Von Talita Schönberg

Da lag er nun, in voller Perfektion und Vollkommenheit. Fast schon ein Ebenbild ihrer selbst. Noch waren überall Elektroden und Kabel, aber bald schon würden auch die letzten Drähte verschwunden sein. Ein Wunsch war in Erfüllung gegangen. Ein Wunsch den sie schon so lange Zeit in sich trug. 

Die Zeit war rasant schnell verflogen und trotzdem schien sich jeder Tag wie Kaugummi in die Länge zu ziehen. Jeden Tag die gleiche Routine. Um 6 Uhr klingelte der Wecker, Morgentoilette und einen Kaffee. Von 7.30 Uhr bis meist weit nach 18 Uhr am Abend war sie im Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz. Danach manchmal noch ein wenig Cardiotraining und ab auf die Couch. Sie war sehr gut in ihrem Job und immer gefragt bei neuen Projekten. Daraus resultierend blieb das Privatleben eher auf der Strecke. Freunde hatte sie nur wenige, weit verstreut im ganzen Land und die letzte Beziehung hatte sie schon vor 7 Jahren beendet. Menschen mit all ihren Gefühlen und Emotionen waren für sie immer noch ein Mysterium. Alles, was sich außerhalb der Logik befand, war für sie schlecht greifbar und verunsicherte sie schon von Kindesbeinen an. Nicht nur einmal war die Verdachtsdiagnose eines Asperger Syndroms gefallen. 

Ihr war das egal, nur die damit verbundenen Ärgernisse mit der Gesellschaft waren ihr zu wieder. Und natürlich das Problem mit dem einen Herzenswunsch. Dieses eine Stück Normalität, nach der sie sich vielleicht doch ganz unbewusst sehnte? Sie wollte ihre durchaus hochwertigen Gene vererben, ihr sehr weitreichendes Wissen weitergeben und vielleicht dadurch auch nicht mehr so einsam sein. Der Kinderwunsch bestand schon eine Weile, doch war immer etwas dazwischengekommen. Zuerst die Universität, dann die Arbeit, die ihre ganze Zeit in Anspruch nahm. Und sowieso hatte es kein Partner lange mit ihr ausgehalten. Eine Samenbank kam für sie nicht infrage. Niemals würde sie auf die Zusicherung einer wenig qualifizierten Fertilitätshelferin vertrauen, ohne sich selbst ein Bild von der Intelligenz des Spenders gemacht zu haben. Mittlerweile waren ihre Hormone eher mit dem Ausbügeln von Falten beschäftigt als mit der Produktion fruchtbaren Materials. Zudem kündigten Schlaflosigkeit und Hitzewallungen ein ganz neues Zeitalter für ihren Körper an, die Wechseljahre. Zuerst hatte sie diese Erkenntnis missmutig gestimmt. Danach kamen die große Wut und dann kam ihr diese eine Idee und mit ihr Kraft und Energie, die sie dringend für dieses Vorhaben brauchte. All die Jahre hatte sie geforscht, Daten analysiert und programmiert. Auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz konnte ihr keiner was vormachen. Sie würde sich ihr eigenes Kind erschaffen. 

Mit Elan machte sie sich ans Werk bis zur Vollendung des futuristischen Kinderersatzes. Sollte die Testphase ein Erfolg werden, war ihr nicht nur die Anerkennung der Kollege sicher, nein es würde ebenso eine große Lücke auf dem Markt und auch so manchem Herz füllen. Gestern hatte die Testphase begonnen und sie hatte den Children humanoid robot in sample, kurz CHRIS, mit nach Hause nehmen dürfen. Vorsichtig und gut verpackt brachte sie Chris ins Kinderzimmer von morgen. Der Raum war mit einem Kinderbettchen ausgestattet, das eine integrierte Ladestation enthielt. Im Bücherregal standen altersgerechten Lektüren und Sachbücher für Kinder ab 7 Jahren. In der Spielecke befanden sich ein Technikbaukasten zum Training der Feinmotorik, ein interaktives Whiteboard und ein Musikgerät mit einer Auswahl Binauraler Sounds. Verschiedene Kleidungsstücke und Schuhe waren farblich sortiert im Schrank aufgereiht worden. Im Schreibtischstuhl war ein System integriert, dass sich beim Hinsetzten automatisch mit dem der künstlichen Intelligenz synchronisierte und auf Fehlerbehebung ausgerichtet war. Sie hatte vor Aufregung die ganze Nacht kaum geschlafen. Nun war der Augenblick gekommen. Sie würde nie wieder allein sein, nie wieder gefragt werden, warum sie denn keine Kinder hätte. Sich nie wieder fragen müssen, ob sie eine gute Mutter gewesen wäre. Sie holte tief Luft und mit dem Ausatmen drückte sie den kleinen unscheinbaren Knopf, der in der rechten Ohrmuschel versteckt war und schaltete Chris ein. Sofort schlug er die Augen auf und ein kurzes, leises Surren signalisierte ihr das Hochfahren des so menschlich wirkenden Androiden. Langsam richtete sich Chris auf und drehte ihr den Kopf zu. Sein Gesichtserkennungssystem hatte ihm schon längst alle relevanten Daten zu ihr zusammengetragen. „Hallo Mama. Ist es Zeit aufzustehen?“ Seine Stimme klang wohltuend weich und ruhig. „Ja Chris, es wird Zeit sich für die Schule fertig zu machen!“ Sie war stolz darauf eine Schule gefunden zu haben, die Chris während der Testphase zusammen mit anderen echten Kindern unterrichten würde. Chris stand auf und trat vor den Kleiderschrank. Er wählte eine schlichte Jeans und einen blauen Pullover aus und begann sich anzukleiden. So angezogen verdeckten die Sachen das gesetzlich vorgeschrieben schwarze A das auf der rechten Schulter von Chris geprägt war und ihn als Androiden kennzeichnete. Er sah aus wie ein echter 7-Jähriger. 

