Von Nicole Leidolph

14. Januar 2020

Ich starre an die Tafel. Kolonnen von Zahlen. Worte, die keinen Sinn ergeben. Noch mehr Zahlen. Ich stelle mich mental schon mal darauf ein, wieder durch die Matheklausur zu fallen. Dieses Semester ist es dann das dritte Mal. Man sollte meinen, ich wäre mittlerweile ein Ass in Stochastik, aber ich verstehe immer noch überhaupt nichts. Ich will gerade Lea darüber informieren, als mein Handy leise vibriert. Lea wirft mir einen kurzen, tadelnden Blick zu, bevor sie wieder konzentriert an die Tafel starrt und eifrig weiterschreibt. Sie vertritt die Philosophie, diese Dinge durch unermüdliches Mitschreiben schon irgendwann zu verinnerlichen. Auch sie schreibt die Klausur in wenigen Wochen zum dritten Mal, ihre Methode ist also von ebenso wenig Erfolg gekrönt wie meine.
Resignierend ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Es ist bestimmt wieder nur eine dieser nervigen Push-Nachrichten, sage ich mir und bemühe mich, meinen Puls zu beruhigen. Es ist nicht Philipp, der sich nach drei Wochen nun doch plötzlich meldet. Ich habe recht. Es ist eine Push-Nachricht von einer dieser News-Apps. Ich habe davon sechs auf meinem Handy und bei Breaking News hagelt es immer Mitteilungen von allen Seiten. Jeder Nachrichten-Verbreiter will der erste sein. Das nimmt manchmal schon skurrile Züge an. Ich öffne die Nachricht gerade, da kommt schon die nächste. Und dann vermelden die übrigen vier ebenfalls die News. Es scheint also brisant zu sein. „Es gibt eine neue Krankheit in China“, flüstere ich Lea zu. „Irgendeine Grippe.“
Sie lässt kurz ihren Stift sinken. „Die Schweinegrippe?“
„Nein, von Fledermäusen.“
„Fledermausgrippe?“
„Ruhe in der letzten Reihe!“, donnert es plötzlich und ein Stück Kreide fliegt bedrohlich nah an meinem Kopf vorbei. Ein bemerkenswert guter Wurf. „Frau Nieden und Frau Spess, haben Sie diesen Kurs noch nicht oft genug gemacht?“
„Er kennt schon unsere Namen“, murmelt Lea verlegen und zieht den Kopf ein.
„Und wir seinen immer noch nicht.“ Ich lehne mich zurück, während der namenlose Professor weiter an die Tafel schreibt und dabei Selbstgespräche zu führen scheint. Meine Gedanken driften ab und nach wenigen Sekunden habe ich diese Fledermausgrippe vergessen.

24. Januar 2020

Noch acht Wochen bis zur Matheklausur. Ich habe immer noch nichts verstanden. Die Currywurst aus der Mensa lässt mich auch nicht besser denken.
„Heißt es eigentlich der oder das Virus?“, fragt Lea unvermittelt.
„Ich glaube, man kann beides sagen. Wieso?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Wegen dieser Fledermausgrippe. Ich frage mich das jedes Mal, wenn sie in den Nachrichten darüber sprechen.“
„Es gibt die ersten Krankheitsfälle in Frankreich.“ Ich spieße ein Stück Wurst auf und tunke es in die Soße. „Es hat Europa schnell erreicht.“
„Ja, gruselig.“ Sie verzieht das Gesicht. „Ich dachte, das kommt nicht zu uns, weil China doch so weit weg ist.“
„Handelsreisende“, mutmaße ich weltmännisch. „Bald ist es auch in Deutschland.“
„Corona nennen sie das jetzt, oder?“
„Fledermausgrippe gefällt mir besser.“
„Das ist doch eigentlich das Todesurteil für diese Biermarke.“ Lea schüttelt den Kopf. „Das will doch keiner mehr trinken.“

