Von Herbert Glaser

„Du willst was?“
Sonja setzte sich auf, schirmte mit einer Hand die Augen vor der aufgehenden Sonne ab und sah ihren Mann mit zusammengezogenen Brauen an. Nur mit einer Badehose bekleidet stand er vor ihr.
„Ich werde nach Hause schwimmen.“
Sonja öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen.
„In unserem Viertel hat doch fast jeder einen Swimmingpool im Garten … und ich habe mir gedacht … ich könnte durch die ganzen Becken schwimmen … bis zu unserem eigenen Pool … wie durch eine Wasserstraße.“
Sonja sank zurück auf ihre Liege. „Elmar, du bist verrückt. Und was soll ich bitteschön unseren Gastgebern sagen, wenn sie aufgestanden sind?“
„Richte ihnen einen herzlichen Gruß aus und bedanke dich auch in meinem Namen für den wunderbaren Abend und die Übernachtungsmöglichkeit in ihrem Gästezimmer. Und dass ich wegmusste, weil ich nach Hause schwimme. In ihrem Pool fange ich an.“
„Du meinst das wirklich ernst, oder?“
Sein selbstgefälliges Grinsen machte eine verbale Zustimmung überflüssig.
„Und du glaubst, unsere Nachbarn warten nur auf dich und sehen zu, wie du durch Ihre Pools plätscherst?“
„Die kennen uns doch alle. Denk nur an die vielen Partys …“
„Du meinst wohl“, fiel sie ihm ins Wort, „die vielen Einladungen, die ich absagen musste.“
Elmar winkte ab. „Entspann dich, wir sehen uns Zuhause.“
„Aber schwimm nicht zu weit raus!“, rief Sonja ihm kopfschüttelnd hinterher, nachdem er mit einem Hechtsprung eingetaucht war und mit kräftigen Stößen zum gegenüberliegenden Beckenrand kraulte. Dort stemmte er sich neben der Leiter aus dem Wasser und überquerte den Rasen in Richtung Ausgang.

 

Der Himmel war klar und nicht von Wolken oder Kondensstreifen verunziert, als er das nächste Grundstück betrat und den Pool durchschwamm.
„Hallo Elmar“, überraschte ihn eine ältere Frau, als er wieder an Land war, „das ist aber eine Überraschung. Wir haben euch schon so lange nicht mehr gesehen. Möchtest du vielleicht einen Kaffee?“
„Gerne, das ist sehr freundlich. Wie geht es denn deinem Mann, ist er beruflich noch immer so viel unterwegs?“
„Beruflich? Robert ist seit fast zwei Jahren im Ruhestand. Hier, dein Kaffee. Stirnrunzelnd trank Elmar und setzte seinen Weg fort.
Er war froh, die zwei folgenden Becken ohne Kontakt mit den Besitzern durchschwimmen zu können, überquerte eine Straße und näherte sich einem besonders großen Grundstück, von dem ihm Stimmengewirr entgegenwehte.
Etwa 30 Partygäste drängten sich um den Pool. Es gab keine Möglichkeit, die Mission unbemerkt fortzusetzten. Das Unheil näherte sich in Person der Besitzerin Marianne.
„Nun seht mal, wer uns heute beehrt.“ Ihre Stimme klang wie verwässerter Scotch. „Wie oft habe ich euch eingeladen und jetzt … nach Allem, was passiert ist, tauchst du hier auf.“
„Was meinst du damit … was passiert ist?“
„Jeder weiß doch von dir und Evelyn.“
„Evelyn?“, erwiderte Elmar ertappt.
„Glaubst du wirklich, so etwas spricht sich nicht herum. Nimm dir einen Drink und verschwinde wieder!“
Ohne ein weiteres Wort drehte Marianne sich um und wandte sich ihren Gästen zu. Elmar konnte tatsächlich etwas zu trinken gebrauchen. Die Sonne und die Anstrengung hatten ihn durstig gemacht. Zielstrebig ging er zur Bar und bestellte einen Cocktail. Die Finger des Barmannes waren so lang, dass sie einem Konzertpianisten hätten gehören können. Oder einem Würger. Elmar stellte sich etwas abseits und trank. Das ständige Hintergrundmurmeln bot inmitten des hektischen Gewimmels eine gewisse Privatsphäre. Trotzdem kam er nicht umhin, einige Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Elmar kippte seinen Drink hinunter und entging so weiterem Schwachsinn, den die Partygäste in geistiger Schlichtheit von sich gaben. Nachdem er sich zum Beckenrand gedrängt hatte, tauchte er unter und genoss die wenigen gedämpften Augenblicke unter Wasser, bevor er sich angestrengt herausstemmte und eilig verschwand.

