Von Heike Weidlich

1973: Eine kleine Grundschule in einem Vorort Stuttgarts, an einem sonnigen Oktobertag, auf dem Pausenhof:

„Erster!“ Mit hochrotem Kopf schlägt Rolf die Hand an die Rutsche und sieht sich triumphierend um. Andi, ihm dicht auf den Fersen, wird Zweiter, Bernd, wie erwartet, Letzter. Japsend, mit puterrotem Kopf, läuft er die letzten Meter. Dann setzen sich die Buben unter die große, mitten auf dem Schulhof stehende Linde, und packen ihr Vesper und ihre Autokarten aus.

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Am gleichen Nachmittag auf der Terrasse der Schröders:

„Jetzt zieht‘s ganz schön an, findet ihr nicht auch?“ Inga sieht die anderen Mütter fragend an.

„Klar, war ja nicht anders zu erwarten. Ist schließlich die dritte Klasse. Da geht’s um die Wurst!“ Genüsslich nippt Martina an ihrem Kaffee.

„Also, ich finde ja schon, dass den Kleinen ganz schön viel zugemutet wird. Wenn‘s nach den Lehrern ginge, hätten die gar keine Zeit mehr zum Spielen. Die Kindheit ist doch so schnell vorbei.“ Monika sieht die beiden anderen zweifelnd an.

„Ja, find ich auch. Man muss echt aufpassen, dass sich das in der Waage hält.“

„Ach was! Wenn aus denen was werden soll, dann müssen sie halt die Arschbacken zusammenkneifen.“

 

 

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1974: Nach der feierlichen Zeremonie der Zeugnisübergabe, richtet die Klassenlehrerin Fräulein Harton, bei der Verabschiedung an jeden ihrer Schüler ein paar persönliche Worte:

„Na Andi, da hast du ja einen tollen Endspurt hingelegt. Ich wünsche dir ganz viel Erfolg in deiner neuen Schule!“

„Bernd, ich weiß, du wolltest mit Andi aufs Gymnasium. Leider hat‘s nicht ganz gereicht. Aber wenn du fleißig bist, kannst du immer noch aufs Gymi wechseln.“

Aufmunternd fährt sie Rolf übers Haar: „Rolf, auch die Hauptschule ist keine Einbahnstraße. Wenn du dich anstrengst, stehen auch dir alle Wege offen.“

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Am nächsten Nachmittag bei Kerns im Garten:

Martina schwenkt ihre frisch manikürten Fingernägel durch die Luft: „Heureka! Endlich mal sechs Wochen Pause. Dieses ständige Lernen und Antreiben hängt mir zum Hals raus. Und nachmittags ständig zu Nachhilfe, Tennis und Geigenunterricht kutschieren ist auch nicht grade die Erfüllung.“

„Warum macht Andi denn auch so viel?“

Martina verdreht die Augen: „ Ha, wenn‘s nach dem ginge, der würde den ganzen Tag nur mit seinen ferngesteuerten Autos oder seinen Experimentierkästen rumspielen. Aber es ist doch wie‘s ist: Ohne Fleiß kein Preis!“

„Bernd ist schon enttäuscht. Er wollte unbedingt aufs Gymi und hat sich so angestrengt. Aber, ich weiß auch nicht. Er tut sich einfach schwer. Ganz anders als seine Schwester. Die lernt höchstens halb so viel und schreibt trotzdem die besseren Noten.“

„Also, Rolf wäre schon gern auf die Realschule gegangen. Aber, was soll’s! Jetzt haben wir uns halt die Hauptschule angesehen und er fand die Werkräume und die Sporthalle total klasse. Ihr wisst ja wie gern er kickt, und jetzt freut er sich eigentlich auf die neue Schule.“

Martina nimmt sich noch ein Stück Kuchen: „Du, ich find das voll ok. Wir brauchen ja schließlich auch Arbeiter, nicht nur Akademiker. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle studieren wollten?“

 

 

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Status quo 1978:

Andi fläzt sich, die Beine weit von sich gestreckt, auf seinem Stuhl, während sein neuer Klassenlehrer in der Realschule ihn soeben ins Gebet nimmt: „Wenn du dich nicht endlich mal anstrengt, wirst du das Klassenziel nicht erreichen und die Klasse wiederholen müssen.“

„Pff, und wenn schon.“

 

Bernd steht vom Esstisch auf. „ Schaust du nicht mit „Dalli Dalli“? Fragend sieht ihn sein Vater an.

„Ich würd schon gern. Aber wir schreiben morgen Englisch. Nicht grade mein Fach! Da muss ich leider noch ein bisschen was tun.” Bedauernd zuckt er die Schultern und verschwindet in seinem Zimmer. Seit er letztes Jahr aufs Gymi gewechselt hat, muss er noch mehr lernen wie seither.

