Von Gerhard Schönbeck

Der Himmel hatte sich entschieden, der Veranstaltung den seiner Ansicht nach passenden Rahmen zu verleihen. Es goss wie aus Kübeln. Der Saal des Krematoriums war dennoch verhältnismäßig gut besetzt; selbst wenn der Verstorbene nur wenige wirklich enge Freunde hatte, schien es vielen Menschen wichtig, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Auch war die Stadt nicht eben groß, was es begünstigte, dass manche Originale und Sonderlinge gut im Gedächtnis haften blieben. Als der Pfarrer an das Pult trat, wurde es im Zuhörerraum langsam still.

„Brüder und Schwestern, liebe Trauergemeinde. Wir sind heute zusammengekommen, um Abschied zu nehmen von einem allseits geschätzten und, wie ich glaube, für viele unter uns inspirierenden Menschen. Uns alle haben seine Beharrlichkeit und seine Fähigkeit, immer neue Wege zu finden, zutiefst beeindruckt.“

Zustimmendes Murmeln.

„Auch seine Gabe, Tiefschläge souverän wegzustecken.“

Große Teile der Gemeinde nickten beifällig.

„Ohne Zweifel notwendige Eigenschaften, um sein Talent, beinahe grundsätzlich die falschen Entscheidungen zu treffen und Sachen nicht zu Ende zu denken, zumindest ein wenig zu kompensieren.“

Zum Nicken gesellte sich bei einigen Anwesenden eine schmerzerfüllte Miene.

„Dabei begann die Geschichte bekanntermaßen durchaus hoffnungsvoll. Ein großes Ziel hatte er vor Augen: den besten Bienenstich der Stadt, erreichbar in maximal fünf Gehminuten von seiner Wohnung. Dafür hatte er jahrelang Pläne gewälzt, Kundenrezensionen verglichen und Wohnungsinserate studiert. Wie groß muss seine Freude gewesen sein, liebe Trauergemeinde, als eines Tages alle Voraussetzungen in einer Wohnung beinahe direkt neben einer uns allen bekannten Konditorei kulminierten – er hatte sich kaum eingerichtet und machte sich schon voller Ungeduld auf den Weg, der an einer Straßensperre eine Hausnummer vor der angestrebten Adresse sein vorläufiges Ende fand. Die Umleitung beschäftigte ihn eine halbe Stunde, doch schließlich hatte er es geschafft – innerlich strahlend stand er vor der Adresse und las das Schild:

Zuckerbäckerei Tortentraum, der beste Bienenstich der Stadt – leider nicht mehr in …hausen, aber besuchen Sie unser neues Geschäft und probieren Sie den besten Bienenstich nunmehr in …burg, nur hundertfünfzig Kilometer auf der A44! Wir freuen uns, Sie ab dem fünfundzwanzigsten Mai begrüßen zu dürfen!

Jeder andere hätte an dieser Stelle aufgegeben und sich mit dem zweitbesten Bienenstich der Stadt vier Straßen weiter begnügt, zumal dieser unter dem Gesichtspunkt der Logik ja nunmehr der beste Bienenstich der Stadt war, aber unser Mitbruder nicht. Der Beste sollte es sein, und dafür war er bereit zu kämpfen. Voller Tatendrang, wie wir ihn kannten, machte er sich auf, kehrte seiner Geburtsstadt den Rücken und zog in die andere Stadt, in eine Wohnung, von der aus er einen prachtvollen Panoramablick genoss und die Konditorei nur einhundert Meter Luftlinie entfernt lag. Leider übersah er, dass diese einhundert Meter Luftlinie nahezu zur Gänze aus einem Fluss bestanden und die nächste Brücke nur über einen Fußweg von  fünf Kilometern erreichbar war. Aber ließ er sich davon aus dem Konzept bringen? Nein! Mit der ihm eigenen feinen Sensorik für die Sorgen und Nöte seiner Mitmenschen fing er an, sich in der Kommunalpolitik zu engagieren, hielt flammende Reden im Gemeinderat und ruhte nicht, bis der Bau einer Brücke direkt vor seiner Wohnung beschlossen wurde. Wir erinnern uns alle an die packende Berichterstattung in der lokalen Tagespresse, die wir gebannt mitverfolgt haben.“

…burg. Wunderlicher Gemeinderat setzt Errichtung einer Brücke durch – damit er endlich Ruhe gibt, so der Vizebürgermeister,“ memorierte ein Trauergast eine Schlagzeile.