 

Die inzwischen aufgetauchte Wolkenbank zeigte immer weniger Bereitschaft, Sonnenstrahlen durchzulassen. Der Briefkasten des nächsten Hauses quoll über. Elmar lugte über den Zaun und entdeckte den leeren, mit Laub und Unrat verschmutzten Pool.
In der Einfahrt daneben bemerkte er einen Jungen.
„Hallo Kleiner … sag `mal, sind die Feldmanns verreist?“
„Die sind nicht verreist, da wohnt schon lange keiner mehr.“
„Das kann nicht sein, wir haben im letzten Jahr noch eine Weihnachtskarte von ihnen bekommen.“ Elmar bemühte sich, seiner Stimme einen beiläufigen, sorglosen Klang zu geben.
„Mein Name ist Thomas … und nicht Kleiner! Ich bin schon zwölf.“
„Thomas, natürlich. Bist du dir sicher?“
„Na klar, ich weiß es ganz bestimmt. Wir mussten nämlich zweimal zur Beerdigung, kurz nacheinander.“
„Die Feldmanns sind gestorben?“ Die Haare auf Elmars Armen kämpften plötzlich um einen Stehplatz.
„Ja. Mama hat gesagt … hier auf der Erde waren sie so lange zusammen, da hat es Frau Feldmann ohne ihren Mann nicht ausgehalten … im Himmel sind sie jetzt wieder zusammen. Waren sie deine Freunde?“
„Freunde … eigentlich nicht so richtig. Wir haben uns ab und zu gesehen und ein bisschen geplaudert. Und sie haben uns immer um Weihnachten herum eingeladen. Leider sind wir nie dazugekommen, sie zu besuchen. Tja, Thomas, da habe ich mich wohl vertan, die Zeit vergeht manchmal einfach zu schnell.“
Das kenne ich. Wenn ich in der Schule bin, dauert es ewig bis die Stunde aus ist, aber die Ferien sind immer zu schnell vorbei. Papa sagt, das liegt an der …“ er überlegte angestrengt, „… Re-li-täts-therie.“
„Relativitätstheorie!“
„Genau!“
Die beiden begannen lauthals zu lachen. Thomas beruhigte sich als Erster wieder. „Was wolltest du denn von den beiden?“
Elmar zögerte. „Ich schwimme durch die Pools der Nachbarn in unserem Viertel nach Hause.“
„Ach so“, reagierte Thomas wie selbstverständlich, „und jetzt fehlt dir ein Stück.“
„Ja, genau … ich sehe, du verstehst mich.“
„Mein kleiner Bruder hat auch einen Pool“, erklärte Thomas und zeigte auf ein aufgeblasenes Planschbecken, „er hat bestimmt nichts dagegen, wenn du ihn benutzt. Ist halt dann so was wie eine Umleitung.“
„Gerne“, lächelte Elmar gerührt, „warum nicht.“
Er ging zum Bassin, deutete einen Kopfsprung an und legte sich bäuchlings in das knöcheltiefe Wasser. Mit simulierten Kraulbewegungen ´durchschwamm` er das Becken und stieg mit gespielter Erschöpfung aus dem Wasser.
„Danke … du hast mich gerettet.“
„Gern geschehen. Jetzt musst du dich aber beeilen, ich glaube, da kommt ein Gewitter.“
Der bedeckte Himmel wirkte tatsächlich bedrohlich.

