Von Marianne Apfelstedt

Bewusst hatte ich mir zum Abschied von Island einen Abend allein gegönnt, mit meinen Erinnerungen, um Frieden zu finden, zwischen den Engeln und Teufeln der Vergangenheit. Die wohlige Wärme des Kaminfeuers verbreitete sich im Zimmer. In Gedanken versunken sah ich dem Eis zu, wie es im Southern Comfort schmolz. Ich nippte an meinem Glas und schlug das Reisetagebuch auf. Das Familienbild auf der ersten Seite zeigte mir die geliebten Gesichter, die in der Heimat auf mich warteten. Doch meine Reise begann viel früher. 

 

Mai 1977

 

„Ich bin gespannt auf die Band aus England, die heute Abend in der Festhalle auftritt und bombastische Rockmusik spielt“, schwärmte Susanne, meine Kollegin.

„Schon komisch, dass die sich Queen nennen. Habe ich noch nie was von gehört!“ 

„Lebst du hinter dem Mond? Die Jungs haben bereits in Frankfurt gespielt.“ Nach der Pause blieb uns keine Zeit für weiteres Gequatsche, weil an diesem Maitag der Biergarten von hungrigen und durstigen Menschen nur so überquoll. Wie emsige Bienen trugen wir Geschirr von der Küche zu den Gästen und zurück. Nach der Schicht beeilten wir uns. Ich öffnete schwungvoll die schwere Eichentür und wir traten auf das Pflaster der Stadt.

„Gib mir eine halbe Stunde zum Duschen. Dann nehmen wir den Bus und sind pünktlich zum Konzert in der Festhalle. Bis nachher“, verabschiedete sich Susanne und gab mir ein Küsschen. Bewundernd sah ich ihrem Hüftschwung in den Schlaghosen und den Clogs hinterher. Woher nahm sie nur diese Power? 

 

Ooh, you make me live

Whatever this world can give to me

It’s you you’re all I see …

 

Die Stimmung in der Festhalle schwappte bei den ersten Tönen auf das Publikum über. Gitarrenriffs ballerten in meinen Ohren und die Stimme des Sängers zog mich magisch an. Jeder im Raum erlag seinem Charisma. Beim Song We will Rock you konnte ich mich dem rhythmischen Klatschen und Stampfen nicht entziehen und unisono fühlte ich mich, wie aus einem Guss mit den Menschen im Saal vereint. Der Text war mir unbekannt, aber der Rhythmus brauste direkt in meinen Körper, ich war wie berauscht. Dazu trug auch der Southern Comfort bei, den ein Typ aus der Clique spendierte. Nach dem Konzert fand ich mich euphorisch und leicht angetrunken mit dem ganzen Haufen an der Bar ein. 

„Regina, hier ist deine Jacke. Komm, wir feiern bei Thomas weiter, ich habe einen Fahrer gefunden“, säuselte Susanne in mein Ohr, wirbelte herum und hakte sich haltsuchend an dem blonden Jungen ein. Irgendwie passten neun Menschen ineinander verschlungen in den blauen Opel Manta. Auf der beengten Rücksitzbank fand ich auf Thomas Schoß Platz. Er schob seine Hand forschend unter mein Shirt und verursachte mir einen Schauer, der den Rücken hinunterrieselte. Bis das Auto anhielt, waren wir mittendrin in einer wilden Knutscherei. Im Keller angekommen, wurde eine Scheibe von Queen aufgelegt und wir grölten die Songs mit, als Durstlöscher gab es Southern mit Apfelsaft und Cola. 

 

Am anderen Morgen erwachte ich mit krassem Brummschädel. Wie eine Schlange wand ich mich aus verschiedenen Armen und Beinen und schnappte mir ein Shirt, das am Boden lag. Glücklicherweise fand ich auf Anhieb die Tür zum Bad. Spontan beschloss ich zu duschen, Handtücher lagen im Schrank. Das lauwarme Wasser vertrieb den Nebel aus meinem Kopf und die Kopfmassage beim Shampoonieren dämmte die Schmerzen ein.

„Darf ich?“, drang eine heisere Stimme an mein Ohr. 

