Von Astrid Herrmann

Fröhlich pfeifend schmierte Karl Butterbrote, füllte den frischen Kaffee in die Thermoskanne, wusch zwei Äpfel und packte alles in seinen nagelneuen Outdoor-Rucksack. Er zog seine Wanderschuhe an, schloss den Reißverschluss seiner neuen wasserdichten Jacke und machte sich vergnügt auf den Weg zur Bushaltestelle.

 

Der Bus brachte ihn zu einem Parkplatz in der Heide. Den Busfahrer freundlich grüßend stieg er mit dem Rucksack in der Hand aus und atmete tief die herbstliche frische Luft ein. Ein goldener Oktobertag lag vor ihm – die Sonne lachte vom blauen Himmel. Er schaute sich ein wenig um und entdeckte die Touristen-Info, die auf einem kleinen Hügel lag. Am Eingang hing eine Karte mit allen Wanderrouten. Er wollte heute eine große Runde wandern und sah, dass sich dafür der Weg mit der roten Markierung eignete.

 

„Auf geht’s!“  sprach er, schulterte seinen Rucksack und wanderte vergnügt los. Der Weg schlängelte sich an mit Heidekraut bewachsenen Flächen vorbei. Einzelne Bäumen  ragten dekorativ aus der Landschaft. In einiger Entfernung entdeckte er einen Schäfer mit seiner Herde. Er winkte ihm zu, aber der Schäfer reagierte nicht, auch sein Hund tat nur seinen Job und kümmerte sich um die Schafherde. Karl zuckte die Schultern und marschierte weiter.

 

Vor ihm tauchte eine große Sandfläche auf, die so weiß in der Sonne glitzerte, dass er für einen kurzen Moment die Augen schließen musste. Als er sie wieder öffnete, sah er vor sich ein großes gelbes Schild, auf dem Umleitung stand. Verwirrt rieb er sich die Augen – aber das Schild verschwand nicht. Er schüttelte unwillig den Kopf. Was sollte das denn hier mitten in der Wildnis bedeuten? Sollte er es einfach ignorieren? Würde es ihm seinen Wanderweg verlängern oder verkürzen? Er blickte sich um, aber er befand sich allein auf weiter Flur. Von seiner roten Routenmarkierung war auch nichts zu sehen. Obwohl,  da hinten, in einiger Entfernung sah er etwas Rotes in der Sonne blinken. Er beschloss, das Umleitungsschild zu ignorieren und einfach weiter zu gehen.

 

Nach zwei Schritten bemerkte er, dass der Sand unter seinen Füßen nachgab und sein rechter Fuß innerhalb kürzester Zeit bis zum Knöchel eingesunken war. Erschrocken zog er ihn mit einiger Mühe aus der Umklammerung des Sandes und sprang zurück. „Verfluchter Mist! Was ist das?“ rief er aus. Er nahm einen Stock, warf ihn auf die Sandfläche und – er versank langsam zwischen den weißen Sandkörnern. „Treibsand? Hier? Jetzt verstehe ich das Schild!“ murmelte er kopfschüttelnd und wandte sich dem Schild zufolge nach links.

 

Der Weg führte ihn in einen ziemlich dunklen Wald, in dem es nach Herbst roch – etwas faulig, etwas modrig, etwas schleimig. Hier und dort sah er Pilze aus dem Boden ragen. Ein besonders schönes Exemplar eines Fliegenpilzes faszinierte ihn so, dass er näher trat, um ihn eingehender zu betrachten. „Probiere mich!“ hörte er eine leise verführerische Stimme. Karl sah sich verwirrt um. Wer hatte da gesprochen? Oder hatte er sich das nur eingebildet?  Niemand war zu sehen. Oder war dort ein Schatten zwischen den Bäumen? Hinter sich hörte er ein Kichern. Erschrocken schaute er sich um. Seltsam, seltsam. Ein leichtes Frösteln durchfuhr ihn. Schnell setzte er seinen Weg fort. 

