Von Felicitas Jacobs

Sie hatte ihn kommen sehen. Breitbeinig und langsam ging er direkt zu der Bank, auf der sie saß.

Ein Mann, wie es im Moment viele gab – rasierter Kopf, Stiernacken, Übergewicht, das sich als Muskelpaket zu tarnen versuchte. Ein Handwerker wahrscheinlich, zumindest ließen sein dunkler Overall, eine unförmige Tasche, in der es blechern klapperte und eine kleine, ausziehbare Leiter darauf schließen. Leise stellte er die Utensilien neben der Bank ab.

Schon seltsam, mitten in der Nacht noch zu arbeiten, dachte sie.  

Nachtdienst für Handwerker, keine Ahnung, ob es das gab.

Wozu brauchte man mitten in der Nacht solch eine Leiter? Kurz vor Weihnachten?

Jetzt saß er neben ihr. Seltsam auch, dass er sich diese Bank gewählt hatte, statt der zwei freien im vorderen Teil des Bahnsteigs.

Sie überlegte, aufzustehen und sich umzusetzen, doch irgendeine träge Kraft hielt sie ab.

Sie war müde. Es war spät und der Wirrwarr all der Umleitungen, die sich die S Bahn heute zum hundertsten Mal in dieser Saison erlaubt hatte, füllte ihren Kopf mit gereizten Textbrocken:

Die trauen sich was…, wenn ich noch einmal das Wort Signalstörung höre…man sollte nur noch schwarz fahren…sowas ist keine Umleitung, sondern eine Wegleitung…nein, eine Fortleitung… Ableitung… auf jeden Fall die allerletzte Leitung nach Teltow.

Immerhin müsste die Bahn in Kürze kommen, falls die Lautsprecheransagen zutrafen.

Sie seufzte und wischte den Schweiß aufkommenden Zorns von der Stirn.

Atmete ruhig ein, ruhig aus. Sie hätte ein Taxi nehmen sollen, zum Teufel.

Aber wer hätte auch nach der ersten Ankündigung einer Umleitung gedacht, dass dieser noch drei weitere folgen würden? Dies jetzt war immerhin die letzte Etappe. Kurz vor Mitternacht, das musste man sich mal vorstellen, erreichte sie die letzte Bahnverbindung nach Hause.

Sie würde jetzt sitzenbleiben mit den Taschen voller Weihnachtseinkäufe, die sie heute Vormittag besorgt und zum Spätdienst ins Krankenhaus mitgenommen hatte, und würde sich nicht mehr rühren, bis der letzte Zug kam.

Augen schließen. Einatmen. Ausatmen. Augen öffnen. Lächeln.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als der Mann neben ihr laut hustete, und riss die Augen auf.

Er starrte bewegungslos nach vorne. Plötzlich rieb er sich den Unterkiefer, spuckte einen Kaugummi aus und wickelte ihn in ein Papiertaschentuch, das er in den Mülleimer neben sich warf, ohne mehr als den Arm zu bewegen. Dann schnaubte er – anders konnte sie es nicht nennen – er schnaubte wie ein Pferd. Eine stumme Aggressivität ging von ihm aus, eine stille Wut gegen die Welt. Wie alt er wohl sein mochte?

Sie folgte seinem Blick und betrachtete das große Plakat, das sie schon oft aufmerksam betrachtet hatte, während des Wartens auf die Bahn.

Schwarze Augen blickten auf sie beide hinunter, ein dunkelhäutiger Fußballer hielt seine Arme verschränkt vor dem Oberkörper, muskulös und durchtrainiert. Eine riesengroße Fotografie, die für die Sinfoniker Leipzig warb und für Bachs Weihnachtsoratorium. Ein Musiker mit einer Pauke in der Hand, daneben der Fußballer mit dem weißen Trikot der Leipziger Mannschaft.

Sicher ein wunderbares Konzert. Sie hatte das Plakat heute wegen all der Umleitungen und damit verbundenen Umsteigerei plötzlich auf mehreren Bahnhöfen hängen sehen, in verschiedenen Ausführungen. Mal war es eine Musikerin mit Geige, mal ein Mann mit einem Saxophon.

Und fast immer stand ein Leipziger Fußballer mit dunkler Hautfarbe und weißem Trikot daneben.

Plötzlich stockte ihr Atem. Du liebe Zeit.

Womöglich war es das, was den Mann in Wut brachte. Auf zwei Bahnhöfen hatte sie gesehen, wie auf dem Plakat der dunkelhäutige Fußballer komplett mit weißer Farbe übermalt worden war, seine Beine, das Trikot, die über der Brust verschränkten Arme und zum Schluss die schwarzen Augen. Meter für Meter, Zentimeter für Zentimeter alles weiß.

Schluss mit deutschem Kulturgut und dunkelhäutigen Fußballspielern in trauter Eintracht.

Sie hatte den Vorfall auf dem Internetportal der Deutschen Bahn und dem Anrufbeantworter der Hotline schon gemeldet. Außer höflichen Ansagen, vielen Dank für den Hinweis, wir kümmern uns und so weiter war keine Reaktion zu erwarten gewesen und kam auch nicht.

