Von Ingo Pietsch

Vanessa Herder riss die Tür des Taxis auf, warf ihre Einkaufstaschen auf die Rückbank, setzte sich daneben und sagte zum Fahrer: „Zum BER, bitte.“

„Gerne“, sagte der Fahrer und startete den Wagen.

Etwas irritiert blickte Vanessa nach vorn, als der Motor aufheulte. Sie hatte immer gedacht, dass in der Innenstadt nur Elektrofahrzeuge mit der grünen Plakette A1 zugelassen wären.

Sie machte sich darüber weiter keine Gedanken, kramte ihr Handy aus der Handtasche und klappte es auf.

Sofort leuchtete das 2D-Holo-Bild auf. Sie tippte auf eine App und das Telefon wählte.

Das völlig übermüdete Gesicht ihrer fünfzehnjährigen Tochter Marie erschien.

„Mama, was willst du?“, fragte sie in barschen Ton.

„Ich war heute länger im Büro und wollte wissen, ob du gut zu Hause angekommen bist. Bist du überhaupt zu Hause?“, Vanessa konnte nicht erkennen, wo ihre Tochter war, weil sie ihre Kamera direkt vors Gesicht hielt.

„Bist du etwa wieder bei diesem Tim?“, Vanessa versuchte nicht aufgebracht zu wirken. Sie wusste, dass sie zu viel Zeit im Büro verbrachte und sich kaum um ihre Kinder kümmerte.

„Das geht dich gar nichts an. Sonst interessiert dich auch nicht,was ich mache. Oder warte“, Marie grinste hämisch. „Erst hat er mir zwei Piercings geschossen.“ Sie hielt ihr Handy ans Ohr. „Und danach hatten wir Sex.“

Das Bild erlosch.

Vanessa saß mit offenem Mund und sichtlich geschockt im Taxi und starrte auf die App-Oberfläche.

„Probleme mit den Kindern?“, fragte der Taxi-Fahrer.

Das war genau das, was sie nicht brauchte: Einen neunmal-klugen Typen, der für nichts mehr taugte, als zum chauffieren.

„Ich weiß, was Sie denken. Das hier ist mein Dritt-Job, damit ich mir mein Studium finanzieren kann. Meine Frau geht auch arbeiten und wir haben zwei Kinder. Sie sind nicht die Einzige, die Probleme hat. Aber es geht immer wieder aufwärts.“

Sie blickte dem Mann über den Rückspiegel in die Augen. Sie erkannte dunkle Augen und dunkle Haare. Wahrscheinlich kamen seine Eltern oder Großeltern aus dem Mittelmeerraum.

Vanessa wollte ihm eine patzige Antwort geben, verkniff es ich aber.

„Lassen Sie mich raten, ihrer Kleidung und ihrem Aussehen nach zu urteilen, arbeiten sie irgendwo als Vorstandsmitglied.“

Na toll, dachte Vanessa, ein Klischee jagte das nächste.

Sie sah aus dem Fenster. Der Verkehr war dicht, aber es gab keinen Stau.

„Ich kann mir auch ein anderes Taxi nehmen“, sagte sie mehr zur Scheibe und hauchte sie dabei an. Die Lichter am Straßenrand verschwammen.

„Ja, Sie hätten auch ein automatisches Taxi nehmen können“, stimmte der Fahrer ihr zu. „Aber anscheinend brauchten Sie jemanden zum Reden, der sie nicht auf ihre Fehler aufmerksam macht und der Sie nicht kennt.“

Vanessa atmete tief ein. Der Fahrer hatte vollkommen recht. „Ich habe so viel falsch gemacht in meinem Leben. Ich …“

Ihr Handy surrte und auf dem Display erschien Maik, ihr Mann.

Auch zu ihm hatte sie ein angespanntes Verhältnis.

„Vanessa, wo bleibst du? Machst du wieder Überstunden?“

„Ich bin schon auf dem Weg zum Flughafen.“

„Weißt du zufällig, wo Jan ist?“, fragte Maik mit ernster Miene.

„Nein, aber seine Schwester ist bei ihrem Freund.“

Maik verdrehte die Augen, als hätte er so was schon geahnt, erwiderte aber nichts.

„Er hat einen Brief für uns dagelassen. Soll ich ihn öffnen?“

„Ja, sofort!“, drängte Vanessa.

