Von Laura Müller

Es ist schon spät, die Sonne scheint durch das Fenster und verwandelt das Schlafzimmer in eine lichtdurchfluteten Raum. Einen Ort, atemberaubend schön. Eine Schönheit, die ihm bisher nur zuteil wurde, wenn niemand da war. Eigentlich war es der bemitleidenswerteste Raum des Hauses. Hatte Freude bisher nicht miterlebt und war genau so wenig auf die hereinbrechende Sonne eingestellt wie Madame Milou.

Sie zupfte gerade noch die letzten Fetzen ihres Kleides zurecht. Heute sollte ein schöner Tag werden. Seit langem wieder einmal ein schöner Tag.

Jahrelang hatten sie und ihr Mann darauf gewartet. Ihr Mann weniger als sie aber es hatte zu einem immer wiederkehrenden Wortwechsel darüber gereicht. Ein kleines Wortgeplänkel, das ihnen nach den mühsam erreichten 8 Jahren Ehe an den meisten Tagen so schwer fiel.

Über sie beide hatten sie immer wieder ein Wort verloren, auch zwei um das kurze Überkommen von inniger Gemeinsamkeit zu haben. Sie machte sich vor allem Sorgen. Immerhin war sie ihre kleinere Schwester. 

Sie, vom Leben gezeichnet, unglaublich chaotisch und erschreckend unorganisiert. Dann wurde sie auch noch schwanger im letzten Jahr und Mutter von diesem armen kleinen, hilflosen Geschöpf. Kann nicht hören und wird für jeden Entwicklungsschritt länger brauchen als andere Kinder. 

Armes Ding, sie beide. Und dann dieser Mann, der sie nicht heiratete. Nicht heiraten wollte, wie sie alle glaubten. Madame Milou begoss sich mit leichten Spritzern ihres einmal hochgeschätzten Parfums. An der Wand reihte sich Flakon an Flakon. Leere, halbvolle, volle und halbleere. Es waren vor allem Mitbringsel ihres Mannes, sie standen da, voll und unberührt. Nicht wartend auf einen würdigen Anlass. Eher darauf hin sehnend, dass der Staub sich ihrer annimmt oder die Putzfrau sie beim wöchentlichen beseitigen letzter menschlicher Zwischengeräusche versehentlich fallen ließ. Bis heute war nichts dergleichen geschehen, die Putzfrau machte ihre Arbeit zu gewissenhaft. 

Der Parfümdunst benebelte sie, verblendete ihren Geist und betäubte sie. Schmerzlos war sie, symptomfrei. Sie konnte gehen. 

 

Auf dem Weg wechselten sie kein Wort. Es wäre überflüssig gewesen. Hätte sie beide herausgefordert und der Tag war noch so jung. Sie würden heute viel Zeit miteinander verbringen – müssen. 

Madame Milou freute sich. Sie war schon lange nicht mehr in Gesellschaft von Freunden und Familie gewesen. Hatte sich für den heutigen Anlass extra ein neues Kleid gekauft. Die alten hingen seit Jahren unbenutzt auf der Kleiderstange. Hatten sich sicherlich ein anderes Dasein gewünscht, waren auch sicherlich in der festen Annahme ins Haus gekommen Glück zu verbreiten, das ausblieb. Sie sah aus dem Fenster, sehnte den Tag so sehr herbei. Hatte jahrelang auf die Einladung gewartet, es vergangenen Herbst begonnen aufzugeben. Sie legte diese Erwartung ab. Unter einem ihrer Flakons, oder Blumentöpfen auf der Terrasse. Bis heute hatte sie sie nicht mehr gefunden. 

Aber die Einladung flatterte ins Haus. 

Vor drei Monaten. Sie freute sich. Trug den Termin stillschweigend in den Kalender ein und hoffte, Monsieur Milou würde sowieso keine Blick hinein verschwenden. 

Aber er tat es und das schneller, als sie sich darauf vorbereiten konnte. Und darum saßen sie jetzt im Auto. In ihrem Wagen. Er fuhr und sie sagte kein Wort. 

 

Natürlich waren sie nicht die ersten. Eigentlich waren schon alle Gäste da und man wartete aufs Brautpaar. 

