Von Andreas Schröter

„Ich muss nochmal weg.“

„Wohin?“

„Zigaretten holen.“

„Aber du rauchst doch gar nicht.“

Dieser Dialog war der Running Gag zwischen meiner Frau Edith und mir, wenn ich den Müll rausbrachte. Ich brachte den Müll ungefähr zweimal pro Woche raus, und wir waren seit 25 Jahren zusammen. Wenn man Lust darauf hätte – was ich nicht habe –, könnte man ausrechnen, wie oft wir unseren Dialog also schon abgespult hatten. Eine Ehe ist manchmal das Aneinanderreihen von immergleichen Ritualen. Aber das gibt einem auch irgendwie Sicherheit, oder?

An diesem denkwürdigen Tag jedoch ergänzte meine Frau unsere eingefahrene Abfolge an Wortbeiträgen zu meiner Überraschung noch etwas: „By the way, Schatz, mit dieser Jacke kannst du dich nicht mehr unter die Leute wagen.“

Ärgerlicherweise hatte ich meine gelbe Windjacke am Tag zuvor achtlos über die Sofalehne geworfen. Und abends bei unserer täglichen Fernseh-Rotwein-Session war es dann passiert. Ein Spritzer des fruchtigen Primitivo, den wir gerade im Anstich hatten, landete auf der Jacke. Edith fand, dass der Fleck, der sich sofort in Brusthöhe bildete, irgendwie gewisse Ähnlichkeiten mit einem Elefanten hatte. Gänzlich von der Hand zu weisen war das nicht.

„Aber ich will doch nur den Müll … Zigaretten holen.“ Sobald der Ablauf nicht mehr stimmt, gerät man ins Stottern.

Ich öffnete die Haustür, ging die sieben Schritte zu den Mülltonnen, klappte den Deckel hoch – und spürte eine Berührung an der Schulter.

„Herr Schneider, ich muss Sie leider bitten mitzukommen.“

Als ich mich zutiefst erschrocken umgedreht hatte, sah ich drei ernst schauende Männer, die mir etwas vor die Nase hielten, das wohl der Ausweis von irgendeiner Regierungsorganisation sein sollte.

„Aber was …?“

***

„Nun, Herr Schneider, es verhält sich folgendermaßen …“ Die Männer hatten mich zu einem schwarzen Van geführt und mich einigermaßen freundlich gebeten einzusteigen. Ich hatte dennoch nicht das Gefühl, dass ich die Chance gehabt hätte, mich dagegen zu wehren. Also fuhr ich mit. Nun saß ich in einem fensterlosen Raum, der nur von kaltem Neonlicht beleuchtet wurde. Mir gegenüber saß eine in sachlichem Büro-Outfit gekleidete Schwarze, die mir nun ironischerweise eine Zigarette anbot. Ich musste an den obligatorischen Dialog mit meiner Frau denken.

„Ich rauche nicht.“

Sie steckte das Zigarettenetui wieder ein und begann erneut: „Nun, Herr Schneider, es verhält sich folgendermaßen: Ich komme aus Südafrika und habe den Geheimdienst Ihrer Regierung um Hilfe gebeten. Es war ausgesprochen schwer, Sie ausfindig zu machen, und ich bin so froh, dass es uns gelungen ist.“

Die Frau sah gar nicht mal übel aus. Vielleicht hätte ich doch eine andere Jacke anziehen sollen.

„Was ich Ihnen jetzt erzähle, wird Ihnen möglicherweise etwas seltsam vorkommen. Und das ist es auch. Aber ich kann’s nicht ändern.“

Sie holte tief Luft, als müsse sie sich selbst vor dem Folgenden sammeln:

„Sie kennen doch sicherlich den Nationalhelden Südafrikas, Nelson Mandela, der so viel für uns Schwarze getan hat. Nun, was die Allermeisten nicht wissen: 1940 – noch ganz am Anfang seiner politischen Tätigkeit, als er zum Studentenrat des University College von Fort Hare in Alice gehörte, wäre er um ein Haar Opfer eines Attentats geworden. Wäre das geschehen, wäre all das, was er später erreicht hat, niemals passiert.“

„Aber er hat ja gottseidank überlebt, wie wir alle wissen“, brachte ich heraus, obwohl ich mich langsam nach der Fernseh-Rotwein-Session mit meiner Frau sehnte.

„Ja, hat er“, entgegnete die Frau, „dank Ihnen.“

Hätten sich Fragezeichen auch in den Gesichtszügen eines Menschen abbilden können, dann hätte mein gesamter Kopf jetzt aus einem bestanden. Ich sagte: „Sorry, ich bin erst 1963 geboren.“ Ich wusste zwar nicht, in was für eine Art von Schwachsinn ich hier hineingeraten war, aber es war nun wohl doch an der Zeit, dem ein Ende zu machen. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Männer, die mich hergebracht haben, zu bitten, mich wieder nach Hause zu fahren? Ich bin etwas müde.“

Statt einer Antwort griff die Frau in die Aktentasche, die vor ihr lag, und zog etwas heraus. Es war ein altes, vergilbtes Foto. „Schauen Sie sich ganz in Ruhe diese Aufnahme an. Es ist die einzige, die damals während des Attentats auf Mandela gemacht wurde.“

Widerwillig beugte ich mich hinunter, um das Foto besser sehen zu können. Es zeigte ein Gewusel von durcheinanderlaufenden und offenbar schreienden zumeist schwarzen Menschen. Auf einem kleinen Podium stand jemand, der eine gewisse Ähnlichkeit mit alten Bildern von Nelson Mandela hatte.

