Von Hans-Günter Falter

Voller Terminkalender heute. Alles eng getaktet. Gespräche im Stundenrhythmus. Anstrengende Gespräche. Nur Außentermine. Mir graut beim Gedanken an den Zeitplan. Augen zu. Durchatmen. Los.

Meine Erklärung, dass die Fähre, die mich auf die andere Seite der Elbe bringt, betankt wurde und sich meine Fahrt deshalb unverschuldet um eine knappe halbe Stunde verzögerte, interessiert ihn nicht. Er ist stinksauer. Hätte eine halbe Stunde länger schlafen können, meint er. Er tut, als habe ich sein ganzes Leben ruiniert.
Ich werde langsam auch sauer, will ihn aber nicht daran erinnern, dass er arbeitslos ist und keinerlei Plan für diesen Tag hat. Und auch für keinen anderen Tag.
Zugegeben, er hätte eine halbe Stunde länger schlafen können. Dann wäre weniger Zeit zum Vor-sich-hin-Dödeln übrig geblieben, auch ein Vorteil. Aus seiner Sicht. Nein, das behalte ich für mich. Denke mir meinen Teil und bin froh, dass dieses Gespräch heute kürzer sein wird als sonst.

Beim nächsten Klienten bin ich absolut pünktlich. Nützt mir allerdings nichts, denn die Tür bleibt verschlossen. Wahrscheinlich hat mein Gesprächspartner die Verabredung schlichtweg vergessen. Vermutlich. Wäre nicht das erste Mal.
Ich ärgere mich. Normalerweise bekommt dieser Mensch immer das letzte Gespräch vor Feierabend. Genau deshalb. Weil er Termine schon so oft vergessen hat.

Eine Stunde Pause. Eine unerwartete Pause in meinem eng getakteten Terminplan. Na gut. Habe mein Laptop dabei und könnte an einer Geschichte weiterarbeiten, bei der ich gestern hängengeblieben bin. Der Kurpark ist nur zwei Minuten von hier entfernt. Also los. In einer Stunde kann viel passieren, wenns so richtig fließt.

Der Springbrunnen am Eingang des Parks ist noch nicht an, hier fließt jedenfalls noch gar nichts, nur schmutziges Wasser steht in dem Rund. Hoffentlich geht’s mir mit meiner Story nicht genauso.

Es zieht mich Richtung Spielplatz, da ist es ruhig. Eine gemütliche Bank mit Schatten. Sehr gut. Gibt nicht zu viele Reflexionen auf dem Display. Es sind drei kleine Kinder in der Sandkiste, aber die spielen ruhig miteinander. Außerdem, an Kinder im Hintergrund bin ich gewöhnt, sie haben etwas Beruhigendes, wenn sie nicht quengeln oder streiten. Klar, das kommt auch mal vor.
Zwei junge Frauen, die Mütter, wie ich vermute, sitzen entspannt in der kleinen Sitzgruppe neben dem Sandkasten, palavern miteinander und halten dabei ihre Handys fest. Oder reden die gar nicht miteinander, sondern jede für sich mit ihrem Smartphone? 

Ich klappe den Computer auf. Wo war ich? Ja, Django Reinhard und Paris. Will diesen traumatischen Tag des Unfalls beschreiben, der sein Leben veränderte. Ich denke kurz nach. Die Worte kommen. Anders als gestern, da kam nichts Vernünftiges zustande. 

Versunken in meine Gedanken und eingetaucht in das Paris der 20er Jahre schreibe ich eine ganze Weile, spüre dann einen Schatten neben mir.
„Guten Tag. Ihre Papiere bitte“, sagt da eine Stimme, während Django sich in meiner Geschichte gerade einen Pastis einverleibt. 
Ich schaue erstaunt auf. Vor mir stehen zwei schwarz gekleidete Polizisten, beziehungsweise eine Polizistin und ein Polizist. Ich bekomme wie auf Kommando ein schlechtes Gewissen, keine Ahnung woher.
„Habe ich etwas verbrochen?“, frage ich mit gespielt lockerem Unterton, der mir aber nicht so recht gelingen will.
„Erst einmal den Personalausweis bitte“, wiederholt die Polizistin und schaut dabei streng. Der Blick erinnert mich an meine Ex-Frau. So schaute sie immer, wenn ich vergessen hatte, den Müll mit raus zu nehmen.
Ich fingere das Teil fahrig aus meinem Portemonnaie und reiche es ihr. Sie nimmt den Ausweis in die Hand und vergleicht offenbar das Bild mit mir, dem Original. Schaut mich an, dann wieder auf den Ausweis und wieder zu mir. Instinktiv versuche ich das gleiche Gesicht aufzusetzen wie seinerzeit in dem Passbildautomaten der Gemeindeverwaltung.
Sie wendet sich ab, geht ein paar Schritte von mir weg und redet mit gedrehtem Kopf in Richtung ihrer Schulter. Verstehen kann ich nichts, höre nur Rauschen, Piepsen und unverständliche Stimmen.
Die Polizistin sieht ziemlich martialisch aus, mit ihrem Pistolenhalfter, dem Pfefferspray und den Handschellen, die an ihrem Gürtel hängen.
„Was machen Sie hier?“, fragt der andere Polizist und lenkt damit meine Blicke und Gedanken von seiner Kollegin ab.
„Und was machen Sie hier?“, würde ich am liebsten antworten. Fühle mich aber irgendwie in der Defensive und lasse es bleiben.
„Nichts“, antworte ich, merke aber, dass es etwas albern klingt und füge hinzu: „Ich schreibe eine Kurzgeschichte über Django Reinhard“.
Der Polizist registriert es mit stoischem Blick und zieht für eine Mikrosekunde seine linke Augenbraue etwas hoch. Ein Psychologe könnte hieraus jetzt bestimmt ein tiefsinniges Psychogramm dieses Beamten erstellen. Ich nicht. Seine Miene verrät mir nichts.
Die Polizistin kommt wieder näher, schaut ihren Kollegen kurz an, macht auch eine Augenbewegung, auf die er bestätigend nickt, diesmal ganz klar. Ohne Augenbrauenzucken.
Gedanken rutschen mir durch den Kopf; irgendwas Psychologisches über Mikrobewegungen muss ich dringend mal lesen; wer meiner Ex jetzt wohl den Müll rausträgt?; hat sich der Klient beschwert, weil ich zu spät gekommen bin?
Ich muss mich konzentrieren.
„Ist irgendetwas passiert, warum kontrollieren Sie mich?“, frage ich jetzt mit erstarkendem Selbstbewusstsein.
„Routine, alles in Ordnung“, sagt die Polizistin und reicht mir meinen Ausweis zurück. An den hatte ich gar nicht mehr gedacht.

