Von Juliane Soain

Cori steht vor einer Straßensperre. Sie hat ganz vergessen, dass die Straße instandgesetzt wird. Sonst ist sie überkorrekt. Gibt 110 %. Solche Schusseligkeitsfehler passieren ihr für gewöhnlich nicht.

Notiz an mich selbst. Den Assistenten morgen zur Sau machen.

Nun hat Cori den Salat und muss mit den Anderen im Stau stehen. Sie kann es kaum fassen. Die Umleitung führt auch noch über eine Straße, die sie sonst nicht nimmt, weil man auf dieser Strecke 30 Sekunden länger braucht. Nach einer Stunde im Stau gibt Cori verzweifelt auf. Sie fährt auf den Bürgersteig und parkt ihr Auto. Als Cori sich umschaut, entdeckt sie ein Café. Sofort bekommt sie ein schlechtes Gewissen. Das ist das Café, welches ihre Freundin Lisa ihr immer empfohlen hat. Wollte mit ihr hingehen. Hat immer nachgefragt, bis sie irgendwann nicht mehr nachfragte. Cori hatte nie Zeit hinzugehen. Immer gab es etwas Wichtiges auf der Arbeit zu erledigen. Was ist eigentlich aus Lisa geworden? 

Wie lange ist es her, als sie das letzte Mal versucht hat mich in das Café einzuladen? Sie hat wirklich harte Zeiten hinter sich, aber was soll ich machen, wenn es einfach Wichtigeres zu tun gibt?

Cori zieht ihr Telefon aus der Handyhülle und schaut in den Chatverlauf. Sie muss ziemlich weit blättern, bis Lisas Name, hinter all den wichtigen Kontakten, auftaucht. Cori wird nachdenklich.

4 Jahre sind seit dem letzten Kontakt vergangen. Kann ich ihr noch eine Nachricht schicken?

Sie beginnt zu tippen. Absoluter Standard. Fast schon geschäftlich. Als die Nachricht fertig ist, kommt sie ins Zögern. Coris Finger schwebt über dem Senden-Knopf. Sie wirft das Handy auf den Beifahrersitz und seufzt. Es regnet. Das Wasser sammelt sich auf der Scheibe. Einige Tropfen vereinen sich und fließen an der Scheibe hinunter. Sie betätigt den Wischer. Der Stau scheint sich aufzulösen. Cori sieht, wie die Autos weiterrollen.

Ihr Telefon miaut. Sie war nicht immer so ernst. Ein Relikt aus vergangener Zeit. Cori luschert aufs Display. 

Empfänger unbekannt. Eine kalte Nachricht kommt zurück, passend zum Gesendeten.

Eigentlich muss sie nach Hause, weiterarbeiten. Irgendwas zieht sie aber in das Café. Sie öffnet die Tür.

„Pass doch auf du blinde Kuh!“, schimpft ein Fahrradfahrer.

Coris Neugier treibt sie an. Sie schmeißt die Tür zu und betritt das Café.

Auf einem gemütlichen Platz in der Ecke setzt Cori sich. Von da kann sie das Geschehen überblicken. Sie beobachtet die Bedienung. Als sie zu ihrem Tisch kommt, bestellt Cori sich einen Snack und etwas zu trinken. Ihr Name ist Ellen. Sie wirkt glücklich. Erzählt mit den Leuten. Lacht ab und an, wenn sie etwas Witziges erzählen und serviert die Bestellungen.

Es ist schön hier. 

Sie stellt sich vor, wie es hier wohl mit Lisa wäre. 

Sie würde bestimmt, mit ihrem Gegacker, alle hier Anwesenden unterhalten.

Cori lächelt und vermisst ihre Freundin, bis sie aus ihren Gedanken herausgerissen wird. „Hier ist Ihr Latte macchiato und der Blaubeerkuchen. Lassen Sie ihn sich schmecken.

Cori nickt ihr zu. Sie lauscht der Musik, beobachtet die Leute, die ein und ausgehen. Viele neue Eindrücke prasseln auf Cori ein. Ein merkwürdiges Gefühl durchfährt sie. Dabei steht Cori mitten im Leben. Ist gut organisiert. Woher kommt plötzlich dieser Zweifel, diese Zerrissenheit? Aber da ist noch mehr. Irgendein undefinierbares Gefühl. Ist es etwa Einsamkeit? 