 

Der Pfad vor ihm wurde immer schmaler, rechts und links wuchsen wunderschön blühende duftende Blumen, ab und zu rankte ein Brombeergebüsch in den Weg. Die Früchte sahen so prall und verlockend aus, dass Karl nicht widerstehen konnte. Mmh, zuckersüß und saftig! Er griff immer wieder zu, der Saft lief ihm über die Hände und tropfte aus seinen Mundwinkeln. Er fühlte sich an seine unbeschwerte Kindheit bei seinen Großeltern erinnert und lachte laut auf. Mit seinem Opa war er immer in den Wald gegangen, um Brombeeren, Himbeeren und Heidelbeeren für Oma’s herrliche Kuchen zu sammeln. Bei diesem Gedanken lief ihm das Wasser im Munde zusammen.

 

Der Wald öffnete sich und vor ihm tauchte ein kleiner klarer See auf, in dem sich der blaue Himmel spiegelte. Frösche quakten, Fische sprangen aus dem Wasser, Mücken tanzten in der Luft. Eine Brücke führte über den See. Karl betrat sie und blieb nach ein paar Schritten stehen, um ins Wasser zu schauen. „Komm zu mir!“ flüsterte es. Karl schaute sich erschrocken um – weit und breit war niemand zu sehen.  Er beugte sich weit über das Geländer, um zu sehen, ob sich vielleicht jemand unter der Brücke befand. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Im letzten Moment konnte er sich noch abfangen und ließ sich vor Schreck auf seinen Hosenboden fallen. „Ich brauche jetzt einen Kaffee und ein Brot! Vielleicht bin ich unterzuckert und habe Hunger-Halluzinationen!“ Er packte seinen Rucksack aus, aß ein Brot und trank den heißen Kaffee. Frisch gestärkt fühlte er sich viel besser setze seine Wanderung fort.

 

Am Ende der Brücke führte ihn die rote Markierung zu einem steilen Sandberg. Karl stiefelte tapfer bergauf und schnaufte vor lauter Anstrengung. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er nicht vor der Stelle kam – der Sand unter seinen Füßen gab immer wieder nach und er rutschte ein Stück abwärts. Er ließ sich nicht entmutigen und schließlich stand er oben auf dem Berg und genoss eine atemraubende Aussicht.

 

Die Heidelandschaft auf der einen, der See auf der anderen Seite. Und  dort hinten sah er die Sandfläche, auf dem das Umleitungsschild stand. Und mit Erschrecken sah er zwei Wanderer, die das Schild ignorierten, auf die Sandfläche liefen und in Windeseile verschluckt wurden.

 

Karl sog erschrocken Luft ein und überlegte, was er machen sollte. Helfen konnte er von hier aus nicht, dafür war er viel zu weit entfernt. Sollte er um Hilfe rufen? Würde das etwas bringen? Er öffnete den Mund, aber seine Stimme war nur ein Krächzen. Er räusperte sich – es half nichts. Seine Hilflosigkeit ließ ihm Tränen in die Augen steigen.

 

Er drehte sich um und sah einen Wegweiser zu einer Wanderhütte. Vielleicht war dort jemand, der helfen konnte. Er lief los und stand nach kurzer Zeit vor einem kleinen Restaurant mit Namen „Wanderhütte“. Karl stürmte hinein und rief so laut er konnte: „Hilfe!“ Außer der Bedienung war niemand anwesend. Die Frau sah ihn verwundert an. „Was ist los?“ „Da drüben in dem Treibsand sind gerade zwei Wanderer versunken!“ Die Bedienung verzog keine Miene: „Was für’n Treibsand?“ „Na dort, wo das Umleitungsschild steht!“ „Möchten Sie etwas trinken?“ fragte sie. „Haben Sie mich nicht verstanden?“ fragte er fassungslos. „Doch.“ sagte sie. „Da vorne ist unser Telefon. Rufen Sie die 112, die helfen immer!“ Karl rannte zum Telefon, nahm den Hörer ab und hörte … nichts. „Da ist kein Freizeichen!“ rief er. „Ach, dann hat der Chef sicher die Rechnung mal wieder nicht bezahlt!“ „Was sollen wir jetzt machen?“ fragte Karl panisch. „Ich kann die Besucherinfo  anfunken und Bescheid sagen.“ sagte die Frau. „Ja, dann machen Sie das!“ rief Karl. In Zeitlupe nahm die Frau das Funkgerät in die Hand – aber es funktionierte nicht. „Ach, sorry. Das ist ja kaputt. Habe ich dem Chef gesagt, er wollte sich drum kümmern!“ murmelte sie. Karl war der Verzweiflung nah. „Ja, aber…“ „Wollen Sie was trinken?“ fragte sie erneut. Karl schaute sie fassungslos an und verließ kopfschüttelnd das Lokal.

