Von Lea Naum

»Ist er wieder weg?«

»Ja, ungefähr vor zehn Minuten!«

»Ooch nee! Dann kommt der mitten in der Nacht angedackelt und will rein. Kann der nicht in seinem Bett bleiben, wie die anderen auch?«

»Da kannst du nichts machen. Wenn er noch mal weg muss, muss er nochmal weg!“«

»Ich möchte wirklich mal wissen, wohin der Alte fast jeden Abend verschwindet.«

»Iss doch piepegal! Hauptsache der taucht wieder auf.« 

 

Im Taxi entspannt sich Gerolds Körper. Diese Lichter, die Schaufenster, Autos, Busse, Werbetafeln, bummelnde Leute und Radler. Gero saugt die Bilder gierig auf. Noch vor ein paar Monaten fand er das alles nervig. Aber da hieß er noch Herr Gerold Sommer, telefonierte mit dem Finanzamt, seinem Zahnarzt, fragte in der Buchhandlung nach seiner Bestellung, ging viermal am Tag mit Bronco spazieren und hörte Gustav Mahler.

Das Taxi hält an der roten Ampel. Der Motor schaltet sich ab. Stille. Gero kann sehen, wie der Taxifahrer prüfend in den Rückspiegel schaut. Ihre Blicke treffen sich. Einen Wimpernschlag lang ein winziges Kopfnicken. Alles wird gut. Der Taxifahrer wird nichts fragen. Er hat die ganzen Wochen nichts gefragt. Nicht, als er Gerolds dürftigen Spargroschen aus dem Schließfach abholte und ihn für die vielen Fahrten im Voraus bekam. Er fragte auch nichts zum nächtlichen Ziel. Er fuhr einfach hin und holte ihn nach einer Stunde wieder ab. 

Gerold fragte auch nichts, als ihm vor zwei Tagen auffiel, dass das Taxameter nicht mehr lief. Er ahnte, warum.

Die Ampel schaltet auf Grün. Der Wagen biegt auf die Allee ein, die schnurgerade stadtauswärts führt. In der Ferne, scheinbar zwischen den Hochhäusern eingeklemmt, leuchtet der Vollmond. Er sieht aus wie eine Verheißung auf ein anderes Leben auf einem anderen Planeten.

 

Ein anderes Leben – da kommt er her. Raketengleich wurde er hinein katapultiert. Mitten an einem Sommernachmittag, mitten auf der Straße. 

Im Krankenhaus sagte der Arzt: »Sie hatten einen Schlaganfall!« Aus seinem Mund klang es, als handele es sich um eine Nebensächlichkeit, kaum der Rede wert. »Wo ist Bronco?«, wollte Gero fragen, aber es kamen nur seltsame Laute aus seinem Mund. »Das wird schon wieder!«, sagte der Arzt, während er Geros leblose rechte Hand tätschelte. Dann eilte er aus dem Zimmer. Gero blieb zurück in seinem Bett, mit seiner Frage, und sein Herz begann zu schmerzen, wie noch nie in seinem Leben.

 

Als der Mann auftauchte, der sich als sein Betreuer vorstellte, reichte ihm Gerold mit der linken Hand einen Zettel, auf dem er seine Frage gekritzelt hatte. »Wo ist Bronco?«, las ihm der Mann vor, als wisse Gero nicht, was er geschrieben hatte. Der Betreuer runzelte kurz die Stirn und stopfte den Zettel in seine Aktentasche. Er begann aufzuzählen, was er schon alles für Gero »in die Wege geleitet« habe. »Ein gehöriges Stück Arbeit«, läge aber noch vor ihm. Die Wohnungsauflösung, der Heimplatz, die Pflegestufe und die Konten! Gero nahm alle Kraft zusammen, um seine Frage auszusprechen. »Wuhiboomo?« Der Betreuer lächelte ihn aufmunternd an, als sei Gero ein Kleinkind, das seine ersten Worte spricht. »Machen sie sich mal keine Sorgen, ich kümmere mich schon um alles.«, sagte er und verschwand.