Bin ich einsam? Früher konnte ich mich immer, an Lisas Schulter anlehnen und ihr meine Sorgen erzählen. 

Coris Augen werden feucht, doch sie fasst sich gleich wieder. Es ist schon spät, als Cori auf die Uhr blickt. Draußen beginnt es zu dämmern.

Ich erinnere mich. Wie schön haben wir, als Kinder, bei Lisas Eltern gespielt? Es ist nicht weit weg von hier. 

Cori setzt sich ins Auto. Den Weg kennt sie auswendig. Früher war Cori oft bei Lisa. Als sie ankommt, regnet es in Strömen. Die Scheibenwischer kämpfen mit dem Wolkenbruch. Cori überkommt ein mulmiges Gefühl. 

Was nun?

Am liebsten würde sie wieder nach Hause fahren, doch Cori steigt aus. Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, als sie die Stufen hinaufgeht.

Sie knarren immer noch. Genauso wie damals.

Ihre Finger berühren die Klingel. Cori schließt die Augen und wartet. Wartet auf den richtigen Moment. Der richtige Moment, der niemals kommt. Der richtige Moment, den man erzwingen muss. Sie blickt zum Auto.

Plötzlich öffnet sich die Tür und ein kleines Mädchen erscheint.

„Hanna, ich hab dir doch gesagt, dass du nicht einfach so die Tür aufmachen sollst!“, ruft eine Frau aus dem Haus.

„Aber Mama, da war ein Auto und vor der Tür steht eine Frau. Wieso darf sie eigentlich im Regen draußen spielen und ich nicht?“, stampft Hanna mit dem Fuß auf den Boden.

„Und wenn…“, Lisa verstummt, als sie sieht, wer in der Tür steht.

Der Regen fällt auf Cori und läuft an ihrem Gesicht herunter. Er kam ihr noch nie so laut, wie in diesem Moment, vor. Die Stille zwischen den Beiden verstärkt den Effekt. Wie kleine Explosionen. Lisa blickt in Ihre Augen. Cori senkt ihren Blick. Sie fühlt sich mies. Hat sich nie gemeldet. 

 „Mama, Mama, Mama. Maaaaamaaaa“, zerrt das kleine Mädchen an Lisas Rock. Es dauert eine ganze Weile, bis Lisa realisiert, dass ihre Tochter mit ihr spricht.

„Mama, ich glaube, die Frau ist nicht gefährlich. Willst du sie nicht hereinlassen? Ihr ist bestimmt kalt.“

Lisa streckt ihren Arm in Richtung der Wohnung aus. „Na klar mein Schatz. Cori, komm doch bitte rein.“ 

„Ihr kennt euch?“, fragt Hanna verwundert.

„Geh doch schon mal ins Wohnzimmer. Ich hole dir ein Handtuch.“

Als Lisa wiederkommt, steht Cori wie ein kleines Häufchen Elend da.

„Du siehst scheiße aus, wie ein begossener Pudel.“

„Mama, das Wort darf man doch nicht sagen.“, wirft ihre Tochter ein.

Die beiden fangen an zu lachen. Cori nimmt das Handtuch, das Lisa ihr hinhält und fängt an, sich abzutrocknen. Plötzlich spürt sie eine Umarmung.

„Schön dich wiederzusehen. Warum hast du dir so viel Zeit gelassen?“

Cori dreht sich weg. Trauer überfällt sie, als sie durch das idyllische Zuhause ihren Blick streifen lässt.

Lisa merkt, dass sie ihrer Freundin noch ein wenig Zeit geben muss. „Ich mache dir erst mal einen Tee. Ich habe immer eine Packung deiner Lieblingssorte im Haus. Trinkst du ihn immer noch?“

Seit Jahren habe ich den Tee nirgendwo mehr gefunden. Ich habe meinen Assistenten überall danach suchen lassen.

Cori trinkt den Karamell-Weihnachtstee unglaublich gerne. Ihre Augen fangen an zu strahlen und sogar ein Lächeln zeichnet sich in ihrem Gesicht ab. Zufrieden geht Lisa in die Küche.