 

Sollte er zur Info  zurücklaufen? Das war ein ziemlich langer Weg und würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Und wenn er nur bis zur Sandfläche laufen würde? Und dann? Alleine würde er ihnen nicht helfen können. Aber es wäre immerhin ein Versuch wert.

 

Er lief bis zum Berg, den er so mühevoll erklommen hatte und begann langsam mit seinem Abstieg. Er stolperte über eine Baumwurzel, rutsche und rollte hilflos den Abhang hinunter, um mit einem lauten Platsch im Wasser zu landen. „Ah, ist das kalt!“ er konnte wieder laut schreien. Das Wasser ging ihm zum Glück nur bis zu den Knien und mühsam ging er Richtung Ufer.

 

Plötzlich packte ihn etwas am Bein. Er schrie auf, drehte sich um und sah eine wunderschöne  Meerjungfrau, die sein Bein umklammert hielt. „Endlich bist du da!“ säuselte sie. Er starrte sie an. „Lass mich los!“ kreischte er und zerrte sein Bein Richtung Ufer. Sie ließ von ihm ab und er fiel hin. Auf allen Vieren krabbelte er zum Ufer. Als er sich umschaute, lag der See ruhig vor ihm und nichts deutete auf die eben noch dagewesene Meerjungfrau hin.

 

Kopfschüttelnd ließ er sich von der Sonne ein wenig trocknen, bevor er sich eilig auf den Weg in den Wald machte. Am Ende der Brücke kamen ihm zwei Wanderer entgegen. „Sind Sie auch der Umleitung gefolgt?“ fragte er sie. „Welche Umleitung?“ fragte einer der Wanderer. „Die an der großen Sandfläche, wo der Treibsand ist!“ Die zwei schauten ihn verständnislos an, wünschten einen guten Tag und gingen weiter.

 

Karl begann an seinem Verstand zu zweifeln. Wieso taten alle so, als wenn sie nicht wüssten, wovon er sprach?

 

Er lief in den Wald. Ein Flüstern und Wispern empfing ihn und ließ ihn erschauern. „Karl, hallo Karl!“ Er rannte, als wenn der Teufel hinter ihm her wäre und schaute sich erst um, als er auf der Sandfläche ankam. Der Wald lag schweigend und düster da.

 

Er blickte sich nach dem Schild um, konnte es aber nirgendwo sehen. War es vielleicht auch versunken? Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, aber der Boden unter ihm gab nicht nach. Hatte er sich das alles nur eingebildet? Gab es gar keine versunkenen Wanderer?

 

Wieder hörte er: „Karl, hallo Karl!“ Dieses Mal etwas lauter und dann rüttelte jemand an seiner Schulter!  

 

„Nun wach doch mal auf! Muss ich jetzt diesem Schild da vorne folgen oder nicht?“ Karl öffnete die Augen und nahm langsam seine Umgebung wahr. Seine Frau Ilse saß am Steuer ihres Autos und zeigte auf das Umleitungsschild vor ihnen.

 

„Mein Gott, du hast ja echt einen gesunden Schlaf. Und was hast du für einen Blödsinn geträumt? Du hast Hilfe gekrächzt und irgendetwas vom Treibsand erzählt. Laut gelacht und gesabbert hast du auch! Ich habe versucht, dich zu wecken, aber das war ein Ding der Unmöglichkeit. Muss ich da rechts abbiegen? Guck doch mal auf die Karte!“

 

©Aska 10/2019

 

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