 

Das Taxi hält wie immer ein Stückchen entfernt vom Tierheim. Der Taxifahrer steigt aus, holt den Rollator aus dem Kofferraum. Er hilft Gerold aus dem Wagen. Sie schauen sich an. Gero weist mit der linken Hand auf den Kofferraum. »Ach ja!«, sagt der Taxifahrer. »Den Rucksack noch!« Die Sache mit dem Rucksack ist neu. Bisher hatte Gerold immer nur einen kleinen Stoffbeutel dabei. Der Taxifahrer hebt den schweren Sack aus dem Kofferraum und platziert ihn auf dem Rollator. Gerold reicht ihm einen Zettel. „Heute brauchen Sie mich nicht abzuholen“, steht drauf. Der Taxifahrer schaut Gerold prüfend an, öffnet den Mund für eine Frage. Gero schüttelt kurz den Kopf. »Ok.«, sagt der Taxifahrer und hebt beide Hände. „Ist allein Ihr Ding!“ Gero wartet, bis die Dunkelheit die Rücklichter des Taxis verschluckt hat. Dann geht er los, mit sehr, sehr kleinen Schritten.

 

»War 308 heute eigentlich schon auf` m Klo?«

»Nee, noch keine Zeit gehabt. Aber der ist ja gepampert!«

Gero hörte es durch die halboffene Zimmertür. Er heißt jetzt wie sein Zimmer. Manchmal auch »Opi«, »Alter Mann« und »unser Bummler«. Zu Anfang hat er Geräusche gemacht, geweint und einmal sogar mit seiner linken Hand nach dem Pflegehelfer geschlagen. Da wollte er nicht im Rollstuhl neben dem Radio sitzen, aus dem endlos Schlager dröhnten. Er liebte Mahler und Chopin. Danach holte ihn niemand mehr aus dem Zimmer. Er hätte auch nicht gekonnt, denn er fühlte sich ständig benommen und schläfrig.

 

Gerold hält inne. Über die Hälfte des Weges zum Zaun hat er geschafft. Er kann die Hunde schon hören. Manchmal wimmern sie nur leise, dann bellt einer und andere fallen ein. Ein Chor der Verlassenen in den Gerold einstimmt, mit allen Lauten, die er formen kann. Er weiß, dass es den Hunden egal ist, was er sagt. Sie hören ihn mit ihren Herzen. So wie Gertrud.

 

Gertrud saß eines Tages an seinem Bett im Pflegeheim. Ihre blauen Augen leuchteten wie ein Sommerhimmel. »Ich bin Gertrud. Ich bin neu hier. Oberschenkelhalsbruch! Jetzt kann ich nur noch rumrollen!«, sagte sie und umarmte ihn mit einem Lächeln. Gerold konnte nicht anders. Er lächelte zurück, mit seinem halben Gesicht und ganzem Herzen. »Wenn Sie mögen, kann ich ihnen was bringen oder wir können Musik hören!« Dabei strich sie sich mit ihrer rechten Hand über ihr graues Haar und zauberte einen dicken, langen geflochten Zopf hinter dem Rücken hervor. »Schön, nicht wahr? In meinem Alter noch solche Haare! Mein ganzer Stolz!«, sagte sie und streichelte liebevoll darüber, wie über einen Schatz. Gerold nickte und sie lächelte verlegen.

 

Geschafft! Gerold schiebt den holpernden Rollator am Maschendrahtzaun auf der Rückseite des Tierheims entlang. Die Hunde sind still. Sie hören, wie schon so oft, Mahlers Auferstehungssinfonie. Gerold konzentriert sich. Er packt den Rucksack mit der linken Hand und lässt ihn langsam zu Boden gleiten. Dann geht er selbst in die Hocke. Das hat er lange geübt. Der Seitenschneider ist schwer. Gerold nimmt all seine Kraft zusammen. Schnitt, noch ein Schnitt. Pause. Gertrud würde staunen, so wie sie schon mal gestaunt hatte. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen!

