiter. In einer Stunde beginnt der theoretische Unterricht für die bevorstehende Prüfung hier im Johanniter-Krankenhaus.

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