Von Hans-Günter Falter

„Yellow Submarine“ von den Beatles blubbert fröhlich aus meinem Autoradio. Das tut gut, nach dem stressigen Arbeitstag. Ich fühle mich gut. Obwohl!
Gut.Gut.Gut.
Bin mal wieder spät dran. Sophie wartet schon. Habe ihr eine SMS geschrieben. Sie ist genervt. Nie bin ich pünktlich. Sagt sie. Manchmal aber schon. Vielleicht nicht oft genug.

 

Nur noch kurz das Paket aufgeben. Kein Parkplatz in Sicht. Wie immer. Den Wagen hier kurz im Halteverbot abstellen? Es dauert höchstens fünf Minuten.
Aussteigen, Paket unter den Arm, schnell rüber zur anderen Straßenseite und rein in die Postfiliale. Glück muss der Mensch haben, ist nicht viel los hier. Bei meinem Glück hätte hier eine lange Warteschlage sein müssen.
Glück. Glück. Glück.
Komme sofort dran, gebe das Paket auf, und ab. Nichts wie raus hier, zurück zum Wagen und dann zu Sophie. Ich renne über die Straße und springe in mein Auto, starte und los. 

 

Ein paar Meter Fahrt, dann plötzlich diese ungeheuerliche Explosion hinter mir. Mein Auto bekommt einen Schub nach vorne. Ich bremse, bleibe stehen. Drehe mich um, Rauschschwaden kommen aus dem Postgebäude, das ich gerade eben erst verlassen habe. Wie im Film. Mir wird schlecht. Menschen bleiben auf der Straße stehen, schauen entsetzt in Richtung des Gebäudes.
Jetzt ist es vollkommen still. Grabesruhe. Nichts.
Ich drehe mich wieder um. Kann nicht denken. Gebe Gas. Will weg hier. Will zu Sophie. Ihr alles erzählen. Sie in den Arm nehmen. Bin ja schon zu spät.
Hätte aber auch noch in der Filiale sein können. Hätte tot sein können.
Hätte. Hätte. Hätte.
Ich schaue kurz in den Rückspiegel, um mich anzusehen. Ganz weiß im Gesicht. Oder irgendwie auch grau.

 

Sophie erwartet mich schon. Freut sich. Nimmt mich in den Arm. Ich erzähle. Sie kann nicht glauben, was passiert ist. Nimmt mich nochmal in den Arm. Drückt mich fester. Ich muss heulen. Habe keine Kontrolle über meine Gefühle. Sophies blaues Kleid bekommt dunkle Wasserflecken.
Wir gehen ins Wohnzimmer. Sie setzt mich auf einen Stuhl. Schaltet den Fernseher ein.
Nichts zu erfahren von einer Explosion. Sie zappt sich durch. Jetzt ein Infobalken am unteren Rand des Bildschirms, der in einer Endlosschleife von dem Geschehen berichtet. Sophie liest die Nachricht. Liest sie nochmal.
Liest. Liest. Liest.
Später gibt’s auch Berichte, … von Reportern, … live vor der Post. Drei Tote. Sieben Verletzte. Mitarbeiter der Post. Passanten. Kunden.
Ist die junge Frau dabei, die mein Paket entgegen nahm? Ihr Gesicht steht jetzt ganz klar vor mir. Hatte sie heute gar nicht richtig beachtet. Aber schon früher ein paar Mal gesehen. War ja in der letzten Zeit öfters da.

 

Acht Uhr Nachrichten. Linda Zervakis. Eine neue Reportage.
Unscharfe Bilder einer Überwachungskamera. Ein Mann verlässt das Postgebäude, läuft schnell über die Straße. Steigt in ein Auto und fährt los. Dann die Detonation. Nochmal die gleiche Szene, aus einer anderen Perspektive. Genauso unscharf.
Bin ich das? Ich erkenne mein Auto. Das muss ich sein.
„Das bist ja du!“, sagt da Sophie gleichzeitig zu meinen Gedanken.
Ich werde gesucht. Als Zeuge? Als Täter? Soll ich zur Polizei gehen? Oder lieber anrufen? Oder mich verstecken? Ich habe Angst. Ich bin verwirrt. Immer noch tief geschockt. Die Gestalt auf den verwackelten Bildern ist mir so fremd. Ich habe fürchterliche Angst.
Angst. Angst. Angst.
Laute Geräusche im Treppenhaus. Grobes brüllen. Dumpfe, harte Schläge gegen die Wohnungstür. Die Tür fällt flach nach vorn in unseren Flur. Vermummte, dunkle Gestalten, mit Helmen, Waffen, stürzen herein. Schreien immer noch. „Raum frei. Polizei.“
Werfen mich zu Boden. Fesseln mich. Zerren mich aus der Wohnung. Die Treppe hinunter. Zur Haustür heraus. In einen dunklen Wagen.
Bevor die Autotür geschlossen wird, sehe ich kurz Sophie. Auch gefesselt, wird sie in einen anderen Wagen geschoben. Ich sehe aus dem Fenster. Überall Blaulicht. Viele vermummte Gestalten auf der Straße. Und Polizisten. Und die Nachbarn. Alle schauen zu. Einige unterhalten sich. Einige tuscheln. Deuten auf mich.