 

So sah sie aus, als sie auf die vielen kleinen Zettel in Gerolds Nachtischschublade starrte. Sie nahm einen nach dem anderen und las alle. »Ohh Gott!«, entfuhr es ihr dann, »Sie haben keine Ahnung, wo er ist?« Gerold nickte und Tränen schossen ihm in die Augen. Wochenlang hatte er die Zettel verteilt. Sie landeten in Kittel- und Hosentaschen, auf Essentabletts, Medikamentenboxen, Windelpaketen, in Papierkörben, Mülleimern und Toilettenbecken. Trotzdem schrieb er sie weiter, immer die gleichen. »Wo ist Bronco?« 

 

Gerold zwängt sich durch das Loch im Maschendraht. Auf allen vieren kriecht er hinüber zu den Zwingern. »Bronco! Mein Broncilein, mein Liebster, mein Bester!« Alles das würde er jetzt gern sagen, aber er kann nur schluchzen und schniefen und seine linke Hand durch die Gitterstäbe schieben. Bronco winselt leise. Er ist dünn geworden. Aber er leckt innig Gerolds Hand und seine Augen schauen, als habe er immer gewusst, dass es so kommen würde.

 

Gertrud! Sie wusste nicht, was kommen würde. Ihr Enkel fand Broncos Andresse heraus. Gertrud telefonierte mit dem Tierheim. »Aber das ist doch sein Hund! Er wird ihn doch wohl besuchen dürfen!«, entrüstete sie sich. »Auf keinen Fall kann er herkommen! Glauben Sie, wir wissen, was gut für den Hund ist!«, sagte die Frau am anderen Ende und legte auf. Gertrud dachte nach. „Was mag Bronco denn gern?“ wollte sie von Gerold wissen. Ihm fiel Mahler ein. Bronco liebte die Musik. Er räkelte sich dazu auf dem Rücken und grunzte wohlig. Irgendwann später schlief er ein. Dann hing seine Zunge aus der halb geöffneten Schnauze und er schnarchte laut. Also schrieb Gerold „Gustav Mahler“ auf einen Zettel. Gertrud lachte.

 

Gertruds Enkel besorgte den winzigen Player und die kleine Lautsprecherbox. Sie lagen in einem kleinen Stoffbeutel. In der ersten Nacht bellte Bronco, als er ihn am Zaun bemerkte. Bei Mahlers ersten Tönen winselte er. Dann wurde es still. Eine Stunde lang sprach Mahler für Gerold, fast jeden Abend.

 

Zu der Zeit fuhren sie schon nebeneinander im Rollstuhl über die Flure. Nicht lange. »Nanana!«, sagte eine Schwesternschülerin mit anzüglichem Grinsen, als sie die beiden sah. »Da haben wir wohl ein neues Liebespaar? Auwei, Auwei! Aber nicht über Nacht in einem Zimmer!« Dazu drohte sie mit dem Zeigefinger, als hätte sie gerade zwei kleine Kinder bei einer Unart erwischt. In Gertruds Gesicht stieg Schamesröte, wie ein böser Ausschlag.

 

Gerold stochert im Zwingerschloss. Bevor er Ingenieur wurde, hatte er Schlosser gelernt. Das Schloss springt auf. Bronco stößt ihn beinahe um. Gerold vergräbt sein Gesicht in Broncos Fell. Es stinkt. Wahrscheinlich vom Dosenfutter. Er hat für Bronco immer gekocht. Gerold macht eine kleine Handbewegung und Bronco versteht sofort. Wie zwei Soldaten robben beide im Kriechgang über die Rasenfläche zum Loch im Zaun.

 

Als Gertrud die Lungenentzündung bekam, saß Gerold an ihrem Bett. Eines Morgens war es dann passiert. »Die Schwester meint, so sind sie einfacher zu pflegen«, sagte Gertrud und lächelte so gequält, dass sich Gerold verstohlen wegdrehen musste, wegen seiner Tränen. Ihr Gesicht war bleich und kurze strubbelige Haare standen von ihrem Kopf ab, wie dürre Stacheln. In ihren Augen war ein riesiges Entsetzen. Zwei Tage später begann ihr Atem zu rasseln.

Gerold fand den Zopf in einem Mülleimer. Er gab ihn dem Enkel und der gab ihn Gertrud zurück. Sie wurde mit ihrem Zopf beerdigt.

 

Gerold und Bronco kriechen durch das Loch im Zaun. Beide haben Mühe sich aufzurichten. Gerold zieht sich am Rollator hoch. Broncos Hinterläufe zittern. Aber dann spazieren sie gemächlich durch den Wald hinter dem Tierheim auf den Vollmond zu. Ganz wie früher.

 

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