Von Karl Kieser

Heinz ist glücklich. Seit vier Tagen ist er nun unterwegs und der ganze Sommer liegt noch vor ihm.
Die letzten paar Kilometer auf dem Rhein verlangen noch erhöhte Aufmerksamkeit. Ab Duisburg geht es dann gemächlicher weiter auf Binnenkanälen, die ihn nach Nordosten voranbringen sollen.

Er sitzt entspannt in seinem bequemen Deckstuhl. Wie immer bei gutem Wetter steuert er seine geliebte LIBERTY vom Außenfahrstand. Hier hat er den besten Überblick und rundum freie Sicht.
In diesem Abschnitt des Flusses hält er sich an den äußerst rechten Rand der Wasserstraße. Er muss ohnehin gleich abbiegen.

Das Handy meldet sich: Josef und Vie – sie heißt eigentlich Sophie, ebenso wie ihre elegante Motoryacht – haben gerade den gemeinsamen Heimathafen am Main verlassen. Sie sind quasi in seinem Kielwasser unterwegs. Auch die beiden dauerverliebten Turteltäubchen haben sich für diesen Sommer die große Schleife über die Ostsee, die Oder und den Mittellandkanal vorgenommen.
Heinz könnte gemütlich weiterbummeln, sich von ihnen einholen lassen, um dann gemeinsam die Reise fortzusetzen. Persönliche Freiheit und Unabhängigkeit sind ihm aber viel zu kostbar, um sie während einer dreimonatigen Reise mit täglichen Absprachen und Rücksichtnahmen zu belasten.

Er ist ganz gerne allein. Er genießt es, die Herausforderungen einer Bootsreise völlig eigenständig zu meistern. Natürlich gibt es manchmal auch besondere Glücksmomente, die er gerne mit einer Partnerin teilen würde. Das ist ihm auch schon einige Male vergönnt gewesen. Insgesamt ist er aber überzeugter Junggeselle. Er liebt seine Unabhängigkeit und pflegt seine Rituale.
Mit seinen fast 70 Jahren will er daran auch nichts mehr ändern.

Eine Woche später kommt er zu dem Abzweig, dem er eigentlich folgen müsste, um wie geplant bei Travemünde die Ostsee zu erreichen. Die SOPHIE ist ihm aber schon näher gerückt. Spontan entschließt er sich daher, auf dem Mittellandkanal zu bleiben, die große Schleife einfach gegen den Uhrzeigersinn zu durchfahren und zunächst einen ausgiebigen Berlinbesuch vorzuziehen.

Berlin ist durchzogen von etlichen Wasserstraßen. Die Kommune hat ein knappes Dutzend Liegestellen -über die Stadt verteilt- eingerichtet, welche die Hobbyskipper jeweils für 48 Stunden kostenfrei nutzen können. Diese Plätze sind heiß begehrt. Heinz ist daher überrascht, bei der Liegestelle in der Nähe vom Schloss Charlottenburg, in einer Reihe geparkter Yachten, auf Anhieb eine ausreichend große Lücke zu finden. Die Lücke ist wirklich kaum größer als die LIBERTY. Heinz ist jedoch sehr versiert im Umgang mit seiner LIBERTY. Bei dem ruhigen Wetter ist er nicht auf Hilfe angewiesen. Routiniert bugsiert er das Schiff in die Lücke und macht die Leinen fest.

Auf beiden Seiten des Kanals wird das Gelände mit einer Böschung auf Straßenniveau angehoben. Dort oben steht eine Bank, genau gegenüber dem Platz, den er gerade belegt hat. Die Dame, die dort sitzt, war zunächst aufgesprungen, als er Anstalten machte, hier anzulegen. Sie hat aber gleich gemerkt, dass er keine Hilfe benötigt und sein Manöver nur fasziniert beobachtet.
Sie lächelt Heinz anerkennend zu, als der nun unter Deck verschwindet.
Zu seinen Ritualen gehört, dass er sich nach dem Anlegen einen guten Kaffee braut, den er dann auf dem Achterdeck genießt, damit alle seine Teile auch die Zeit finden, mit ihm anzukommen.
Er ist überrascht, dass er ein zweites Lächeln kassiert, als er mit Thermoskanne und Kaffeetasse zum Achterdeck hinaufsteigt. Die Dame ist noch da. Sie wird nicht viel jünger sein, als er selbst. Eine gepflegte Erscheinung mit sportlicher Figur.
Wäre es zu aufdringlich, wenn er ihr auch einem Kaffee anbieten würde?
Durch seine erhöhte Position auf dem Achterdeck sind sie fast auf demselben Niveau und kaum fünf Meter voneinander entfernt. Also …
„Darf ich Ihnen auch einen Kaffee anbieten?“

Sie lächelt. Ein gutes Zeichen.

„Das ist wirklich ganz reizend von Ihnen, aber wie sollen wir zueinanderkommen?“

Sie gleich auf sein Schiff einzuladen, kommt für Heinz nicht in Frage. Das erscheint ihm nicht angemessen.