 

Locker und unauffällig mischten sie sich unter die Gäste. Sie sorgte für sich, kümmerte sich nicht weiter um ihn. Einige Gäste erkannte sie wieder. Wo hatten sie sich schon einmal gesehen? Waren das wirklich die alten Freundinnen ihrer Schwester, die auch heute noch zu ihrer Hochzeit kommen? Sie hatte nicht einen Bekannten mehr aus ihrer Kindheit oder Schulzeit. 

Sie spürte ein Unwohlsein in sich aufsteigen. Eine flaue Übelkeit kündigte sich an. Es beschlich sie das bittere Gefühl und der gleichzeitig saure Geschmack von Einsamkeit, von Bedeutungslosigkeit. 

Alle waren sehr nett zu ihr. Gerade der Mann am Tisch ihr schräg gegenüber. Ein Dandy-Verschnitt aus einer für sie übersprungenen, verpassten Zeit. Er war ihr gleich zu Anfang aufgefallen. Smart. Lächelte nett in die Runde, bewegte sich so beschwingt und frei unter all den Menschen, die er offensichtlich genauso wie sie noch nie gesehen hatte, denn er stellte sich immer wieder mit Namen vor. Ein einfacher Name, zu schwierig für sie, ihn sich zu merken. 

Er bot ein interessantes Bild. Wer die Platzverteilung vorgenommen hatte, wusste sie nicht. Dass dabei Fehler gemacht worden waren, fiel ihr auf, als sie neben Monsieur Milou platz nahm, den sie glückliche zwei Stunden lang nicht vermisst hatte. Der Dandy nahm gegenüber von ihr Platz. Führte mit seiner Nachbarin angeregten Smalltalk und kümmerte sich rührend um den tauben Jungen auf seiner anderen Seite. Nichts entgleiste ihm. Weder seine Gesichtszüge, noch die Wasserkaraffe. Er bewegte sich, er sprach so taktvoll. Sie fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. 

Während sie seinem Gespräch lauschte starrte Monsieur Milou Löcher in die Tischdecke. 

Warum waren sie zusammen hier her gekommen. Hatten sie überhaupt gemeinsam auf der Einladung gestanden? Was hatte sie sich dabei gedacht, was er?

 

Das Essen wurde aufgetragen. Rauken-Salat, versehen mit einigen Granatapfelkernen. Dazu ein halbes Wachtelei. Sie konnte nichts essen. Es schnürte ihr den Hals zu. Monsieur Milou hatte seinen Teller schon zur Hälfte geleert und würde gleich fragen, ob er auch ihren leeren dürfe. Nein, er würde nicht fragen. Sie schob ihren Teller zu ihm. Ihre Knie fühlten sich an wie Gummi. Sie würde von nun an für immer auf diesem Stuhl sitzen bleiben müssen. 

Aus ihren Augenwinkeln bemerkte sie, wie Monsieur Milou schweigend weiter aß. Abstoßend. Einfach ekelhaft. Es überkam sie abrupt, völlig unerwartet. Sie spürte auf einmal die Abneigung, die sich in den vergangenen Jahren in ihr angesammelt hatte. Sie sah Monsieur Milou an und der Schweiß perlte an ihrer Stirn herab. Sah sein kauendes Gesicht. Seinen nichts sagenden, noch nie etwas sagenden Gesichtsausdruck. Abstoßend. Und plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Ihr wurde klar, er würde immer weiter essen, fressen, weil auch ihm klar geworden war, beim Anblick all dieser glücklichen Menschen, dass er hoffnungslos verloren war. Dass er Pech gehabt hatte, dass das Schiff der Glückseligkeit an ihm vorbeigefahren war, ihn vergessen hatte. 

Er hatte es zur gleichen Zeit bemerkt wie Madame Milou. Und als ihr Appetit versagte, überkam ihn solch eine Lust. So  eine Gier, alles in sich hineinzustopfen. 

Und durch seinem Appetit fand sie plötzlich wieder Worte für ihn. Endlich hatten sie wieder einen Sinn. Zum ersten Mal seit acht Jahren hatte sie Angst um ihrer beider Zukunft. Immer noch von grün schäumender Übelkeit geschüttelt, aber schon wieder zu klaren Gedanken fähig, wendete sie sich zu ihm um. Liebevoll sah sie ihm in die Augen und sagte. „Monsieu, ich muss jetzt leider gehen, ich habe wohl die falsche Abzweigung gewählt!“