„Bedingt durch diverse Schmiergeldskandale und Baufirmeninsolvenzen konnte die Brücke erst nach achtzehn Jahren eröffnet werden, aber was lange währt, wird endlich gut, heißt es doch! Wie sich leider Gottes herausstellen sollte, war sein Ziel auch hier noch nicht erreicht. Als er nämlich auf dieser seiner Brücke den Fluss, das Hindernis zwischen ihm und seinem Traum, überquert hatte, die Konditorei betrat und einen Bienenstich bestellte, wurde ihm mitgeteilt, dass man Bienenstich aufgrund mangelnder Nachfrage aus dem Sortiment genommen hatte. Brüder und Schwestern, ich sehe unseren Verstorbenen vor mir, als er diese Nachricht erhält, sich mit aller Gewalt zusammennimmt, und ich sage euch ehrlich, ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte.“

Einige Besucher blickten gedankenverloren in die Ferne. „Ich wäre die paar Meter zurückgegangen und hätte mich in den Fluss geworfen,“ sprach einer aus, was alle dachten.

„Sei es wie es sei,“ fuhr der Pfarrer fort. „Ihm wird also mitgeteilt, dass es wieder nichts wird. Zugleich aber öffnet sich eine andere Tür in Form eines Flugblatts, in dem der beste Bienenstich der Stadt – jetzt exklusiv in …hausen angeboten wird. Noch dazu in der …gasse, unmittelbar unter seiner früheren Wohnung. Und was tut Gott? Just zu dieser Zeit steht diese wieder zur Verfügung. Hätte er nur in Erfahrung gebracht, dass der Vormieter aufgrund der mittlerweile desolaten Elektroleitungen ausgezogen war, wäre alles vielleicht anders gekommen. Was in diesem Zusammenhang eventuell auch Diskussionen betreffend die Unergründlichkeit des göttlichen Ratschlusses aufkommen lassen könnte, zugegeben. Aber wer, meine Brüder und Schwestern, würde in solch einer Situation nicht voller Begeisterung alle Vorsicht fahren lassen? Nein, wir wollen ihn nicht verurteilen. Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein, spricht der Herr.“

„Das hat mit Sünde nichts zu tun, das ist schlichtweg Dummheit,“ kommentierte eine Frau in der zweiten Reihe leise.

„Das ist keine Dummheit mehr, das ist schon Schicksal,“ versetzte ihre Sitznachbarin.

„Er bezieht also sein vertrautes Heim, begibt sich, sobald es ihm möglich ist, hinunter, betritt die Konditorei, erwirbt das so heißersehnte Stück höchster süßer Vollendung, zieht sich in seine Wohnung zurück, um es ungestört genießen zu können, setzt sich an den Küchentisch – und kommt dabei unglücklicherweise einem freiliegenden Stromkabel zu nahe.“

Kollektives Aufseufzen, als man sich den entsprechenden  Zeitungsartikel in Erinnerung rief.

„Wir wollen uns mit dem Gedanken trösten, dass er im Moment der höchsten Vorfreude von uns gegangen ist. Und beten, dass es ihm nun in himmlischen Gefilden nicht verwehrt sein möge, sich dieses von der örtlichen Konditorinnung gestifteten letzten Bienenstichs in alle Ewigkeit zu erfreuen.“

Feierlich legte der Pfarrer das Gebäckstück auf den Sarg, der langsam in den Verbrennungsofen fuhr. Nach einiger Zeit begaben sich die Trauergäste nach draußen. Es hatte zu  regnen aufgehört, die Sonne war dabei, durch die Wolken zu brechen.

„Und jetzt?“ fragte ein Trauergast in die Runde.

„Jetzt wird laut Todesanzeige zum Leichenschmaus geladen – in die neu eröffnete Filiale der Zuckerbäckerei Tortentraum direkt neben dem Friedhof. Man sagt, es gäbe hier den besten Bienenstich der Stadt,“ erläuterte ein anderer.

„Das wäre in seinem Sinne gewesen,“ kommentierte ein dritter. „Lasst uns gehen!“

Nachdenklich schritten die Leute in Richtung Friedhofsausgang.

 

Version 2