Von Ute Scharmann

Die Geschichte, die ich heute erzählen möchte, ereignete sich vor einiger Zeit in einem Königreich gleich hier nebenan.

 

Gandur ist ein Prinz wie ihn jede Prinzessin erträumt. Großgewachsen und stattlich mit blondem vollem Haar, einem sauber gestutzten Bart und tiefblauen Augen. Er ist sportlich und durchtrainiert, beim Bogenschießen trifft er über die weiteste Entfernung, im Sattel macht er eine gute Figur, bei der Jagd sind für ihn und seinen edlen Rappen kein Graben zu breit und keine Hecke zu hoch. Ein Klischeeprinz, könnte man denken.

Tatsächlich entsprach auch sein Benehmen den Klischeevorstellungen, die viele der Untertanen von jungen Prinzen haben. Längst hatte es sich herumgesprochen, dass kein Mädchen vor dem Prinzen sicher war, besonders kein schlafendes Mädchen. Sah er eine junge Frau, die im Schatten eines Baumes eingeschlafen war oder auf einer Gartenbank ruhend in Träume versunken war, schlich er sich an und küsste sie.

Zornige Väter erschienen vor dem König und klagten den Prinzen an, sich ihren Töchtern genähert zu haben, zeternde Wittweiber kamen zur Königin und zeigten an, ihr Sohn habe sich an ihren Töchtern vergangen.

„Vergangen? Wie meint Ihr das?“, fragte die Königin und die Weiblein wussten von nicht mehr als einem Kuss im Schlaf zu berichten. 

Der König und die Königin beratschlagten, was zu tun sei und überlegten, wie es zu dem merkwürdigen Verhalten des Prinzen hatte kommen können.

„Alles hat nach seinem 21. Geburtstag angefangen“, resümierte die Königin, „da hat er einen Brief von einer der königlich-amtlichen Weissagerinnen erhalten.“

„Frag ihn was in dem Brief stand.“

Da sie aber keine Antwort erhielt, machte die Königin sich am nächsten Jagdtag, als sie sicher war, dass der Sohn nicht vor dem Abend ins Schloss zurückkommen würde, auf die Suche nach dem Brief. Sie kramte in den Wäschetruhen, sah unter die Matratze und durchsuchte die Jackentaschen der prinzlichen Uniformen. Sie fand nichts.

„Such diese Weissagerin“, schlug der König vor. 

Aber auch die Suche nach der Weissagerin blieb vergeblich. Mehr als ein „unbekannt verzogen“ war nicht zu ermitteln. 

Indessen küsste der Prinz sich weiter von einem Mädchen zum anderen. Dabei wurde er zusehends freudloser und mürrisch. 

Seine Ausritte führten ihn zu immer ferneren Zielen, an manchen Abenden kehrte er nicht ins elterliche Schloss zurück. Wenn er am Nachmittag des nächsten Tages auf dem Schlosshof eintraf, sah er aus als hätte er die vergangene Nacht im Heu verbracht.

Eines Tages führte ihn seine Suche an einem kleinen Feldweg vorbei, den er schon häufig passiert hatte. Das Schild „Umleitung“ und ein rotweißes Absperrband hatten ihn bis zu jenem Tag aber davon abgehalten, den Feldweg zu benutzen.

„So will ich denn heute sehen, was sich am Ende dieses Weges verbirgt. Vielleicht kann ich dort finden, was ich suche“, sagte er sich und führte seinen Rappen um die Absperrung herum.

Der Weg wurde immer enger, die Brombeerhecken wucherten von beiden Seiten fast bis in die Mitte des Feldwegs und drohten seine seidene Kleidung zu zerreißen. 

„Also zurück. Ich werde es morgen nochmal versuchen und mich besser ausrüsten.“

Am anderen Tag legte der Prinz sein Kettenhemd an und tauschte die seidene Hose gegen die derben für die Jagd bestimmten Lederbeinkleider. In der königlichen Gärtnerei hatte er sich Heckenschere und Astschneider besorgt und vorsichtshalber seine Ausrüstung mit einem Spaten und einer Spitzhacke vervollständigt. Es war früher Morgen als er aufbrach, die Sonne erhob sich eben über den dunstigen Nebelschleiern, die auf den königlichen Weiden lagen. Irgendwo krähte ein Hahn.

Als er zum Feldweg kam, war fast alles wie am Vortag. Das Umleitungsschild stand dort, die Absperrung war da, aber heute fiel ihm noch ein Schild auf, dass er am Vortag nicht bemerkt hatte: „Betreten auf eigene Gefahr!“

Er band seinen Rappen an einen der Bäume in der Nähe und machte sich mit den Gartengeräten auf den Weg. Meter für Meter arbeitete er sich voran und schlug eine Schneise in das Gebüsch. Die Richtung wiesen ihm die Feldsteine, die früher wohl zur Wegmarkierung verlegt worden waren. Stunden später, die Sonne stand nun hoch am Himmel, endeten Brombeerhecken und Wegmarkierung vor einer dornigen Rosenhecke. Ein Weiterkommen schien unmöglich.