Im Hintergrund höre ich eines der Kinder aus dem Sandkasten schreien. Ich beuge mich vor, um an dem Polizisten, der im Sichtfeld steht, vorbeischauen zu können. Die beiden Frauen halten ihre Kinder ängstlich fest und starren zu uns herüber.

„Hat es was mit den Kindern da drüben zu tun?“ Mir kommt ein dunkler Verdacht. Der Polizist schaut zu seiner Kollegin und ich sehe wieder ein Zucken um seine Augen. Die Polizistin rollt die Augen nach oben und zieht die Lippen zu einer Schnute zusammen, so als wäre sie beim Pupsen erwischt worden.
„Das kann doch nicht sein“, entfährt es mir. „Denken Sie etwa, ich murkse die beiden Frauen da drüben ab, um mich dann an ihren schreienden, weglaufenden Bälgern zu vergehen? Hier? Mitten im Kurpark?“
„Beruhigen Sie sich“, sagt die Polizistin und schaut hilfesuchend zu ihrem Kollegen.
„Die Frauen fühlten sich wohl beobachtet und waren etwas übersensibel“, sagt der in bemüht sachlichem Ton.
„Ich habe niemanden beobachtet und selbst wenn, muss man mich dann gleich anzeigen?“
„Sie wurden nicht angezeigt, bitte beruhigen Sie sich“, sagt die Polizistin noch einmal.
Und ich beruhige mich tatsächlich schnell wieder. Wundert mich zwar. Ist aber so.
„Muss ich jetzt hier weggehen und mir eine andere Bank suchen?“, frage ich.
„Nein, Sie können natürlich bleiben, es ist alles in Ordnung“, sagt die Beamtin und fügt an: „Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag“. Daraufhin wenden sich die beiden von mir ab und gehen zu den Frauen mit den Kindern hinüber.

Mein ganzer Körper fängt plötzlich an, unkontrolliert zu zittern. Die ganze Situation hat etwas so Irreales. Ich beschließe, meine Sachen zusammenzupacken, hier kann ich mich nicht mehr konzentrieren und auch die Nähe zu diesen beiden Frauen will ich nicht länger ertragen.

Ich atme ein paar Mal tief durch, versuche das Zittern zu unterdrücken.
Dann stehe ich auf, gehe selbstbewusst auf die Frauen mit ihren Kindern und die beiden Ordnungshüter zu, die zusammenstehen und miteinander reden. Sie unterbrechen jetzt ihr Gespräch. Schauen mich erstaunt und erwartungsvoll an.
Ich wende mich an die Polizisten und sage mit fester Stimme: „Kollegen, ich muss nochmal weg, wir haben schließlich noch mehr Kundinnen aus dem Rotlicht- und Drogenmilieu hier in der Stadt“. Ich werfe einen kurzen abschätzigen Blick in Richtung der beiden Mütter und füge an: „Ihr kommt mit den Damen hier doch sicherlich auch ohne mich zurecht. Oder? Eure Waffen und die Handschellen habt ihr ja dabei.“
Ich sehe wieder eine Mikrobewegung um die linke Augenbraue des Polizisten.
„Ich informiere von unterwegs schon mal das Jugendamt“, sage ich abschließend, drehe mich dabei um und gehe beschwingt zurück, quer durch den Kurpark. 

Der Springbrunnen am Ausgang ist jetzt übrigens an, und aus den acht Düsen, die am Rand in den Boden eingelassen sind, schießt das Wasser in fröhlichen Fontänen. Mein Tag läuft gut.
Nur der nächste Klient wird sich wundern, ich bin heute viel zu früh dran.

 

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