Von Ulli Lenz

Sandra setzt den Blinker und biegt auf den Parkplatz des Einkaufszentrum. Genervt wechselt sie den Radiosender, um dem jämmerlichen Gejaule einer amerikanischen Sängerin zu entkommen.

„…kommt es in weiten Teilen des Landes zu Wärmegewittern“, ertönt die angenehme Stimme des Nachrichtensprechers. „In den nächsten Tagen bleibt es trotzdem unverändert heiß, erst am Sonnt…“

In der erstbesten Parklücke kommt sie zum Halten und würgt den Motor und damit auch das Radio ab. Dann dreht sie sich aufseufzend zu ihren Kindern am Rücksitz um. „So, geschafft. Wir holen schnell Omas Kompressionsstrümpfe ab, besorgen für euch beide noch ein paar Sachen für den Urlaub, und dann machen wir uns ein schönes Wochenende, ok?“

„Mama, was heißt denn un?“, fragt Felix mit gerunzelter Stirn.

„Was meinst du mit un, Schatz, ich verstehe nicht ganz.“ Verständnislos blickt Sandra ihrem Sohn ins Gesicht.

„Na, der Mann sagte doch, es bleibt un verändert heiß“, erklärt Felix geduldig.

„Ach so, du meinst den Nachrichtensprecher“, wird Sandra der Zusammenhang klar. Sie steigt aus und lässt ihre beiden Kinder aus dem Auto hopsen, um währenddessen über eine Antwort nachzudenken.

Un bedeutet, dass etwas nicht ist. Also, wenn ich nicht zufrieden bin, dann bin ich unzufrieden. Wenn etwas nicht angenehm ist, ist es unangenehm. Oder wenn du deine Schwester nicht absichtlich geschubst hast, dann war es also…“

Unabsichtlich!“, krähen Felix und Lina im Chor, und entlocken Sandra damit ein Lachen.

„Genau, ihr zwei Schlaumeier!“

 

„Das macht Fünfundvierzig Euro zwanzig, bitte.“ Die Verkäuferin schiebt die Kleidungsstücke in eine Papiertüte. „Hätten Sie es vielleicht genau? Mein Wechselgeld ist heute schon etwas knapp.“

Sandra kramt in ihrer Geldtasche, dann schüttelt sie den Kopf. „Tut mir leid“, antwortet sie, und gibt der Dame einen Fünfziger.

„Oje, Mama hat es nur ungenau“, flüstert Lina ihrem Bruder zu. Plötzlich fällt ihr etwas anderes ein und sie wendet sich an ihre Mutter: „Mama, was ist denn der Herr Stenker?“

Sandra verstaut das Wechselgeld, hängt sich die Handtasche um, und greift zur Einkaufstüte. „Du hast es doch schon gesagt: Herr Stenker. Er ist also ein Mann, Mäuschen.“

„Ja, das weiß ich schon, aber WAS ist er?“, insistiert die Kleine, und schiebt sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwänzchen gelöst hat.

Irritiert nimmt Sandra ihre Tochter an die Hand und vergewissert sich, dass Felix ihnen folgt. „Es tut mir leid. Ich verstehe deine Frage nicht.“

„Na, wenn er kein Mensch ist, was ist er denn dann?“ Gespannt schaut Lina zu ihrer Mutter auf.

Vollends verwirrt erwidert diese ihren Blick und meint dann: „Wie kommst du darauf, dass er kein Mensch ist?“

„Gestern hat er sich wieder einmal über den Lärm vom Spielplatz aufgeregt, und da hat die Oma gesagt, dass der Herr Stenker ein Unmensch ist.“

Prustend bleibt Sandra stehen und kostet den Moment herzhaften Lachens aus, bevor sie ihre Tochter darüber aufklärt, dass die kleine Vorsilbe auch ihre Ausnahmen macht.

„Weißt du, in diesem Fall zeigt un etwas Schlechtes an. Unmensch bedeutet also schlechter Mensch.“

„Ach so!“ Auch Lina muss jetzt lachen.

Felix bleibt ernst und man sieht ihm an, dass es in seinem Kopf rattert. „Und wie weiß ich dann, was das un meint?“

„Ich denke, das kann man nur durch Erfahrung erlernen“, mutmaßt Sandra. „Es gibt Wörter, bei denen das un ‚nicht‘ meint, und andere, wo es etwas Negatives, also etwas Schlechtes anzeigt. Und vielleicht gibt es sogar noch andere Bedeutungen, so genau habe ich noch nie darüber nachgedacht“, muss sie zugeben.