„Morgen“, dachte sich der Prinz, „morgen komme ich wieder!“

Zurück in der königlichen Gärtnerei traf er einen uralten Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er grüßte ihn freundlich und wollte eben die geliehenen Geräte zurückstellen als der Alte ihn ansprach.

„Seid Ihr Gärtner geworden, mein Prinz?“

„Gärtner? Nein? Ich habe einen Weg gefunden, der so zugewachsen ist, als sei er lange nicht mehr genutzt worden und ich war neugierig zu wissen, wohin er führt.“

„Und was habt ihr gefunden, mein Prinz?“

„Eine Dornenhecke, die undurchdringlich scheint und so dicht als wachse sie dort seit hundert Jahren.“

„So habt ihr die Dornenhecke vom verwunschenen Schloss gefunden?“

„Ein Schloss habe ich nicht gesehen, aber gut möglich, dass es hinter der Hecke verborgen ist. Verwunschen? Warum ist es verwunschen?“

„Setzt Euch zu mir, mein Prinz, und ich will Euch die Geschichte erzählen, die ich von meiner Großmutter gehört habe, die sie von ihrer Großmutter wusste.“

Und so geschah es.

Am nächsten Morgen brach der Prinz wieder in aller Frühe auf. Die Ausrüstung war die gleiche wie am Vortag aber diesmal war er nicht alleine. Der Alte hatte ihn am Geräteschuppen erwartet, gemeinsam mit seinen sieben Enkeln. Jeder der kräftigen jungen Männer hatte die gleiche Ausrüstung wie der Prinz und jeder ritt einen schwarzen Hengst, nur wenig kleiner als der Rappe des Prinzen. Der Alte wünschte den jungen Männern einen guten Tag und setzte sich auf die Bank vor dem Geräteschuppen.

Als der Prinz und die jungen Männer am Abend zurückkamen, waren sie erschöpft von einem langen Arbeitstag.

„Das Dickicht hat sich etwas gelichtet, aber von einem Schloss ist nichts zu sehen“, berichtete der Prinz.

„Geduld, mein Prinz, am siebten Tag werdet ihr es sehen.“

Und so geschah es.

Am Mittag des siebten Tages meldete der jüngste der Enkel, nur wenige Axtschläge entfernt sei ein Holztor hinter den Dornen zu erkennen. Das Dickicht aber wurde immer lichter und zuletzt war es eine Hecke aus bunten lieblichen Blüten, die von den jungen Männern sorgfältig zurückgeschnitten wurden. Als der Prinz zu dem Tor trat, sprang es sofort auf.

Hinter dem Tor empfing ihn die verwunschene Welt, die ihm der Alte beschrieben hatte. Alles war still, die Hofhunde schliefen, ein Küchenjunge, der aus dem Brunnen Wasser hatte holen sollen, war auf dem Weg zum Brunnen eingeschlafen. Die Hühner saßen schlafend im Sand und die Tauben schliefen auf den Dächern. Auf seinem Weg ins Schloss sah der Prinz Diener und Mägde, die schlafend auf dem Steinboden lagen und im Thronsaal lagen die Edelleute und schliefen auf feinen Kissen aus Samt. Der König und die Königin saßen in große Staatsrobe gekleidet auf dem Thron und schliefen. Zwei edle Jagdhunde lagen zu Füßen des Königs und eine Hand der Königin lag auf dem Kopf ihres Schoßhündchens als habe sie es eben vor dem Einschlafen gestreichelt.

„Die Prinzessin, wo mag die Prinzessin sein?“, murmelte der Prinz und sah sich fragend in dem großen Saale um.

Da trat der älteste der Enkel an den Prinzen heran und reichte ihm das goldene prinzliche Handy.

„Es ist Euch an der Blumenhecke aus der Tasche gefallen, mein Prinz. Ich fand es, da es klingelte. Der Großvater wünscht Euch zu sprechen.“

Der Prinz nahm das Handy und hörte eine Weile stumm zu. „Ja“, sagte er dann, „ich sehe die Rosentapete neben dem Kamin.“

Er ging zu der Wand, die ihm der Alte bezeichnet hatte und als er die Hand zum Klopfen hob, öffnete sich die Wand und legte einen Treppenaufgang frei. Der Prinz steckte sein Handy in die Jackentasche und stieg auf der Treppe nach oben. 

Als er die Tür der Kammer unter dem Dach des Turmes öffnete, war er für einen Moment geblendet. Auf goldenen und samtenen Kissen lag dort die schönste aller Prinzessinnen in tiefem Schlaf. Sie sah so lieblich aus, dass der Prinz sich kaum traute, näher an sie heranzutreten.

 

Das Ende der Geschichte kennt ihr.