Von Daniela Seitz

Ich sitze in einer Grätsche auf dem Boden und beuge mich mit der Nase zum Knie. Es zieht angenehm in meiner Wade, der Rücken jedoch schreit. Ich ignoriere es und greife mit meinen Händen nach meinem Fuß. Noch erwische ich nur die Zehen, aber ich werde diese Position so lange halten, bis ich mit meinen Händen die Sohle meines Fußes umfassen kann. 

„Ihr werdet merken, die ersten 10 Sekunden sind furchtbar. Aber nach diesen 10 Sekunden löst sich etwas und ihr könnt eure Position noch mal nachjustieren!“, höre ich meine Sportlehrerin sagen.

Okay, ja. Meine Nase ist nicht direkt bei meinem Knie, sonst wäre das Umfassen der Fußsohle kein Problem für mich. Und wo wir dabei sind: Meine Beine sind näher an einem V, als an einer 180 Grätsche. Aber die Sportlehrerin hat Recht. Durch das Nachjustieren komme ich dem Knie mit meinem Gesicht sehr viel näher und oh mein Gott.

„Ich komme an meine Sohle heran. Schau mal Mira!“, flüstere ich zu meiner Freundin hinüber, die sich direkt neben mir dehnt und wegen der ich überhaupt gerade versuche meine Muskeln für einen Spagat zu lockern.

Es folgt keine Reaktion.

Ich luge zu ihr herüber und schnappe nach Luft. 

„Mira super, seit wann kommst du denn bis auf den Boden?“

Mira richtet sich langsam aus ihrer Position auf, so dass sie mich anschauen kann. Stolz schaut sie mir in die Augen und klatscht in die Hände.

„Ich weiß auch nicht. Irgendwie scheint gerade ein Knoten geplatzt zu sein“.

Ich freue mich mit Mira. Gleichzeitig bin ich aber frustriert. Wann platzt der Knoten bei mir? Wir machen das jetzt schon seit einem Jahr und für den Spagat fehlen uns beiden noch ca. drei Zentimeter. Aus Erfahrung weiß ich mittlerweile, dass der Spagat ziemlich Tagesform abhängig ist. 

Ich möchte betonen, dass ich durchaus normalerweise die Beine weiter spreizen kann. Aber heute scheint wohl ein schlechter Tag für mich zu sein. Wenn ich jetzt schon Probleme beim Dehnen habe, wird das wohl heute wieder nix werden. 

Mira hat kontinuierlich ihren Spagat verbessern können, während ich anfangs tiefer als sie kam, nun aber seit einem halben Jahr auf dem gleichen Niveau feststecke. Und das frustrierendste daran: wenn ich nur zwei Tage nicht dran bleibe, verliere ich sogar bis zu eineinhalb Zentimeter an Höhe. Daher bin ich dazu übergegangen, täglich zu üben.

„So sind wir alle soweit uns an den Spagat zu versuchen?“, fragt die Sportlehrerin und da alle anderen nicken, werde ich die Dehnungsrunde nicht künstlich verlängern.

Wir holen uns für jede zwei Stühle und stellen diese als Hilfe neben uns. Auf der Stuhlfläche können wir unsere beiden Unterarme abstützen, während wir aus einer knienden Ritterposition zwischen den Stühlen das linke Bein nach hinten strecken und das rechte Bein langsam nach vorne in den Spagat schieben. Und umgekehrt.

Wider Erwarten funktioniert es ganz gut. Noch ist das Ziehen in meinen beiden Unterschenkeln angenehm und ich rutsche barfuß und kontrolliert langsam in die von mir angestrebte Position. Mit Socken hat man weniger Kontrolle. Und ja okay, es fehlen wieder die üblichen drei Zentimeter, aber immerhin, habe ich keinen Zentimeter verloren. 

Angestrengt versuche ich meinen Körper tiefer zu zwingen, indem ich meine Unterarme weniger belaste. Doch ein stechender Schmerz zwingt mich zurück. Voller Enttäuschung halte ich die Position. Zeit zum Atmen habe ich keine, übermannt mich doch gerade fast ein Heulkrampf, den ich niederkämpfe.