Dann sah ich etwas, das mein Herz einen Schlag überspringen ließ und mir eine eisige Welle des Schreckens direkt ins Hirn jagte. Ich musste kurz die Augen schließen und den Schwindel abwarten, der mich jäh erfasst hatte. Auf dem Foto war – ich, wie ich einem Mann den erhobenen Arm festhielt. Er befand sich nur etwa einen Meter von Mandela entfernt und hatte ein langes Küchenmesser in der Hand. Ich trug eine Jacke, auf deren Brusthöhe ganz unübersehbar ein Fleck in Form eines Elefanten prangte.

Mein Gegenüber nutzte meine Erstarrung geschickt aus und bugsierte mich – eskortiert von den drei Männern, die mich hergebracht hatten – sanft zwei Räume weiter und stellte mich auf eine Art Plattform. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, sah sie so ähnlich aus wie das, worauf im Raumschiff Enterprise das Beamen stattfindet.

Was folgte, war ein einziger Wirbel aus Licht.

Als sich das Tosen beruhigte, fand ich mich in einer Art Saal – vielleicht von einer Kneipe? – wieder, der mit Holzvertäfelungen auf halber Wandhöhe für meinen Geschmack etwas altmodisch eingerichtet war. Um mich herum befanden sich fast ausnahmslos Schwarze, die ziemlich aufgeregt wirkten. Einer von ihnen hatte eine Kamera dabei. Ich wagte den Gedanken kaum zu denken, aber konnte es tatsächlich sein, dass ich mich in der Situation befand, die auf dem Foto abgebildet war, das ich eben (eben? 80 Jahre später wohl eher) gesehen hatte? Der gesamte Raum war in Zigarettendunst gehüllt. Ich fühlte mich in meiner Sonderstellung sofort unwohl, auch wegen der aggressiven Gesamtatmosphäre. Doch niemand achtete auf mich. Alle blickten gestikulierend und Zwischenrufe ausstoßend in Richtung einer kleinen Bühne, wo ein weiterer Schwarzer stand, der offenbar eine Rede hielt oder halten wollte. Mandela? Das alles hier konnte nichts anderes sein, als ein vollkommen absurder Albtraum. Ich freute mich schon jetzt auf den Moment des Aufwachens.

Etwas – ich weiß nicht, was – trieb mich dazu, näher an die Bühne heranzutreten. Der Mann sprach Englisch und soweit ich es verstehen konnte, kritisierte er das weiße Minderheitsregime Südafrikas.

Es gab, wie gesagt, in diesem Raum nur wenige andere Weiße. Vermutlich fiel mir der hellhäutige Mann, der jetzt rechts hinter dem Redner die Bühne erklomm, auch deswegen auf. Was wollte er? Wollte er ebenfalls zum Publikum sprechen, um vielleicht eine Gegenposition zum Ausdruck zu bringen? Oder war das etwa tatsächlich …? Sein Gesichtsausdruck wirkte nicht so, als würde er den Thesen des Redners zustimmen. Als dieser Mann noch etwa drei Meter von dem Redner entfernt war, griff er in die rechte Seitentasche seines Mantels und zog ein langes Küchenmesser hervor. Mir blieb keine Zeit für weitere Überlegungen über die vollkommene Unmöglichkeit meiner Lage. Ich stürmte mit einem Satz ebenfalls auf die Bühne, befand mich jedoch noch einige Schritte weg von dem Redner und dem Mann mit dem Messer. Würde die Zeit reichen? Als der Messermann noch etwa einen Meter vom Rücken des Redners entfernt war, hob er seinen Arm mit der Waffe und war bereit zuzustechen, als es mir mit einem waghalsigen Satz gelang, ihm in den Arm zu fallen und ihn damit an seinem Tun zu hindern. Nur wenige Sekunden später war die gesamte Bühne voll von durcheinander schreienden Menschen. Sie hielten den Messermann fest.

Ich frage mich heute manchmal, warum es ausgerechnet ich war, der den Mann an seinem Tun hindern konnte. Es waren doch so viele andere Menschen im Raum. Weil ich der einzige war, der vorher wusste, was passieren würde, wollte mein Unterbewusstsein mir immer wieder einreden. Dabei bin ich selbst heute noch weit davon entfernt zu glauben, dass dieses Kapitel wirklich passiert ist. Im Internet habe ich später nie etwas über dieses vermeintliche Attentat gefunden. Gleiches gilt für das alte Bild mit mir, das mir diese schwarze Frau gezeigt hatte. Überhaupt: Was war das überhaupt genau für eine Organisation, die mich damals entführt hat? Ich weiß es schlicht nicht.

Was für mich den Geschehnissen in der Kneipe folgte, war ein einziger Wirbel aus Licht.

***

Als ich unsere Wohnung betrat, sagte meine Frau: „Bist du diesmal geflogen?“

„Äh, wieso?“

„Naja, so schnell warst du vom Zigarettenholen“ – sie zwinkerte mir zu – „noch nie wieder zurück. Meistens guckst du dir doch noch kurz den Mond oder die Sterne oder was weiß ich an.“

„Also, ich …“

„Komm lass uns die Serie weiterschauen, die wir gestern angefangen haben. Etwas Primitivo müsste auch noch da sein.“

Nach einer ganzen Weile fügte Edith hinzu: „Seltsam, ich habe plötzlich einen Geruch in der Nase, der mich an meine Jugend in irgendwelchen verräucherten Kneipen erinnert. Komisch, welche Streiche einem das Gehirn doch spielen kann, oder?“