 

Immer wieder dieselben Fragen. Was war in dem Paket? Warum bin ich so schnell aus dem Gebäude gelaufen? Warum bin ich nicht zur Polizei gegangen? Welches Motiv hatte ich für den Anschlag? Wer hat mir geholfen?

 

Ich erfahre Fakten über mich.
War in den letzten drei Monaten sieben Mal in dieser Postfiliale. Hatte immer bar gezahlt. Mein Handy war hier und da und dort eingeloggt. War auf einer Demo gegen die AfD. Engagiere mich in der Asylantenarbeit. Telefoniere zweimal in der Woche mit meiner Mutter.
Gelte als still und zurückhaltend. Meistens. Hatte mal eine Auseinandersetzung mit einem Arbeitskollegen, wegen eines Ablageordners. Mag Weißbier. Alkoholfrei.
Habe keine Freunde unter den Nachbarn. Bin immer höflich. Interessiere mich für arabische Kunst.
Kenne Sophie seit 6 Monaten. Mag 60er Jahre Musik. Schaue im Internet Pornos. Bin Kassenwart im Tischtennisverein. Liebe meine Katze. Hasse Fußball.
Hatte bei Ebay eine Vase und einen antiken Tortenheber ersteigert. Und eine Kaffeemaschine. Und Felgenreiniger für unseren Opel. Und die neue Nachttischlampe.
Hatte vor Jahren einen Rechtsstreit mit dem Vermieter. Bezahle selten mit EC-Karte.
Keine Auffälligkeiten auf meinem Bankkonto. Überhaupt praktisch keine Auffälligkeiten. Auffällig wenige Auffälligkeiten, meint mein Gegenüber.
Auffällig. Auffällig. Auffällig.

 

In dem Paket waren Wanderschuhe, die ich in einem online-Shop bestellt hatte. Leider eine Nummer zu klein.
Wollte sie deshalb zurückschicken. Ich war spät dran, musste zu Sophie, deshalb die Eile.
Morgen wollten wir an die Ostsee. Brauchten nur noch zu packen. Hektisch wie immer.
An die Polizei dachte ich die ganze Zeit über nicht. War einfach nicht auf die Idee gekommen. Erst bei den Nachrichten. Hatte mit mir selbst zu tun. Der Schock.
Gleiche Antworten auf immer gleiche Fragen.

 

Ein Rechtsanwalt kommt. Will mir helfen. Sagt er. Spricht alleine mit mir. Er riecht nach Rasierwasser und hat starken Mundgeruch.
Er rät mir, die Wahrheit zu sagen. Auskünfte über die Hintermänner zu geben. Nicht so verbohrt zu sein.
Alles spricht gegen mich.
„Kooperieren Sie mit der Polizei“, sagt er immer und immer wieder, „sonst kann ich Ihnen nicht helfen“. Er versteht nichts. Will auch nicht verstehen. Glaubt schon verstanden zu haben, wer und was ich bin.
Drei Tage gehen die Verhöre schon. Immer dieselben Fragen.
Fragen. Fragen. Fragen.

 

Und Widersprüche. Waren die Wanderschuhe nun zu groß oder zu klein? Ich habe es vergessen. Immer wieder diese Schuhe. Diese verdammten Schuhe. Ich werde noch wahnsinnig.