„Sehr gut Mira! Nur noch ein Zentimeter! Wenn du jetzt einfach die Hände loslässt, hast du es geschafft!“, feuert meine Sportlehrerin Mira neben mir an.

Ich schaue zu ihr rüber. Ich sehe den Schmerz in ihren Augen, als Sie den Rat der Sportlehrerin folgt und loslässt. Doch sie fällt nicht seitlich aus der Position heraus, wie es oft passiert, wenn man tiefer geht, als der Körper es kann, sondern landet tatsächlich in dem von uns angestrebten Spagat.

Alle freuen sich mit Mira und beklatschen ihren Erfolg. Einfach loslassen? Spinnt die Sportlehrerin? Mira hätte sich schwer verletzten können. Ich verlasse meine Position nicht. Schaffe es aber, trotz der abgestützten Unterarme ebenfalls zu klatschen.

„Dann schauen wir mal bei dir Alina, ob wir dich heute auch soweit bekommen wie Mira.“, sagt die Sportlehrerin zu mir und tritt hinter mich.

„Gib mir deine Hände“, fordert sie mich auf.

Ich stütze mein ganzes Gewicht auf den linken Unterarm und ergreife mit der Rechten die Hand meiner Sportlehrerin. Ihre Hände warten über mir darauf, dass ich auch mit der Linken ihre Hilfestellung nutze, um meinen Oberkörper von vornübergebeugt zu einer geraden Haltung aufzurichten. 

Dieses Aufrichten hilft bei der Gewinnung einiger Millimeter und ich verspüre nicht den Schmerz von eben. Doch mir fehlen immer noch mindestens zwei Zentimeter. Ich spüre wie die Sportlehrerin nah an mich herantritt, so nah, dass ihre Knie Druck auf meinen Rücken ausüben können. Nun werde ich sowohl durch ihre Knie als auch durch ihre Hände noch weiter nach unten gedrückt.

Doch meine Beine begehren auf. Hatte ich geglaubt, der Schmerz, den ich mir eben selbst zugefügt hatte, sei schlimm, lehrt mich meine Sportlehrerin nun eine neue Dimension. Miras Erfolg scheint sie zu blenden, denn sie ignoriert meine Schmerzenslaute, die ich nun nicht mehr schaffe zu unterdrücken.

„Komm schon, du kannst das! Nur noch ein bisschen!“, drängelt sie und übt noch mehr Druck aus.

„AUUUUUUU“, brülle ich, „Sie tun mir weh! Hören Sie auf!“

Von meiner Heftigkeit und Lautstärke überrascht, hört sie tatsächlich auf, hilft mir aus dem Spagat heraus und beginnt meine Beine zu massieren. Mira springt mir zur Seite. Ich vergrabe mein Gesicht an ihrer Brust und fange hemmungslos an zu weinen.

 

*****

So heftig der Schmerz gewesen war, so kam ich doch ohne problematische Verletzung davon. Es hatte sich angefühlt, als bräche die Sportlehrerin mir die Beine, aber es waren dann doch nur Zerrungen, die mich in meinem Spagat zurückwarfen. Bis heute fehlen mir die besagten drei Zentimeter.

Mira hat trotz Ihres eigenen Spagat Erfolges, den Sie nun immer wieder wiederholt, sich bei der Leitung über die Sportlehrerin beschwert und sie unterrichtet uns nicht mehr.

Nun liege ich auf dem Rücken, weil Mira mich in den Ferien überredet hat, den Spagat, Spagat sein zu lassen. Jetzt wo sie ihn beherrscht, ist sie für Yoga entflammt. Und wir machen nun einen Ein-wöchigen Yoga-Work-Shop, fern von Zu-Hause.