Bis ich die Augen vom Schaum befreite hatte, wurde ich von warmen Männerhänden umschlungen, die mich sanft einseiften. Na ja, eins führte zum anderen und nach der Dusche fühlte ich mich wie ein flauschiges Kätzchen, das Sahne bekommen hatte. Dieses sahnige Gefühl ließ mich wie auf Wolken schweben. Auf dem Bett saß Susanne und ich hatte sofort den Duft ihres unverwechselbaren Parfums in der Nase. Thomas blonde Locken glänzten feucht von der gemeinsamen Dusche. Er war dabei einen Joint zu drehen, zündete ihn an und zog genussvoll daran. 

„Hast du sowas schon mal geraucht?“, fragte er Susanne. Sie grinste, nahm ihm die Zigarette ab und inhalierte tief. Verführerisch grinsend kam sie mir entgegen.

„Du bist dran!“

Mist, jetzt konnte ich nicht kneifen. Ich imitierte Susanne, was in einem peinlichen Hustenanfall meinerseits endete. Der ganze Tag glitt wie im Nebel an mir vorbei, ich konnte mich nur an Küsse und den besten Sex meines Lebens erinnern und an seidig zarte Haut mit ihrem Duft. Als der Nebelschleier sich lichtete, lag Susannes Hand auf meiner Brust und es fühlte sich tröstlich an, zufrieden schloss ich die Augen. Das nächste Mal erwachte ich zu Hause im Bett, kompletter Filmriss. Am Abend rief Susanne an und ich spürte, wie meine Wangen erröteten.

„Hi, kommst du nachher zu mir? Thomas bringt uns Pizza mit.“

„Ist eine gute Idee, mir ist recht schwummerig, weil ich noch nichts gegessen habe.“

 

Susanne und ich quatschten über unseren Trip nach Island, als Thomas mit der Pizza auftauchte. Er küsste mich, was bei mir keinen Freudentaumel auslöste. Fühlte sich nüchtern nicht mal halb so klasse an. Zumindest bemerkte er, dass keine Funken mehr flogen. Er drückte mir die Kartons in die Hand und knutschte Susanne ab, dort schlug ihm eindeutig mehr Begeisterung entgegen. Seltsame Gefühle stürzten auf mich ein. Ekel, wenn ich an Thomas Kuss von vorhin dachte, und Wut. Ich wollte auf gar keinen Fall nochmal von ihm geküsst werden. 

„Susanne, hast du ne Coke?“ Zumindest bekam sie jetzt mit, dass ich anwesend war. Sie besorgte Gläser und wir setzten uns auf den Boden.

„Thomas war noch nie in Island, drum kommt er mit“, klärte mich Susanne auf. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie ignorierte. Tickte sie nicht mehr richtig?

„Klar, ihr Miezen braucht einen Beschützer“, erklärte Blondie gönnerhaft. Jetzt hatte ich eindeutig Zornesfalten auf der Stirn, das spürte ich. Susanne brachte mich auf die Palme und dieser Typ war sowas von bescheuert.

„Ich glaube nicht, dass ich dich dabeihaben will“, sagte ich genervt.

„Quatsch! Habe ich dich vernachlässigt? Stell dir vor, mehr so krasse Nächte. Hat dir doch gefallen.“ Er rutschte näher und fuhr mir anzüglich mit dem Handrücken am Arm entlang, das war mir echt zu viel. 

„Vergiss es. Das wird ein Zweier Trip“, sagte ich kalt.

„Hey Regina, mach dich mal locker, wir sind Freunde. Hör auf zu keifen.“ Sie rutschte zu Thomas, verwuschelte ihm das Haar und verkündete: „Ich fliege nicht ohne ihn, hör auf zu bocken. Lasst uns Pläne schmieden!“ Dann knutschten sie schon wieder. Das empfand ich wie eine Ohrfeige, in mir brodelte es. Wie konnte sich diese Knalltüte zwischen uns quetschen? Was fand Susanne an dem Chauvi?

„Ihr könnt mich mal!“ Wütend stand ich auf und stürmte aus dem Zimmer, heiße Tränen brachen sich Bahn. 

