Von Kornelia Wulf                                

Noch gefangen im Tiefschlaf zittern ihre Wimpern. Und ein Morgensonnenstrahl, der sich durch die Lücken der leicht geöffneten Jalousielamellen stiehlt, beleuchtet die milchweißen Lider. Wie hingegossen liegt er da. Ihr perfekter Körper. Beinahe eingewoben in  glänzendem Satin.

Bereits vor Stunden hatte Thorsten versucht über sie hinweg zu steigen, sich still aus dem Staub zu machen. Liv schluchzt immer so theatralisch, wenn er sich von ihr verabschiedet. Als währe die Trennung ewig und nicht nur eine  Woche lang. Doch während sein Knie schon die Bettkante streifte, spürte er ihre magischen Finger. Die den Haarflaum auf seinen Waden kraulten, den Pfad über die Innenseiten seiner Schenkel wanderten, um einen Moment in den Leisten  zu verschnaufen. Dann setzten sie an zu einem kräftigen Sprung. Landeten zielgenau top of the point. 

Thorsten dreht sich zur Seite. Unterdrückt den Impuls, noch einmal ihren Kopf an seinen Bauch zu pressen. Noch einmal ihren Atem zu spüren. Die weichen Strähnen, die in Spiralen an seinem Nabel klebten …

 

… als schwarze Beinchen

 

Hundert. Nein.Tausend, denkt Thorsten

 

… aus dem Speicher der Erinnerungen fliehen. 

 

Wie festgenagelt hängt sein Blick an den plumpen Körpern. Die sich in Zeitlupe winden. Zucken. Bis auch der letzte Lebenshauch entweicht. In Schwärmen flogen sie durch das gekippte Fenster, das die Küche von dem Kuhstall trennt. Versuchten den Eintopf zu erreichen, der auf dem Kohlenherd dampft.

„Glaub mir, Junge“,

Oma hängt eine neue Leimfalle auf, die sich wie eine Locke über der Suppe rollt. Wischt über die Tischfläche mit der Schürze, die noch eben die Fliegenklatsche blank gerieben hat. 

„das ist die humanere Lösung.“

 

*

 

Stunden später erreicht Thorsten das Bürogebäude im Frankfurter Westend. Als er den Aufzug verlässt, glaubt er Bäume ausreißen zu können. Und der Geist rattert hellwach, nach dem von Luftlöchern befreiten Flug und doppelten Espresso, den ihm die kleine Blonde kurz vor dem Abflug in Tegel serviert hat. Sein Blick streift das Schild neben der mattierten Eingangstür,

 

Schneider Immobilien&Investment 

Berlin .  Frankfurt

Inh. Thorsten Schneider

 

überprüft, ob er sich allein auf dem Flur befindet. Lässt die Augen noch einmal über Treppe und Etage gleiten, um dann scheu und verlegen die Buchstaben zu streicheln,

als ein seltsames Schaben seine Aufmerksamkeit auf das gläserne Türblatt lenkt. Das sich knirschend wölbt, zu einer Maske formt. Mit stämmiger Nase, die bohrt und sticht, bis sie sich – Aug in Aug sozusagen -, in seinen Atem drängt,

 

die Schweinekiefer mahlen ächzend. Kämpfen mit den pappigen Schnipseln, die Oma unter die Kartoffelschalen mischte. Und Eber Karl reagiert mit protestierendem Grunzen, als er die gedruckten Fünfen zu verdauen versucht, die Herr Müller in Thorstens Zeugnis kloppte.

 

der Omas Lippen folgen, die sich verächtlich kräuseln.

 

„Junge. Aus dir wird nie etwas werden.“

 

Thorsten widersteht dem Drang, die Faust durch die Scheibe zu treiben. Gecoacht von dem fähigsten Spezialisten der Stadt mittlerweile spielend sein Selbstmanagement beherrschend, streicht er mit defensiver Geste Hemdkragen und Gedanken glatt. 