Maik riss den Brief auf und las vor: „Mama, Papa. Ich kann mit dieser Schande nicht mehr leben. Ich weiß, dass ihr mich nur adoptiert habt, um euch ein ruhiges Gewissen zu verschaffen. Ein Gewissen, das Mama anscheinend vor Jahren verloren hat. Dass sie und ihre Firma seit Jahrzehnten mein Heimland ausgebeutet und Millionen Menschen umgebracht haben. Nur damit die Reichen noch reicher werden. Ich liebe euch trotzdem, auch wenn ich es nicht verstehen kann, Jan.“

„Was meint er damit? Ihr seid ein großer Konzern, der eine Methode entwickelt hat, verschmutztes Wasser auf einfache Art und Weise zu reinigen. Was ist so falsch daran?“

Vanessa seufzte und erklärte ihrem Mann, was sie jahrelang verschwiegen hatte: „Ich habe eine Methode entwickelt, leicht verschmutztes Wasser zu reinigen, ja.“ Als ihr bewusst wurde, was sie getan hatte, begann sie zu stottern. „Irgendwo mussten wir das Wasser herbekommen. Wir haben es dort abgepumpt, nach Europa transportiert, gesäubert und teuer weiterverkauft. Der Konzern brauchte schnelle Erfolge. Und in den Dritte-Welt-Ländern spielte es eh keine Rolle, weil die Menschen dort doch sowieso keine Nahrung hatten.“

Ihr Mann sah sie fassungslos an. Ehe er etwas erwidern konnte, drehte er sich weg und sagte: „Jan, leg sofort die Waffe weg. Du willst das nicht …“, dann fiel im Hintergrund ein Schuss und das Gespräch wurde unterbrochen.

Vanessa ließ ihr Handy fallen und begann hemmungslos zu weinen. Es war zu spät, sie konnte nichts mehr ändern.

„Ich habe doch auch so viel Gutes getan. War das alles umsonst gewesen? Ich würde alles geben, um es ungeschehen zu machen.“

Das Taxi hielt an und der Fahrer drehte sich zu ihr um. „Wir sind da. Mir steht es nicht zu Ihnen irgendwelche Ratschläge hinsichtlich ihrer jetzigen Situation zu machen, aber ich wünsche Ihnen für ihre Zukunft alles Gute“, sagte er in einem Ton, der so gar nicht zum ihm passte.

Vanessa zahlte, stieg aus und betrat das stark frequentierte Gebäude durch eine Automatiktür. Zitternd suchte sie auf einem der Holo-Displays ihren Flug. Machte es überhaupt Sinn oder einen Unterschied, ob sie nach Hause flog?

Mitten in diesen Gedanken wurde sie von jemanden angerempelt. Sie stürzte und schlug mit der Stirn auf den kalten Boden.

Um sie herum wurde es still und dunkel.

Vanessa kämpfte sich wieder hoch. Es war immer noch dunkel und merkwürdig ruhig.

So weit sie erkennen konnte, war sie allein. Der Strom im Terminal war weg, alle Displays aus.

Sie suchte ihr Handy, um die Taschenlampe daran anzuschalten. Vanessa wühlte in ihren Taschen, konnte es aber nicht finden. Auch trug sie mit einem Mal ganz andere Kleidung.

Sie ging zur Tür zurück, da draußen Straßenlaternen leuchteten, doch diese öffnete sich nicht.

Vanessa schlug mit den Fäusten dagegen und rief dabei etwas Unverständliches. Schließlich brach sie zusammen. Sie sah ihre Familie vor ihrem geistigen Auge, aber auch die Menschen, die sie um ihr Leben betrogen hatte.

War sie in der Hölle gelandet?

Plötzlich tauchte der Lichtkegel einer Taschenlampe vor ihr auf und wurde immer größer.

Ein Wachmann trat näher und fragte: „Junge Frau, was machen Sie hier?“

„Na ja,“ stotterte Vanessa, „dies ist ein Flughafen oder nicht? Ich wollte ein Flugzeug nehmen.“

„Wenn er mal eröffnet wird, können Sie das gerne tun.“

„Wie meinen Sie das? Ich bin schon oft von hier geflogen.“

Der Wachmann war verwirrt. „Hier fliegen noch keine Flugzeuge. Vielleicht nächstes oder übernächstes Jahr.“

Vanessa Herz schlug ihr bis zum Hals. Diesmal würde sie alles anders machen.