Wir liegen nur auf dem Rücken, atmen bewusst ein und aus und bewegen dabei die Arme über unseren Kopf zum Boden und über unseren Kopf zurück neben den Bauch. Das strengt überhaupt nicht an und ist schon regelrecht langweilig. Denn wir machen das echt lange. Es kommt mir vor wie 10 Minuten, wenn nicht sogar länger.

„Das Ziel ist es die Bewegung an euren Atem anzupassen“, höre ich die Yogalehrerin.

Na gut. Ein. Ich lege meine Arme hinter meinem Kopf ab. Aus. Ich lege meine Arme neben meinen Bauch ab. Ein. Aus. Ein. Aus. Ich konzentriere mich auf meine Atmung. Vertiefe die Atemzüge oder verkürze Sie, je nachdem wie schnell ich die Arme bewege. Ein. Aus. Ein. Aus. 

Ich fange an meinen Atem zu beobachten, da die anderen Mityogianer nichts Weltbewegendes machen und es langweilig ist, ihnen dabei zuzuschauen, wie sie sich auf ihren Atem konzentrieren. Statt meinen Atem zu verkürzen, verlangsame ich nun die Armbewegung und passe sie an meinen Atem an.

Dann endlich wechseln wir die Positionen. Doch es entspricht überhaupt nicht dem Power-Yoga, dass ich mir auf You-Tube angesehen hatte. Die Positionen strengen überhaupt nicht an, werden aber sehr lange gehalten.

„Atmet in den Schmerz hinein, wenn ihr glaubt, ihr könnt die Position nicht länger halten“, höre ich erneut die Yogalehrerin, „ denn eure Muskeln brauchen Sauerstoff, um sich dehnen zu können!“

Überrascht stelle ich fest, dass es den Mityogianern schwerer fällt, als mir, die Positionen durchzuhalten. Von einem Druck befreit, der mir erst jetzt bewusst wird, konzentriere ich mich voll und ganz auf das richtige Ein- und Ausatmen. Mira neben mir geht es ebenso. Jede konzentriert sich ganz aufs Atmen. Und irgendwie befreit dieses bewusste Atmen auch von eigenen Erwartungen.

Die Woche vergeht, nun, wo ich gelernt habe loszulassen, wie im Flug. Zu Hause beginne ich zusammen mit Mira wieder mit meinem Spagat-Training. Ich erwarte gar nichts. Die Woche muss mich mindestens drei Zentimeter gekostet haben. Da bin ich mir sicher. Doch irgendwie ist es mir egal.

Mira gibt mir die gleiche Hilfestellung, wie die Sportlehrerin. Doch sie übt keinen Druck aus. Als es unangenehm wird, tue ich, was die Yogalehrerin sagte. Ich atme in den Schmerz hinein. Überhaupt konzentriere ich mich nicht darauf weiter runter zu kommen. Ich atme kontinuierlich und bewusst. In den Schmerz hinein und wieder hinaus.

Der Schmerz wird weniger und ich rutsche kontinuierlich weiter runter.

„Alina, nur noch ein Zentimeter! Soll ich dich loslassen?“, fragt Mira aufgeregt.

„Untersteh dich! Nur weil du dich nicht verletzt hast, heißt das nicht, dass der Rat der Sportlehrerin gut war!“, begehre ich auf.

Ich schaffe es auch so. Einfach weil ich meinen Muskeln durch bewusstes Atmen den Sauerstoff verschaffe, den sie brauchen, um auch noch diesen Zentimeter zu meistern!

Ich entspanne mich, spüre in meine Beine hinein und atme. Ein. Aus. Ein. Aus. Und bin beim letzten Ausatmen kontrolliert in dem Spagat ganz auf den Boden gerutscht.

„Okay Alina, jetzt kann ich dich aber loslassen und ein Foto machen“, lacht Mira und springt davon um ihr Handy zu holen.

Stolz strecke ich meinen Oberkörper und breite meine Arme in anmutiger Pose aus. Mira macht eine regelrechte Fotosession aus meinem Erfolg und ich grinse breit.

„Mira, Yoga war deine beste Idee überhaupt!“, lobe ich meine Freundin, „Danke!“

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