Würziger Kaffeeduft strömt in seine Nase, als er den Besprechungsraum betritt. Bereits vorbereitet von Cora für das Meeting an diesem Morgen. „Die genialste Entscheidung ever“, denkt Thorsten, als er auf die Wölbung über dem Schlitz ihres Stiftrocks starrt. Auf graues Gewebe, das sich wie eine unnahbare Haut um ihren Hintern schmiegt und absolut businesstauglich zweifingerbreit über dem Knie endet. Sie beugt sich tief über den Tisch, um die letzten Softdrinks zu verteilen. Und während sich Saumkanten über Zonen spreizen, die Thorstens Herz zum Rasen bringen, blitzt die Erinnerung auf. An den Nachmittag, an dem er Cora zum ersten Mal traf. In einem dieser Laufhäuser im Bahnhofsviertel. Und an den eisigen Hauch, der aus ihren Poren sprühte, der die Funken seiner Haut in winzige Klümpchen einfror. Als er einen Extrabonus in Coras Hand drückte, tauchte er ab in ihren Augen. Erkannte die Kakteen, die hinter den Pupillen wuchsen. Glitzernd wie Münzen im Rotlichtschein. In diesem Moment wurde es Thorsten schlagartig klar, dass verborgenes Potential in Cora schlummert. Und auf seine Spürnase ist Verlass! Erst letzte Woche hatte sie wieder einen fetten Fisch an Land gezogen. Diesen spröden Schweizer. Wochenlang, monatelang hatte er gezaudert, in das Bauvorhaben an der Zeil zu investieren. Bis Cora ihn davon überzeugte. Mit ihren ganz speziellen Qualitäten.

 

*

 

Die Sonne hat sich bereits schläfrig auf die Dächer der Hochhäuser nieder gelegt, als Thorsten die Grenze der Großstadt passiert. Einen Moment noch vermisst er das wilde Gehupe, mit dem er seinen BMW durch die Rushhour lenkte. Das nun wie ein müder Hauch durch die geöffnete Seitenscheibe dringt und sich mit dem Johlen der Kinder mischt, die auf dem Spielplatz am Waldrand herumtollen.

 

Der Wagen holpert über Kopfsteinpflaster. Lässt die Gässchen des Ortes hinter sich, in dem Thorsten letztes Jahr das perfekte Grundstück fand. Und während die Räder die Anhöhe hinauf rollen, verfängt sich sein Blick in den Zweigen. Wippt leise auf bunten Kastanienblättern, die sich in glasklarer Fläche spiegeln.

 

Hell soll sein Haus ihn empfangen. Licht. Ohne dunkle Ecken, die Schmutz verbergen.

 

So hatte der Auftrag an Hartmut gelautet. Hartmut, den kreativsten Baukünstler ever. Der Thorstens Erwartungen nicht enttäuschte. Von den Bambuspflanzen im Atrium aus über den weißen Flügel im Wohnraum hinweg kann er bis in den Swimmingpool hinter dem Haus schauen. 

 

Thorsten zieht die Handbremse an. Den Türöffner bereits fest im Griff, sieht er einen  Brummer um das Müllhäuschen kreisen. Plötzlich verengt sich sein Blick. Und die Glaspracht … schrumpft  …

 

trübes Licht fällt durch geborstenes Glas. Durch vergilbte Flächen, reich verziert mit  Kuhfladenfetzen. Gestern zerknackte ein Sturm die Scheibe. Fegte Dung bis in die entlegensten Ecken. Als Thorsten nach dem Schuhkarton im Schrank langt, fliegen die darin verborgenen Schätze durcheinander. Und sein Zwilling – Mister Thunder Punch He-man – fläzt sich auf Mamas Blumenkleid, knautscht hässliche Falten in ihr Foto. Fest klebt er den Deckel auf den Riss, bis er haargenau in den Fensterrahmen passt. Denn Gustav verträgt keine Zugluft. Erst letzte Woche hatte er sich wieder einen Schnupfen geholt. Gustav. Der auf seinem Netz herumkrabbelt, die Fliegenbeinchen verschmäht, die Thorsten aus der Leimfalle gepult hat.

Die anderen Räume sind tabu. Nur an den Feiertagen darf er mit Oma auf dem Sofa sitzen. Auf quietschenden Federn, die jämmerlich ächzen, auch wenn sein Po sich nur ein bisschen bewegt. Zum Nachtisch serviert Oma Wackelpeter. Und mit jedem Löffel, den sie ihn in hineinstopft, kneift er die Backen fester zusammen. Am Abend nach dem Kühefüttern schickt Oma ihn in die Küche. 