 

Durch eine zu einem Torbogen geschnittene Hecke betrat Elmar das Anwesen von Gustav, der gerade mit einer Kelle Blätter aus dem Wasser fischte.
„Hallo, nicht erschrecken, hier kommt Elmar. Ich schwimme durch die Pools unserer Nachbarn nach Hause.“
„Ach … ich wusste gar nicht, dass man das kann.“
„War so eine Schnapsidee von mir. Wenn ich bei euch durch bin, dann habe ich nur noch ein Becken vor mir. Bin froh, wenn ich es geschafft habe.“
Der Kopfsprung misslang gründlich, mühevoll legte Elmar die kurze Strecke zurück und kletterte mit letzter Kraft neben der Leiter aus dem Wasser.
„Es hat uns sehr leid getan … eure ganzen Probleme und alles“, rief Gustav ihm unvermittelt über den Pool zu.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Elmar rieb fröstelnd seine Arme mit den Händen.
„Ich meine … eure Trennung … und dass ihr euer Haus verkaufen musstet.“
Elmar sah ihn verständnislos an. „Ich kann mich nicht daran erinnern, das Haus verkauft zu haben und Sonja wartet Zuhause bestimmt schon auf mich … ich muss los.“
Gustav sah Elmar so durchdringend an, dass dieser den Druck seines Blickes noch spürte, als er sich längst abgewandt hatte. Außerdem fühlte er deutlich, wie sich die Müdigkeit zwischen seinen Schulterblättern auseinanderfaltete.

 

Mit langsamen Schritten ging er auf eine Zauntür zu, die sich auf der Hinterseite des nächsten Grundstücks befand. Er blickte sich verstohlen um und hob dann einen Stein hoch, unter dem ein Schlüssel versteckt war. Elmar näherte sich unbemerkt von hinten einer Frau und küsste ihren Nacken. Sie sprang auf und drehte sich um. „Du … was soll das?“
„Ich musste dich unbedingt sehen, Evelyn, ich dachte, du freust dich.“
„Freuen, was glaubst du eigentlich? Wenn du wegen Geld kommst … ich gebe dir keinen Cent mehr!“
Elmar ging mit einem humorlosen Lachen über die Bemerkung hinweg.
„Du könntest mir etwas zu trinken geben.“
„Ich könnte … aber ich will nicht.“ Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. „Ich bin nicht alleine … verschwinde jetzt.“
„Ich schwimme durch unser Viertel. Nur noch dein Pool, dann bin ich Zuhause.“
Seine Stimme war ein Destillat tiefster Erschöpfung.
„Zuhause … Dein Zuhause? Mein Gott, werde endlich erwachsen!“
Evelyn ließ ihn stehen und ging ins Haus. Mit abgehackten Schritten ging Elmar zum Pool, wo er sich vorsichtig ins Wasser gleiten ließ. Mit einer Hand am Beckenrand hangelte er sich zur anderen Seite und benutzte die Leiter zum Ausstieg.

 

Die Wut des Gewitters aus den mittlerweile blutergussschwarzen Wolken stieß und schubste ihn, als er gebückt die Einfahrt zu seinem Haus betrat. Nirgendwo brannte Licht. Ein Fenster war eingeschlagen und gaffte ihn blicklos an. Elmars Verstand stocherte in der Leere herum wie die Zunge im Loch eines gezogenen Zahns. In der Dunkelheit versuchte er, etwas zu erkennen. Ein Blitz durchzuckte die Nacht und erhellte auch das Innere des Hauses. Es war leer.

 

Version 3