03. Februar 2020

Ich blicke aus dem verschmutzten Fenster und beobachte, wie die Landschaft an uns vorbeizieht. „Ich hasse Bahnfahren.“
„Ich auch.“ Lea rümpft die Nase. „Meinst du, hier ist jemand krank?“
„Krank?“
Ein Mann im Gang niest plötzlich, sämtliche Gesichter wenden sich ihm zu.
„Fledermausgrippe“, flüstere ich mit Grabesstimme und grinse, als Lea mich besorgt ansieht. „Wir werden alle sterben.“
„Hör auf damit“, zischt sie. „Es kann auch eine normale Erkältung sein.“
„Fledermausgrippe“, wiederhole ich. Der Zug wird langsamer. „Wir sind da.“
Sie steht auf. „Komm, wir sollten es wenigstens versuchen.“
„Dieses Tutorium bringt mich auch nicht weiter.“ Ich seufze gequält und bleibe sitzen. „Mathe und ich werden keine Freunde mehr.“
„Komm schon, Sarah, du bist nur faul.“
Ich hieve mich wie mit letzter Kraft aus dem Sitz. „Vielleicht müssen wir die Klausur ja nicht schreiben, wenn vorher alle an Fledermausgrippe sterben.“
„Mach dir keine Hoffnung.“ Lea verdreht die Augen. „Niemand stirbt in Deutschland. Ich bitte dich. Wir haben ein super Gesundheitssystem.“

05. März 2020

Ich erreiche Lea nach etlichen Versuchen endlich am Handy. „Wo steckst du?“, frage ich genervt. „Wir waren verabredet, ich habe ewig gewartet!“
„Hier ist etwas Merkwürdiges passiert, Sarah“, flüstert sie. Ihre Stimme klingt gedämpft. „Meine Mitbewohnerin ist verschwunden und die aus der WG nebenan…“
„Sie ist verschwunden?“ Ich merke, wie ich die Stirn runzle und versuche sie wieder zu entspannen. Ich bin 26 Jahre alt, in dem Alter entwickeln sich Falten. „Wohin denn?“
„Keine Ahnung!“
„Und wo bist du?“
„Im Keller.“
„Was?“ Mein Lachen erstirbt im Hals. Ich will etwas Lockeres sagen, die Situation entkrampfen, aber irgendetwas in ihrer Stimme gibt mir zu denken.
„Hier sind plötzlich so viele krank. Und dann kommen Soldaten“, flüstert sie und klingt sehr besorgt. „Ich verstecke mich vor ihnen. Kann ich zu dir?“
Ich sehe mich in meiner kleinen Wohnung um und erblicke Chaos. „Klar, aber es ist nicht aufgeräumt.“
„Egal.“ Sie atmet durch. „Ich bin gegen 22 Uhr da.“