„Ganz schön unlogisch“, meint Felix grinsend.

„Stimmt!“, sagt Sandra, und alle drei lachen.

 

Kurze Zeit später haben sie ihre Einkäufe erledigt und drängen endlich Richtung Ausgang. Als sie die Drehtür zum Parkplatz passieren, entdecken sie dicke, schwarze Wolken am Himmel.

„Hui, schauen wir, dass wir nach Hause kommen, es gibt gleich ein Unwetter!“, ruft Sandra.

„Aaah, ein Unwetter! Also schlechtes Wetter, aber trotzdem ein Wetter, oder Mama?“, fragt Felix.

Verblüfft schaut Sandra ihren Großen an: „Was bist du nur für ein schlauer Kerl!“

„Versteh‘ ich nicht“, mault Lina.

 

Angespannt starrt Sandra durch die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer kommen fast nicht gegen den starken Regen an, sodass sie nur langsam fahren kann.

„So ein Mist! Ich habe keine Ahnung, ob wir noch richtig sind. Können die eine Umleitung nicht besser ausschildern? Das ist das reinste Labyrinth hier!“ Frustriert schlägt Sandra mit der Hand aufs Lenkrad.

„Mit Papas Auto wären wir schon längst daheim, das hat ein Navi“, nörgelt Lina, die zunehmend missmutiger wird.

„Mama, was bedeutet denn das um bei Umleitung?, fragt Felix.

„Nicht jetzt, Schatz“, stöhnt Sandra genervt, „ich muss mich wirklich auf die Straße konzentrieren.“

 

„Ich denke, um hat etwas mit herum oder rundherum zu tun“, meint Sandra schließlich einige Minuten später zu Felix. „Umzäunen, umfahren, Umweg. Könnte doch sein, oder?“ Sie schaut ihren Sohn im Rückspiegel an. „Zumindest glaube ich das.“
Felix nickt zustimmend.

„Mir egal“, meckert Lina, „ich bin hungrig.“

 

„Das kann doch nicht wahr sein! Wieso ist hier eine Sackgasse?! Das Umleitungsschild hat doch eindeutig diese Abzweigung angezeigt, oder? Scheiße!“, entfährt es Sandra.

„Scheiße darf man nicht sagen“, sagt Lina entrüstet.

„Wahrscheinlich ist es ein Schreibfehler“, unkt Felix, „die meinen nicht Umleitung, sondern Unleitung. Damit man weiß, dass man nicht geleitet wird.“

„Echt, jetzt?“, fragt Lina verunsichert. „Wir werden nie heimkommen und dabei bin ich schon am Verhungern! Wieso haben wir diese blöden Strümpfe genau in so einem Labumrinth abholen müssen“, jammert sie mit hoher Stimme, nun den Tränen nahe.

„Blödsinn. Felix, mach‘ deiner Schwester nicht unnötig Angst. Natürlich ist es nicht falsch geschrieben.“ Genervt wischt sich Sandra mit der Hand über das Gesicht.

„Vielleicht wurde die Tafel aber falsch aufgestellt“, überlegt sie dann laut. Entschlossen wendet sie das Fahrzeug, um zurückzufahren. „Kinder, bitte lasst mich mal kurz in Ruhe, bis wir wieder auf dem richtigen Weg sind. Ich schaffe es nicht, nebenbei noch zu reden, wenn ich beim Fahren so gefordert bin.“

 

„Vielleicht hat jemand heimlich das Schild falsch hingestellt?“, flüstert Lina Felix zu. „Das wäre aber blöd!“

„Pfft. Warum soll jemand das heimlich machen? Wie ein Einbrecher meinst du?“, antwortet Felix leise und schüttelt den Kopf. „Ein Bauarbeiter von der Baustelle kann das ganz unheimlich machen und trotzdem würde keiner bemerken, dass er absichtlich gemein ist!“ Felix verschränkt die Arme demonstrativ und guckt finster.

„Ja, aber was ist, wenn der Bauarbeiter das unabsichtlich gemacht hat?“, verfolgt Lina den Gedanken weiter. „Dann ist der Bauarbeiter ungemein. Eigentlich.“

 

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