Von Lina Monse

Das hier war das schwerste, was sie je in ihrem Leben getan hatte. Grüner Rasen wurde unter ihren Füßen zu schwarzem Asphalt, doch sie fühlte nichts. Sollte sie weinen? Vermutlich. Sie sollte schluchzend in ihrem Zimmer liegen, sich hin- und herwiegen, ihrem Herz beim Brechen zuhören. Aber sie konnte nicht. Sie konnte einfach nicht. Die Leere in ihrer Brust war so wohltuend, so beruhigend. Sie wollte sich schuldig fühlen, doch stattdessen fühlte sie sich wie gelähmt. Ihre Hände zitterten. War das normal? Wahrscheinlich nicht. Die Erinnerungen geisterten ganz am Rande ihres Bewusstseins umher, wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, aber partout nicht einfallen will. Die Polizisten an ihrer Tür. Können wir Frau Graf sprechen? Grelle Lichter, der Gestank nach Desinfektionsmittel. Frau Graf? Wir brauchen Ihre Hilfe. Bitte, wir sind verpflichtet ihre Aussage aufzunehmen. Das Schluchzen von Alex‘ Mutter. Mein Sohn! Nicht mein Sohn! Und die ganze Zeit über diese schreckliche Leere, als könnte sie ein Messer in ihr Herz rammen und würde immer noch nichts spüren. Ihr fehlte die Energie, sich zu wünschen, sie könnte etwas fühlen. Jetzt gerade in diesem Moment war sie einfach nur froh, sich nicht damit auseinandersetzten zu müssen, dass sie von nun an ein Stück einsamer war. Ein Stück einsamer…ja, so konnte man es ausdrücken. Als hätte Alex nur die Uni gewechselt, als sei er umgezogen. Und nicht bei einem Autounfall gestorben. Ein hysterisches Lachen brach aus ihr hervor. Erst ein kurzes, hartes Bellen, doch bald schon bebte ihr ganzer Körper, und sie lachte, hohl und leer und schmerzerfüllt. Diese Ironie. Diese verdammte Ironie. Es war so schnell gegangen. Ein Wimpernschlag, und alles war vorbei. Alex hatte immer gesagt, ihr Leichtsinn würde sie eines Tages umbringen. Und wer liegt jetzt leblos unter einem Autowrack?, wollte sie schreien. Wer ist jetzt unwiederbringlich tot? Unwiederbringlich… Verdammt, nun kamen ihr doch die Tränen. Ihre Sicht verschwamm, doch sie hielt nicht an. Es war so schwer. So schwer. Die Kontrolle behalten. Einen Schritt vor den nächsten setzen. Sich langsam aber sicher dorthin vortasten, wo ihr bester Freund gestorben war. Allein dieser Satz klang so surreal, dass sie fast wieder lachen könnte. Alex. Gestorben. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Emily trottete die Landstraße entlang, ganz allein. Das Zittern wurde schlimmer. Hier war die Auffahrt zur Autobahn, da eine endlose Reihe an Bäumen. Sie wusste nicht genau, wo das Wrack lag, doch sie glaubte, gehört zu haben, dass der Unfall ziemlich nah am Tunnel stattgefunden hatte. Zögerlich verließ sie den Bürgersteig, der neben der Straße entlanglief, und bahnte sich ihren Weg durch den Grünstreifen, der die Autobahn einrahmte. War das überhaupt erlaubt? Egal. Es war ja nicht so, als wäre jemand da, um sie aufzuhalten. Kein einziges Auto war in Sicht… Eine Weile lang lief sie nur, immer weiter geradeaus, auch wenn sich jeder Schritt wie eine Meile anfühlte. Das weiß-rote Flatterband wäre ihr fast entgangen. Wie erstarrt blieb sie stehen. Da, dort lag der umgestürzte Laster. Die bunte Sprühfarbe, die die Polizei zur Unfallsicherung auf die Fahrbahn gesprayt hatte, war fast schon vom Regen abgetragen worden, und man hatte den zerquetschten Hyundai bereits abgeschleppt. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Blut? Rauchfahnen? Nein, einen Tag nach so einer Katastrophe war davon nicht mehr viel zu sehen. Langsam aber sicher flossen die Tränen ihre Wangen herab. Ein einzelner Schluchzer entkam ihrer Kehle. Und trotzdem…Sie konnte nicht umhin zu bemerken, dass die Leere in ihrer Brust immer noch genauso lähmend war, wie schon seit Anfang an. Als seien die Tränen, die auf den Boden tropften, nicht ihre eigenen. Was soll das? Warum…warum bin ich nicht am Boden zerstört? Was stimmt nicht mit mir? Emily bleib neben der Absperrung stehen, ließ die morgendliche Kälte in ihren Körper einziehen. Sie wollte wütend sein, traurig sein, irgendwas, doch ihr Herz war wie aus Eis. Probehalber sah sie zu der zerbeulten Leitplanke hinüber, stellte sich vor, wie Alex sich gefühlt haben musste, in den letzten Sekunden seines Lebens, doch auch diese Vorstellung verursachte nichts in ihr. Ihr kam fast die Galle hoch. War sie eine Psychopathin? Ein, zwei Minuten lang stand sie einfach nur da, in der Kälte, doch als nichts geschah, kehrte sie um. Wenn sie gehofft hatte, dass das hier ihr in irgendeiner Weise weiterhelfen könnte, hatte sie sich gewaltig getäuscht. Der Rückweg fühlte sich noch schwerer an als der Weg hierher, doch sie ignorierte das Beben ihrer Hände. Bald schon war würde sie zu Hause sein, und die furchtbare Kälte ihrer Seele mit heißem Kakao füllen. Plötzlich erblickte sie es. Rechteckig, dunkelgelb, nichtssagend. Umleitung. Die groben Blockbuchstaben verschwammen vor ihren Augen. Mit einer Wucht, die sie niemals erwartet hätte, trafen die Gefühle sie. Umleitung? Umleitung? Das war also alles, was von ihm übrig blieb? Ein verdammtes Verkehrszeichen? Eine Fünfminutenverspätung für die Pendler? Ein Ärgernis für die Autofahrer? Das war alles, was von 25 Jahren Leben übrigblieb, von Erfolgen, Nichterfolgen, Lachen, Weinen, Singen, Tanzen, Studieren, Familie gründen? Meine Schuld…es ist meine Schuld!, schrien ihre Gedanken. Nein, nein, nein! Ihre Brust schien sich zuzuschnüren, sie konnte nicht mehr atmen, nicht mehr denken. Das Zittern ihrer Hände weitete sich auf ihren ganzen Körper aus, ihre Beine gaben nach, und dann lag sie auf dem Boden, schluchzend, nach Luft schnappend, und für eine Sekunde glaubte sie, sie müsste streben. Ihr Puls raste in einem unmöglichen Staccato, und ihre Sicht wurde dunkel. Als sie wieder aufwachte, fand sie sich in einem Krankenhausbett wieder. „Panikattacke…Angehörige des Verstorbenen…stand wohl gestern noch unter Schock…“ Emily konnte die Stimmen der Ärzte ausmachen, doch ihre Worte ergaben keinen Sinn. „Was…was ist passiert? Wie bin ich hier hin gekommen?“, fragte sie mit heiserer Stimme. Eine Schwester kam auf sie zu. „Hallo, Frau Graf. Wie geht es Ihnen?“ Sie krächzte: „Ganz in Ordnung. Ich würde gerne wissen, wer mich hier hingebracht hat?“ „Oh, das war der junge Mann hier“, antwortete die Krankenschwester. „Sie hatten ihren Ausweis dabei, deshalb konnten wir auch Ihre Familie identifizieren und herholen. Wollen Sie Ihren Retter kennenlernen? Sein Name ist Alex.“