„Was halten Sie davon, wenn wir es uns auf Ihrer Bank gemütlich machen?“

„Gute Idee, schaffen Sie es hier herauf?“

„Keine Frage. Ich bin gleich bei Ihnen.“

In der Pantry unter Deck schnappt er sich eine zweite Tasse und turnt, beide Hände für Kletterhilfen unbrauchbar, die Böschung hinauf. Im letzten Augenblick rettet ihn ihre helfende Hand vor einem uneleganten Abrutsch. So kommen sie sich unerwartet schnell näher.
Heinz kann durchaus charmant sein. Er erfährt, dass sie Gertrud heißt und in der Nähe wohnt. Sie ist beeindruckt von seinem reibungslosen Anlegemanöver und erstaunt darüber, dass er ganz allein unterwegs ist.
Als sie erfährt, dass Heinz sich Schloss Charlottenburg ansehen will, bietet sie sich spontan als Führerin an. Für heute ist es schon zu spät. Daher verabreden sie sich für den kommenden Tag.

Heinz freut sich auf die sympathische Begleitung. Sie haben sich prächtig unterhalten und so wird der morgige Tag sicher nicht so dröge, wie seine Kultureinlagen sonst oft ausfallen. So sehr er auch auf seine Eigenständigkeit besteht, vermisst er doch gelegentlich eine vertraute Zweisamkeit.

Am Morgen muss keiner von beiden auf den anderen warten. Pünktlich zur verabredeten Zeit sind sie parat. Sofort herrscht wieder Gleichklang zwischen ihnen. Untergehakt ziehen sie los. Zwei rüstige Senioren, die das Geschenk der Seelenverwandtschaft erst im Verlauf des Tages entdecken.

Sie verbringen einen vergnüglichen Tag miteinander, ohne sich zu überfordern, mit vielen Pausen und angeregten Gesprächen. Nach dem gemeinsamen Abendessen besteht Heinz darauf, den Abschlusskaffee auf der LIBERTY einzunehmen. Er ist stolz auf sein liebevoll ausgestattetes Sommerheim und präsentiert es Gertrud in allen Einzelheiten.
In dem separierten Bereich der Bugkajüte erklärt er scherzhaft:

„Und das wäre Dein ganz persönliches Boudoir, wenn Du Dich zur Mitfahrt entschließen könntest.“

Es ist ein süßer, aber auch verwirrender Schock für ihn, als sie im gleichen launigen Tonfall antwortet:

„Kein Ding mein Lieber, morgen um zehn Uhr stehe ich mit Sack und Pack hier auf der Matte.“

Nach diesem perfekten Tag in absoluter Übereinstimmung macht keiner den Versuch, die Ernsthaftigkeit dieser Worte auszuloten.
Beide haben nach dem Kaffee den Wunsch nach Ruhe. Sie verabschieden sich herzlich bis zum nächsten Morgen. 

In dieser Nacht kann Heinz nicht einschlafen. Ständig kreisen seine Gedanken um die Ereignisse des vergangenen Tages und um die erstaunliche Harmonie mit Gertrud. War das echt oder nur einer besonderen Stimmung geschuldet? Wünscht er sich das auch für den Rest seines Lebens?
Und dann ihre Bereitschaft hier einzuziehen, mitzufahren.
Von moralischen Bedenken ist er weit entfernt. Aber was würde das für sein Leben bedeuten? Womöglich ein gemeinsames Leben? Wäre das überhaupt eine denkbare Konsequenz? Er wäre doch niemals bereit in die Großstadt Berlin zu übersiedeln! Genauso wenig würde er von ihr verlangen können, in die ländliche Umgebung von Frankfurt zu ziehen.
Und bedenkenlos das Angebot einer liebevollen Begleitung für ein paar Tage annehmen und sie dann wieder loswerden? Dafür ist er nicht skrupellos genug.

Die ganze Nacht wälzt er sich herum. Viele widerstreitende Gefühle halten ihn wach. Die Skepsis, die seine Wesensart bestimmt, gewinnt schließlich die Oberhand. Er bleibt sicherheitshalber bei seiner Standardlösung. Gewagte Abwege, in Bezug auf sein Gefühlsleben, passen nun mal nicht zu seinem Charakter.
Mit dem ersten Licht des Tages kann er endlich aktiv werden. Noch vor dem Frühstück brummt der Diesel. Er wählt die südliche Verbindung zur Oder, um möglichst unauffindbar zu verschwinden.

 

Auch Gertrud kann in dieser Nacht nicht schlafen. Was hat sie nur zu dieser unbedachten Bemerkung bewogen? Sie hat genau gefühlt, wie ihn ihre geäußerte Bereitwilligkeit zur Mitfahrt durchgerüttelt hat. Nicht etwa wegen sexueller Vorfreuden. Sie ist sich sicher, dass er sie nicht bedrängen würde, sollte sie NEIN sagen. Das Problem liegt auf einer anderen Ebene.
Sie hat selbst nie dem gesellschaftlichen Druck nachgegeben und immer ohne dauerhafte Beziehungen gelebt. Sollte es diesmal anders sein, die große Ausnahme, die einzig wahre Liebe?
Sehr unwahrscheinlich!
Oh ja, sie hat den beglückenden Gleichklang genossen. Aber würde sie dafür ihr Leben auf den Kopf stellen. Vermutlich quälen ihn die gleichen Bedenken.
Diese Begegnung als kostbare Erinnerung zu bewahren, erscheint ihr viel befriedigender.

Erst nach Mittag nähert sie sich vorsichtig dem Liegeplatz, bereit sich sofort wieder zurückzuziehen. Mit Erleichterung aber auch mit leichtem Bedauern erkennt sie, dass der Platz gegenüber der Bank von einer anderen Yacht belegt ist.

 

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