Cori schaut sich die Bilder an, die ihr vorhin aufgefallen sind. Auf den Meisten ist Lisa mit Hanna abgebildet. Ein Bild sticht Cori ins Auge. Sie nimmt es von der Wand.

Lisa steht auf einmal hinter Cori: „Erinnerst du dich noch? Du warst die Erste, die Hanna im Arm gehalten hat.“

Cori drückt das Bild an sich heran. Natürlich erinnert sie sich daran, als ob es erst gestern gewesen wäre: „ Es ging so schnell, dass keiner damit gerechnet hat. Ich war grad in der Nähe und fuhr dich ins Krankenhaus. Noch bevor dein Mann eintraf, wurde sie geboren und ich konnte sie in meinem Arm halten.“

Zufrieden hängt Cori das Bild weder zurück an die Wand. „Sie hielten uns damals für ein Pärchen und fragten mich nach dem Namen, für das Baby.“

„Ich finde Hanna übrigens immer noch schön. Du hast ihn gut ausgewählt.“, sagt Lisa und lächelt.

Ein Mantel der Stille legt sich über Beide. Sie schwelgen in Erinnerung, bis irgendwo ein Becher auf den Boden fällt. Lisa macht sich gleich auf den Weg zur Küche.

Aus dem Hintergrund hört Cori die Stimmen von Lisa und Hanna: „Oh je mein Schatz, was ist denn hier passiert?“

„Ich wollte etwas trinken und dann ist mir der Becher aus der Hand gerutscht.“

„Warte, ich helfe dir beim Saubermachen.“

Cori setzt sich auf die Couch. Im Fernseher läuft eine Kinderserie. Eine Katze, die versucht eine Maus zu fangen. Das schaute Cori schon als kleines Mädchen. Alles ist kindgerecht eingerichtet. Ganz anders als bei ihr, im vom Innenarchitekten, geplantem Loft.

Hat irgendwas.

Irgendwann bleibt ihr Blick in der Küche hängen. Dort umarmt Lisa gerade Hanna und nimmt sie hoch. Cori wird traurig, als sie die Beiden so glücklich sieht.

Ich habe niemanden. Ich habe nur meinen Job. Da bin ich unverzichtbar. Ohne mich läuft nichts. Das ändert aber nichts daran, dass ich eine schlechte Freundin bin. Ich habe nichts für sie getan und trotzdem heißt Lisa mich willkommen.

Cori kann nicht mehr anders. Sie wird traurig. Regungslos sitzt sie auf der Couch und fixiert das Bild, von ihr und Hanna, an der Wand. Sie zwinkert mit ihren Augen und versucht das anbahnende Unglück abzuwenden, doch es gelingt ihr nicht. Tränen verlassen die Augen und kullern ihre Wangen entlang. Das Bild verschwimmt. Alles verschwimmt.

„Mama, ich glaube, Cori ist traurig.“

Cori hört Schritte, die auf sie zukommen. Sie spürt, wie sie umarmt wird. Sie spürt Wärme. 

Lisa flüstert Coris ins Ohr: „Ich kann dir nicht böse sein. Ich habe dich schrecklich vermisst.“

Ihre aufgestauten Gefühle überrollen sie. Ihr Schluchzen wird lauter. Ihr Herz fühlt sich an, als ob es zerreißt. 

Mit viel Mühe und wimmern, versucht Cori sich, zu erklären: „Ich hätte eine bessere Freundin sein sollen.“

„Als deine Mutter gestorben ist.“

„Als dein Mann gestorben ist.“

„Wo war ich da? Ich bin ein schlechter Mensch und noch eine viel schlechtere Freundin für dich gewesen.“

„Stattdessen sitze ich nun hier und heule.“, schluchzt Cori vor sich hin.

Erst findet Cori die Umarmung befremdlich, doch Lisa lässt sie nicht los, drückt sie fester. Cori erwidert endlich ihre Umarmung. Sie drückt Lisa ebenfalls. Beide Frauen liegen sich weinend im Arm. Bis sie sich beruhigt haben, fließen einige Tränen ihre Wangen herunter.

 

Seit diesem Abend besucht sie die Beiden regelmäßig.

 

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