 

„Rolf, im Frühjahr sind Prüfungen. So wie’s bis jetzt aussieht, wirst du hervorragend abschneiden. Ich weiß, du willst eine Lehre machen,  aber ich wollte dich bitten einmal darüber nachzudenken, ob du nicht doch noch ein bisschen Schule dranhängen und die Mittlere Reife machen möchtest.“

 

 

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1994:  Samstagabend, Cocobello Bar, der harte Kern des Klassentreffens zu vorgerückter Stunde:

„Unglaublich, dass wir uns so aus den Augen verloren haben!“ Bernd nimmt einen Schluck Bier.

„Hätte ich auch nie gedacht. Ihr wart schließlich immer meine besten Kumpels.“ Nachdenklich sieht Andi seinen Rauchkringeln hinterher. „Und, wenn ich mir‘s recht überlege, seid ihrs immer noch“, fügt er leise hinzu.

„Wisst ihr eigentlich, dass unsere Mütter sich nach wie vor zu ihrem Kaffeekränzchen treffen? Ab jetzt sehen wir uns auch wieder regelmäßig. Versprochen! Definitiv gesetzt ist auf jeden Fall ab jetzt der Stammtisch jeden ersten Dienstag im Monat!“ Rolf strahlt die anderen an, nimmt noch einen kräftigen Schluck und schwankt nur leicht dabei.

 

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Am darauf folgenden Mittwochnachmittag, bei Hellers im Esszimmer:

 

„Andi hat mir erzählt, dass er am Samstag beim Klassentreffen war. Beinahe alle aus der alten Grundschulklasse seien dagewesen.“

„Mensch, das war schon eine aufregende Zeit als unsere Kinder noch klein waren.“

„Das kannst du laut sagen! Wenn ich nur dran denk wie schwierig es war, meinen Stubenhocker dazu zu bewegen, seinen Schreibtisch zu verlassen. Du musst auch mal an die frische Luft, dich bewegen, Freunde treffen, bin ich ihm ständig in den Ohren gelegen. Ihr wisst ja, heute würde man sagen, work-life-balance oder so. Und als er dann aufs Gymnasium gewechselt hat, wurd’s noch schlimmer. Zeitweise haben wir ihn nur noch Grottenolm genannt.“ Monika grinst. „Aber: Heute ist er Doktor der Chemie. Getreu seinem Wahlspruch: Mit Geduld und Spucke, fängt man eine Mucke!“

„Von diesem Ehrgeiz hätte sich Andi ein Stück abschneiden können! Was war der faul. Hätte ich ihn nicht immer so angetrieben hätte er es nicht einmal aufs Gymnasium geschafft.“

„Aber“, Inga zögert kurz: „ Musste er nicht nach ein paar Jahren auf die Realschule runter?“

Martina schluckt, dann macht sie eine wegwerfende Handbewegung: „Schon, aber du glaubst nicht, was da Unterricht ausgefallen ist, und er hatte eben auch unmögliche Lehrer und …“ Doch dann gibt sie sich einen Ruck: „Ach was, auch auf der Realschule war’s ein fauler Sack. Und mir ist dann irgendwann der Kragen geplatzt. Ich hab ihn auflaufen lassen. Keine Mami-Nachhilfe mehr.“

„Und dann?“

„Na, sitzen geblieben ist er.“ Martina fährt sich durchs Haar. „Die mittlere Reife hat er grade so mit Ach und Krach geschafft. Aber für seine Leistungen während der Ausbildung wurde er ausgezeichnet. Da hat’s dann wohl klick gemacht. Und was soll ich sagen: Heute ist er Techniker für Fahrzeugtechnik.“ Sie rührt in ihrer Tasse: „Wie war das bei Rolf eigentlich nochmal genau?“

„Für Rolf war’s klar, dass er Zimmermann werden will. Aber er hatte einen tollen Lehrer, der ihn motiviert hat, nach der Hauptschule noch die mittlere Reife dranzuhängen. Später hat er dann seinen Meister gemacht. Und heute, na das weißt du ja selber.“ Inga lacht.

„Ja, heute ist er ein erfolgreicher Unternehmer, der gerade bei meinen Nachbarn den Dachstuhl ausbaut.“

Inga hebt ihr Glas: „Prost meine Damen! Trinken wir auf unsere erfolgreichen Jungs, die, wenn auch mit einigen Umwegen, die Kurve gekriegt haben!“

Alle nehmen einen kräftigen Schluck, kippen noch ein Likörchen hinterher und hängen dann eine Weile ihren Gedanken nach. Doch die Stille ist nicht unangenehm.

„Wahrscheinlich muss man eben so manche Umleitung im Leben nehmen um sein Ziel zu erreichen“, sinniert Martina nach einer Weile.

Monika räuspert sich: “Umleitung, hm ja, so könnte man sagen.“ Sie überlegt einen Moment: „Aber vielleicht ist es auch einfach nur so, dass eben jeder seinen eigenen Weg gehen muss.“

 

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