16. März 2020

Seit Lea hier ist, haben sich die Ereignisse überschlagen. Die Bundeswehr ist plötzlich auf den Straßen unterwegs. Gestern haben wir einen Panzer gesehen. Das ist doch verrückt. Wir sind in Wuppertal, nicht irgendwo in Afghanistan. In den Nachrichten sieht man schockierende Bilder von Turnhallen, in denen sich die Leichen stapeln. Und dann gibt es die Gerüchte, Gerüchte, die besagen, dass Erkrankte abgeholt werden, bevor sie andere anstecken. Sie werden angeblich weggebracht und kommen nicht wieder. Verschwinden wirklich mitten in Deutschland immer mehr Menschen, als wären sie Rinder zu BSE-Zeiten? Ich würde gern meine Eltern anrufen, aber die Handynetze sind überlastet, man kommt nicht durch. Wie an Silvester.
Eine Woche ist es jetzt schon her, seit wir uns das letzte Mal auf die Straße getraut haben. Wir lassen uns die Lebensmittel liefern, das ist irgendwie sicherer. Der Mann vom Lieferdienst scheint ebenso skeptisch zu sein wie wir. Mit unserem Mundschutz stehen wir uns gegenüber.
Bevor er geht, wirft er uns einen eindringlichen Blick zu. „An eurer Stelle würde ich nicht mehr allzu lange hierbleiben. Verschwindet lieber aus der Stadt. Hier hat es sehr viele Todesfälle gegeben.“
Wir besprechen die Sache beim Abendessen.
„Mein Großvater hat eine Hütte im Wald.“ Lea beißt ein großes Stück Brot ab. „Im Bergischen, mitten in der Pampa. Wir fahren mit dem Auto hin und sitzen das Ganze aus.“
Während auf der Straße plötzlich Schüsse zu hören sind, nicke ich.
„Dort ist auch ein Gewehr“, sagt sie beiläufig. „Und eine Angel.“
Ich reiße die Augen auf. „Ein Gewehr?“
„Na, wir werden nicht verhungern.“ Sie lächelt, zum ersten Mal seit Tagen. Und zum ersten Mal seit Tagen verspüre ich so etwas wie leichte Zuversicht. Wir machen etwas. Wir sitzen nicht nur herum und haben Angst.
In der Nacht wache ich von einem lauten Knall auf.
Lea sitzt senkrecht im Bett neben mir. „Das kam nicht von der Straße“, wispert sie.
Wir klettern aus meinem Bett und schleichen zur Tür. Im Hausflur ist das Licht an. Vorsichtig, so als müsste ich eine Bombe entschärfen, blicke ich durch den Türspion. Vor der gegenüberliegenden Wohnungstür stehen vier Soldaten, alle bis an die Zähne bewaffnet. Sie tragen Gasmasken. Ein weiterer Knall.
Lea drängelt mich zur Seite. „Sie haben die Tür aufgetreten“, flüstert sie.
Ich drücke sie meinerseits vom Spion weg. Was ich sehe, kann ich kaum glauben. Gegenüber wohnt Frau Grün. Sie ist 85 Jahre alt, gebrechlich und auf Krücken angewiesen. Jetzt wird sie von zwei Soldaten an den Armen festgehalten und wirkt ganz und gar nicht gebrechlich. Sie wehrt sich mit einer Kraft, die ich ihr niemals zugetraut hätte. Ich zucke zurück, als sie plötzlich schreit, ein markerschütternder Schrei.
„Es ist nur ein normaler Schnupfen“, höre ich sie heiser rufen, bevor sie von einem Hustenanfall unterbrochen wird. „Ein normaler Schnupfen!“
Lea blickt wieder durch den Spion. „Ich glaube, die desinfizieren alles“, flüstert sie fast lautlos.
Mir wird schlecht. Was, wenn sie als nächstes bei uns klingeln? Denken sie, wir könnten krank sein? Als die Haustür ins Schloss fällt, wage ich es wieder zu atmen. Wir sehen vom Küchenfenster aus, wie Frau Grün in einem Transporter der Bundeswehr verschwindet. Sie bringen sie weg. Noch in dieser Stunde packen wir unsere Sachen und brechen im Morgengrauen auf. Irgendwie haben wir nicht einmal mehr Zeit für Mitleid. Wir hinterlassen nur einen Zettel an der Tür.
„Wir müssen mal eben weg“, schreibe ich. „Hier gibt es nichts zu holen, wir sind arme Studenten.“ Es erscheint mir angemessen, die Nachwelt wenigstens darüber zu informieren.

25. Mai 2020

In der Hütte lässt es sich gut aushalten. Wir haben Strom und Wasser, allerdings keinen Handyempfang, kein Internet und keinen Fernseher. Nur ein altes Radio, das die meiste Zeit Rauschen und Knistern überträgt. Deshalb bekommen wir nur wenig mit, aber das genügt. Wir werden hier noch definitiv eine Weile ausharren, bis das Leben irgendwann hoffentlich einen Weg gefunden hat und sich dieses Chaos wieder beruhigt. Lea entpuppt sich als wahres Survival-Lexikon. Ihre Familie stammt aus dem Hunsrück, hat sie gesagt, als würde das alles erklären. Sie bringt mir schießen, jagen und angeln bei. Die Matheklausur haben wir nie geschrieben. Es hätte ja mal jemand ausrechnen können, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Pandemie apokalyptischen Ausmaßes eintreten würde.