 

Zwischen den Verhören, … ganz alleine. Weiß geflieste Zelle. Was ist mit Sophie? Wo ist „Mausi“, meine geliebte Katze? Warum darf ich Sophie nicht  sehen? Nichts über sie erfahren? Wie geht es ihr? Was machen sie mit ihr? Ich liebe sie so sehr. Würde alles für sie tun. Es zerreißt mir das Herz.
Die Kamera da oben beobachtet mich Tag und Nacht. Beim Schlafen. Wenn ich aufs Klo gehe. Immer. Das Licht ist an. Auch immer.
Immer. Immer. Immer.
Blaues, kaltes Licht. Komisch, ich kann manchmal wirklich schlafen. War noch nie so einsam. So alleine. So hilflos. So ausgeliefert. So verlassen.
Meine Gedanken kreisen. Die Fragen schwirren in meinem Hirn. Ich kann sie nicht abstellen, an nichts anderes denken. Versuche mir Musik und Bilder vorzustellen. „Yellow Submarine“ taucht vor mir auf. Beruhigt mich kurz.
Mein Kopf schmerzt. Als ob mein Hirn zu groß wäre und am Schädel schabt. Wie Wanderschuhe, die zu klein sind. Da sind sie wieder, diese verdammten Wanderschuhe.
Mir ist schwindelig.

 

Am vierten Tag werde ich wieder in den Verhörraum gebracht. Auf dem Tisch liegt eine durchsichtige Plastiktüte mit verkohltem Inhalt.

 

Ich werde entlassen.
Muss mit der U-Bahn nach Hause fahren. Es ist kalt. Habe nur die Kleider, die ich schon vor vier Tagen getragen habe, am Leib. Sonst nichts, kein Geld. Nichts.
Nichts. Nichts. Nichts.
Auf dem Bahnsteig ein großer Monitor. Ein Reporter erklärt: „ein Tatverdächtiger wurde heute entlassen. Der Tatverdacht hat sich offenbar nicht bestätigt.“ 

 

Die U-Bahn habe ich nicht bezahlt. Völlig egal. Hat mich nicht gestört. Wenn ich erwischt worden wäre? Wahrscheinlich wäre ich ausgerastet.
Bei dem Gedanken muss ich lachen. Laut lachen.
Gespenstiges Lachen, das mir selbst Angst macht.
Lachen. Lachen. Lachen.
Die anderen Fahrgäste drehen sich um. Schauen erschrocken in meine Richtung. Erkennen mich. Einige unterhalten sich. Einige tuscheln. Deuten auf mich. 

 

Die Welt hat sich verändert. Vollkommen verändert. Ich bin verändert. Vollkommen verändert.
Verändert. Ändert. Ändert.

 

Vor unserem Haus gehen mir die Nachbarn aus dem Weg. Die Haustüre steht offen. Habe gar keinen Wohnungsschlüssel, fällt mir auf der Treppe ein. Sehe die Wohnungstür. Brauche gar keinen Schlüssel. Sie lehnt, lose hingestellt, halb in der Türöffnung.
Höre Sophie leise weinen. Sie sitzt im Schlafzimmer. Ich klopfe sachte an den Türrahmen; will noch sagen, dass ich es bin.
„Das bist ja du“, kommt sie mir zuvor und schaut mich freudig überrascht an.
Ich setze mich stumm zu ihr. Fange auch an zu weinen. Vollkommen haltlos.
Wir liegen uns endlos lange in den Armen. Schwimmen in unseren Tränen.
„Yellow Submarine“ flutet wieder meine Gedanken. Will mit Sophie abtauchen, für immer versinken. In Neues eintauchen. Oder mit ihr untergehen.
Zwischendurch sage ich ihr: „sie haben das Paket mit den Wanderschuhen gefunden. Völlig verkohlt. Diese verdammten Schuhe. Warum haben mir die Dinger bloß nicht gepasst?“

 

„Die Schuhe?“, Sophie hält erstaunt inne.
Ich fühle, wie es in ihrem Kopf schwirrt. Ihre Augen blitzen auf. Sie sagt nichts, … denkt nur, „die Wanderschuhe sollte doch der Verbindungsmann entsorgen, der das Paket präpariert hat … “.

 

Sophie packt eilig ihren Koffer.
„Lass uns sofort losfahren“, sagt sie.
Ich fange auch an zu packen. Ohne Nachzudenken. Ohne Nachzufragen. Bereit zum Abtauchen. Mit Sophie. Für immer.
Für immer. Immer. Immer.

 

V2