„Hey, bist du eifersüchtig?“, rief er mir hinterher.

Mist, genauso fühlte es sich an, wie bohrende Eifersucht, dabei nervte mich dieser Thomas doch total. Ich war verwirrt und musste wieder an zärtliche Hände denken, an ihre Hände. Das konnte nicht wahr sein! Wir kannten uns seit dem Kindergarten.

 

Can anybody find me somebody to love?

Ooh, each morning I get up I die a little

Can barely stand on my feet

(Take a look at yourself) Take a look in the mirror and cry (and cry)….

 

***

Ich zog mich zurück in mein Schneckenhaus und mied jeden Kontakt zu Susanne. Im Oktober flog sie mit Thomas nach Island. Gedanken an diese Nacht verbot ich mir und stürzte mich auf alles Normale. In einem Hotel fand ich einen anderen Job im Service. Dort lernte ich Achim, meinen Ehemann kennen, er war Nichtraucher und trank nur ab und an ein Glas Wein. Ich maskierte mich mit Normalität, meine Sehnsucht sperrte ich aus. Beim Klassentreffen erfuhr ich, dass Susanne auf einer Ponyfarm in Island lebte. Das erinnerte mich schmerzlich an Ferien im Pferdestall und unschuldige Nächte im Heu. Im Drogeriemarkt besprühte ich mein Handgelenk mit ihrem Duft, ihn zu kaufen, wagte ich nicht. Die Jahrzehnte plätscherten dahin, kurz nach der Geburt unseres Enkels Tim wurde bei Achim ein Gehirntumor diagnostiziert. Wir hatten fünfzehn Monate, um Abschied zu nehmen. Einige Wochen nach der Beerdigung fischte ich eine Ansichtskarte mit Island Ponys vor wolkigem Himmel aus dem Briefkasten. Auf der Rückseite stand nur `bin für dich da` und ihre Handynummer. Ich wusste sofort, von wem die Karte kam. Auf der Gartenbank sitzend starrte ich auf die Pferde, die mich wissend ansahen, dann ließ ich endlich den Tränen ihren Lauf. Der ganze Ballast wurde aus meiner Seele gespült. Als der Tränenfluss versiegt war, hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich schrieb ihr eine Nachricht, `ich fliege im August`. Mein Haus sollte verkauft werden und ich danach in eine Einliegerwohnung bei meiner Tochter ziehen. Also gönnte ich mir eine Auszeit.

*** 

Beim Hinuntersteigen der Gangway zerrte der frische Wind an meinem Mantel und die salzige Luft kribbelte auf den Lippen. Wie würde das Wiedersehen mit Susanne nach all diesen Jahren verlaufen? Alles war ganz einfach, sie umarmte mich, küsste mich auf den Mund und die Jahrzehnte schmolzen zum Nichts. Das Eis war sofort gebrochen und in Erinnerung der alten Zeiten gab es Southern Comfort auf Eis. Ich verliebte mich. In diese raue Landschaft, in den beständigen Tölt der Pferde und ihre Sanftheit, alles Weitere gestand ich mir nicht ein. Nachts träumte ich von weichen Frauenhänden. Bei unseren Ausflügen vermied ich jeden Körperkontakt, trotzdem war ich wie berauscht von ihrer Nähe.

***

War ich am Ende meiner Reise angekommen? Die beiden letzten Fotos des Reisetagebuchs waren Selfies. Links zogen Susanne und ich blöde Grimassen, ausgelassen und unbeschwert. Rechts das Abschiedsfoto. Die Köpfe zueinander gelehnt, um Halt zu suchen, vier blaue Augen blicken mir traurig entgegen. Auf dem Foto kann ich es nicht sehen, doch ich glaube, ihre Umarmung immer noch zu spüren, wie Ertrinkende klammerten wir uns aneinander. Ich erinnere mich an ihren Duft. Sind Gefühle unendlich? Ich fokussiere den Blick auf mein Flugticket, Abflug nach Frankfurt morgen, 8.30 Uhr, und treffe eine Entscheidung.

 

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