Ihre Hände begannen zu kribbeln und schwitzten auf einmal trotz der winterlichen Kälte in den Handschuhen. Was sollte sie tun? Sollte sie überhaupt etwas tun?

Sie versuchte, einen Blick in die Tasche des Mannes zu werfen. Und wenn da Farbe drin war? Eine Leiter, weiße Farbe, ein Pinsel. Mehr brauchte man nicht für solch ein Unterfangen.

Himmel hilf…Sie konnte den Mann ja schlecht fragen, entschuldigen Sie, wollen Sie ihrem Rassismus gleich freien Lauf lassen und dieses Plakat überpinseln? Oder: Zeigen Sie doch mal, was Sie in der Tasche haben. Oder: ich weiß, was Sie vorhaben, denken Sie gar nicht erst dran, ich rufe die Polizei. Oder – oder was.

Es war spät und sie war müde, kein guter Zeitpunkt, sich mit einem Unbekannten anzulegen und einen Streit vom Zaun zu brechen. Nicht, dass sie das gelegentlich nicht gerne täte.

Man muss Stellung beziehen in diesen Zeiten, dachte sie oft. Und hier bot sich eine gute Gelegenheit dazu, denn das war der Anlass, der sie im Moment am meisten aufregte, dieser Hass auf alles Fremde. Ohne Punkt und Komma konnte sie das in Wallung bringen, ganz egal, wie sehr sie sich bemühte, ruhig zu bleiben.

So kannst du die Welt nicht retten, sagte ihr Mann, wenn das Temperament mit ihr durchging. Weiß ich selber, zischte sie dann. Will ich auch gar nicht. Ich will mich selber retten, damit ich morgen noch in den Spiegel schauen kann. Ihr Mann seufzte.

Schatz, weiß ich doch. Beruhige dich. Aber nein, sie wollte sich nicht beruhigen.

Falls hier einen Tag vor Weihnachten jemand mitten in der Nacht seinen Fremdenhass in die Welt malen wollte, würde sie dem etwas entgegenhalten.

Das wollen wir doch mal sehen, dachte sie grimmig und schob die Tüten mit ihren Weihnachtseinkäufen zu einem übersichtlichen Haufen zusammen. Sie war jetzt hellwach.

Sie würde hier sitzen bleiben und die letzte Bahn verpassen. Egal. Es war zu einem guten Zweck.

Und nach all den Umleitungen den ganzen Abend lang kam es darauf jetzt auch nicht mehr an.

Denn so würde sich zeigen, was der Mann vorhatte mitsamt seiner stummen Wut.

Sie schaute zur Bahnhofsuhr. Im gleichen Augenblick flimmerten die Lichter der sich nähernden S-Bahn durch die neblig trübe Nacht. Es war die letzte, laut Fahrplan, danach fuhren keine Züge mehr bis zum frühen Morgen.

Sie wartete, bis die austeigenden Männer und Frauen die Treppe hoch verschwunden waren.

Dann erklang das singende Abfahrtssignal der Bahn.

Der Mann neben ihr blieb sitzen.

Sie triumphierte innerlich, ihr Herz begann schlagartig laut und schnell zu klopfen.

Hatte sie’s doch gewusst. Sie griff in der Manteltasche nach ihrem Smartphone und machte sich bereit für das, was jetzt unweigerlich kommen musste. Er würde gehen müssen und seine schäbige Absicht aufgeben, denn sie war ab jetzt eine mögliche Zeugin. Doch vorher würde sie ihn zur Rede stellen. Und falls er sie belästigte und beschimpfte, würde sie den Notruf wählen.

Sie legte sich gerade ihren ersten Satz zurecht, als der Mann auf einmal aufstand und hastig nach seiner Tasche und der Leiter griff. Dann eilte er zur Treppe. Sie sah ihm verwirrt hinterher.

Am oberen Treppenende war eine junge Frau wie aus dem Nichts aufgetaucht, die dem Mann winkend entgegenlief, oder besser, hastete. Sie flog die Treppe förmlich hinunter statt hoch, konnte also nicht in dem Zug gewesen sein. Sie trug einen leuchtenden, pinkfarbenen Pullover mit Elch und neonstrahlende Sneakers.

„Ich habe ein Auto heute,“ rief sie und klang fröhlich. „Von Ilse. Du hättest den Kram nicht schleppen müssen. Hast du kein Handy dabei? Ich hatte angerufen und haufenweise WhatsApp Nachrichten geschickt. Gib her die Tasche. Und hoffentlich hast du den Lack noch nicht besorgt. Denn statt weißer Farbe habe ich hellrote…find ich schöner…hell …warme Farben…“.

Den Rest verstand sie nicht mehr, die beiden waren am oberen Treppenende Richtung Ausgang verschwunden.

Sie starrte auf ihre Weihnachtseinkäufe.

Langsam nahm sie ihr Smartphone und rief die Taxi App auf.

Als sie sich endlich durchgerungen hatte zu wählen, brauchte sie nicht lange zu warten.

„Wohin soll’s denn gehen?“ hörte sie eine forsche Stimme.

„Nach Hause“, sagte sie leise…