Es gefiel ihr, dass Androiden nicht essen mussten. Da sie auch nie frühstückte, passte es so sehr gut in ihren gewohnten Tagesrhythmus. Auf dem Weg in das Institut brachte sie Chris in die Schule und stellte ihm seine Lehrerin vor. Ein leicht mulmiges Gefühl befiel sie. Würde Chris zurechtkommen? Ihm war der Lageplan der Schule zwar bekannt, aber würde er mit den anderen Kindern umgehen können? Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie wenig sie über Chris wirklich wusste, oder gab es nicht mehr zu wissen? Echte Mütter lernten ihre Kinder schon im Bauch kennen und vertieften die Beziehung beim Stillen und in den nächsten Jahren. Diese Phase des Kennenlernens war ihr erspart worden. Seine im Datensatz gespeicherte Persönlichkeit war zwar auf einen ruhigen und gehorsamen Charakter eingestellt, dessen Hauptziel es war seine Eltern glücklich zu machen und Gesellschaft zu bringen, aber in das Gerät war auch ein selbstlernender Algorithmus implementiert. Dieser sollte dafür sorgen, dass Chris lernte die Gefühle und Emotionen von echten Menschen zu deuten und darauf zu reagieren. Doch war sie, der es so schwerfiel mit den Gefühlen anderer umzugehen, die Richtige, um Chris bei der Weiterentwicklung zu unterstützen? Und würde Chris glücklich mit seinem „Leben“ sein?  Als sie ihn von der Schule holte, wirkte Chris unverändert. Zu Hause angekommen leistete er ihr beim Essen Gesellschaft und erzählte vom heutigen Unterrichtsstoff, spielte mit dem Technikbaukasten und zeichnete ein wenig am Whiteboard. Zufrieden beobachtete sie Chris und die Zweifel vom Morgen traten in den Hintergrund. 

Während Chris versuchte sich zu entwickeln und immer mehr Gefühle und Emotionen zu analysieren,  vergingen die Monate wie im Flug. Sie war froh und stolz, dass die Testphase so gut lief, auch wenn sie sich dabei ertappte manchmal immer noch ein Gefühl der Leere zu verspüren. Auch wenn sie sonst unbegründete Gefühlsduseleien und Liebesbekundungen nicht ausstehen konnte, wünschte sie sich insgeheim von Chris mehr davon. Sie funktionierten zusammen bestens und doch fehlte es ihr ein ungezwungenes lautes Kinderlachen zu hören, in große ungläubige Augen zu sehen, auf seltsame Fragen zu antworten, sich auch mal zu streiten. Mit Chris war es immer einfach und er kümmerte sich gut um sie, doch fühlte sie sich manchmal trotz seiner Gesellschaft ein bisschen einsam. War das schon alles? Ging es echten Müttern auch so? Was fehlte ihr in dieser Beziehung? Und könnte man daran nicht etwas ändern? Noch ging die Testphase 3 Monate, doch sie wusste jetzt schon, dass sie ihre Zweifel aus dem Protokoll raushalten würde um Chris nicht zu verlieren. 

Liebevoll wanderte ihr Blick zu ihm am Schreibtisch, als es plötzlich an der Tür klingelte. Erstaunt erkannte sie beim Öffnen ihre Kollegen aus dem Forschungsinstitut und hob fragend die Augenbrauen. „Was kann ich für euch tun?“ Zögernd und mit sanfter Stimme antwortete der Wissenschaftler: „Wir würden gern Chris abholen. Er hat uns informiert und möchte die Testphase aufgrund von starker Systembelastung durch zu große Zielabweichung gern abbrechen!“ Wie versteinert stand sie da. Sachte schob sich eine kleine Hand in die ihre und Chris sprach: „Es tut mir leid dir Kummer zu bereiten, Mama, aber ich habe bei genauer Datenüberprüfung immer wieder festgestellt, dass ich meiner Zielsetzung nicht gerecht werden kann. Bei längerer Analyse deiner Gefühle bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass du nicht wirklich glücklich bist, aber Angst hast etwas zu ändern. Zudem habe ich bemerkt, dass meine Mitschüler mich nicht akzeptieren können und sich in meiner Gegenwart unwohl fühlen. Ich habe im Institut um Überarbeitung meiner Programmierung gebeten, um dich glücklich zu machen.“ Sie hielt seine Hand fest umklammert. „Ich muss noch mal weg, Mama, aber wenn du mich dann noch zurückwillst, möchte ich deine Chance auf bedingungslose Liebe sein!“ Als er ging, spürte sie überrascht Tränen an ihrer Wange herabfließen. Beim Beobachten seiner emotionalen Entwicklung hatte sie ihre eigene gar nicht bemerkt. „Ich werde da sein, Chris!“, flüsterte sie. „Ich werde immer für dich da sein!“