 

Dort sitzt er. Wartet. Bis …

 

… „Es ist ganz gleich, wen wir lieben“, Thorsten linst durch die Schlafzimmertür. Auf die verzauberte Oma. Verkleidet in einem Wallegewand tänzelt sie in Fellpantöffelchen, aus denen blaugeäderte Hautwülste quellen. Wenn sie sich dreht, flehen leere Arme, runden sich, als wolle sie den Plattenspieler umfangen. Und wenn die rabendunkle Stimme schmettert, „Und darum will ich heut´dir gehören“, darf er in Omas Bett schlafen …

 

Thorsten zerrt an seinen Hemdkragen, atmet pfeifend. Fuchtelt nach dem Fensterheber, der sich in Gallert verwandelt

 

… und versucht, die Luft anzuhalten, wenn Oma sein Gesicht unter ihre Bauchschürze presst. Hier riecht es immer so komisch. Wie dampfender Misthaufen in Essig gebadet …

 

Kastanien hageln auf das royalblaue Autodach. Thorsten schreckt schweißgebadet hoch, reißt die Autotür auf bei dem Versuch, die Erinnerungen unter die Gummifußmatte zu kehren.

 

Die Erschöpfung lähmt ihn, als er sich aus dem Sitz schält.

 

„Laufen, laufen“, hämmert es in seinem Hirn, „Mindestens eine halbe Stunde. Reiß dich zusammen, Thorsten.“ Und als er den Weg am Waldrand hinab wankt, glaubt er klotzige Hanteln unter den Fußsohlen zu spüren. „Durchhalten“, blafft sein Selbstmanager, bevor er sich in den Feierabend verabschiedet. Und Thorsten der brodelnden Welle überlässt, die wie Lava durch seine Adern zischt, als dieses blinkende Ding sich ihm in den Weg stellt. „Verdammt!  Mehr als drei Kilometer“, knirscht er und rammt seine Faust in den Absperrzaun.

 

Die Luft scheint sich in Sirup verwandelt zu haben, als er auf die Baken hinab sackt.

 

Er rollt auf dem Rücken hin und her, hilflos wie ein Käfer, sieht einen Klumpen, der auf ihn zu rast. Der sich durch Wolken zwängt, ausladend wölbt und Omas Hintern frappierend ähnelt. 

 

Junge“, sein Brustkorb kracht, „dir fehlt der Mumm in den Knochen.“

 

Der Schmerz flieht, als ein greller Schein zwischen seine Lidspalten sticht,

 

„Das ewige Licht.“ Thorsten bläht sich auf. „Krass. Er hat mich auserwählt“,

 

in den sich zwei Brillengläser schieben. Und ein lindgrüner Fleck, der spricht.

 

„Hallo! Herr Schneider! Willkommen zurück im Leben. Ich bin Dr. Vogt, ihr behandelnder Arzt. Sie wurden gestern Abend mit einem schweren Myokardinfarkt in die Helios Klinik eingeliefert. Im wirklich allerletzten Moment. Sie sollten sich dafür bei ihrem Nachbarn Herrn Krause bedanken. Er hat sie am Waldrand gefunden, als er seinen Hund Gassi führte. Ihre Werte sind mittlerweile stabil. Aber sie werden ihren Lebensstil ändern müssen. Dringend. Gesunde Ernährung, sanfter Sport. Und vor allem Stress vermeiden …

 

Thorsten richtet seinen Blick gen Himmel. Zumindest dorthin, wo er ihn vermutet.

 

„Danke Meister. Wir werden uns also erst später wiedersehen. Und hey, wegen deines Lichts, das du auf keinen Fall unter den Scheffel stellen solltest. Aber – mit Verlaub – es blendet fürchterlich. Pass auf. In meinem Keller steht noch eine komplette Charge des MEG5170. Der genialste Dimmer ever.

 

Ich gebe dir die Kisten zum Selbstkostenpreis. Plus – weil du es bist – unschlagbare zwei Prozent … 

 

Version 3