Von Angelika Brox

Hanna startet den Kombi und fährt los. Im Rückspiegel sieht sie Lukas und die Zwillinge winken.

Ihr Herz wird schwer und ihre Kehle eng. Dieser Besuch fällt ihr nicht leicht, doch es wird höchste Zeit. Vier Wochen sind seit der Beerdigung vergangen. Seit dem unfassbaren Verbrechen leben ihre Eltern allein in der Wohnung mit dem verwaisten Zimmer, in das Tim niemals zurückkehrt.

Zwar hat sie jeden Abend mit ihnen telefoniert, aber das reicht Hanna nicht mehr. Sie muss sich vergewissern, dass die Eltern es irgendwie schaffen. 

Hanna atmet tief durch. Sie hat sich gründlich auf den Besuch vorbereitet und ihr Vorhaben gibt ihr die Kraft, die sie dringend benötigt.

 

Natürlich weinen sie alle drei und sprechen über nichts anderes als über Tim. Es hatte eine Auseinandersetzung vor einem Club gegeben, Tim wollte schlichten, das Messer traf ausgerechnet ihn. In zwei Wochen wäre er achtzehn geworden.

Der Vater springt auf und ballt die Fäuste. „Hoffentlich lassen sie diesen Mistkerl nie mehr aus dem Gefängnis.“ Seine Stimme klingt erstickt. „Es wäre wirklich besser für ihn. Sobald der rauskommt, stehe ich am Tor und warte auf ihn.“ Er geht zum Fenster und starrt ins Leere.

Die Mutter knetet ihr feuchtes Taschentuch. „Wie kann dieser Mensch einfach hingehen und ein Leben auslöschen und eine ganze Familie ins Unglück stürzen?“

Der Vater lacht bitter auf. „Wahrscheinlich hatte er eine schwere Kindheit. Frag mal seinen Verteidiger.“ 

Die Mutter zieht ein neues Taschentuch aus der Packung. „Ach, Hanna, Eltern sollten ihre Kinder nicht überleben müssen. Wenn wir dich und Lukas und die Kleinen nicht hätten, ich weiß nicht …“ Sie verstummt und wischt sich die Tränen von den Wangen. 

Hanna schluckt. Dann strafft sie die Schultern. „Ich muss noch mal kurz weg. Aber ich komme bald wieder und ich kann bis morgen Abend bleiben.“

 

Sie wagt es kaum, zum Club hinüberzuschauen. In dem kleinen Park gegenüber trifft sie sich mit Leon und Philip, Tims besten Freunden. Die drei umarmen sich und halten sich einen Moment lang fest. Schließlich sagt Leon leise: „Es ist einfach nur schrecklich. Er fehlt uns so.“ Philip atmet tief ein, dann stößt er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: „Dieses Schwein! Ich könnte ihn umbringen!“

Hanna nickt. „Geht mir auch so. Lasst uns die Aktion starten. Für Tim.“

 

Gemeinsam entladen sie Hannas Auto und tragen alles auf die Grünfläche.

Hanna fotografiert, wie Leon mit dem Spaten ein Loch gräbt und Philip behutsam einen jungen Ahorn einsetzt. Die beiden gießen Wasser aus einem Kanister in das Pflanzloch und bedecken die Wurzeln mit Erde. Neben dem Stamm schlagen sie mit einem Gummihammer einen angespitzten Pfahl in den Boden und binden den Baum daran fest. Sie arbeiten Hand in Hand und sprechen nur das Nötigste. Zum Schluss schrauben sie an den Pfahl ein Messingschild, auf das Hanna eingravieren ließ: „Für Tim, ermordet mit 17“.

Schweigend stehen alle drei beisammen, betrachten ihr Werk und lassen es auf sich wirken. 

Nach einer Weile reicht Hanna Philip ihr Smartphone und bittet ihn zu filmen. Sie stellt sich neben den Ahorn, hält ein Porträt von Tim hoch und spricht in die Kamera: „Diesen Baum haben wir für meinen toten Bruder gepflanzt, der kurz vor seinem 18. Geburtstag erstochen wurde. Es würde Tim sicher gefallen, wenn die Menschen seinen Baum betrachten, sich später vielleicht sogar in seinen Schatten setzen, den Text auf dem Schild lesen und darüber nachdenken, dass Gewalt keine Lösung ist.“

Anschließend filmt  sie Leon und Philip, die sich neben dem Baum aufstellen und ein großes Foto hochhalten, auf dem die drei Freunde zu sehen sind, wie sie Arm in Arm, bekleidet mit dicken Anoraks und Mützen, vor einem Berg stehen und lachen.

Leons Augen schimmern feucht. Hanna sieht, wie schwer ihm das Sprechen fällt. Schließlich räuspert er sich energisch. „Tim, alter Kumpel, wir haben für dich einen Ahorn gepflanzt, weil das Ahornblatt das Wahrzeichen Kanadas ist.“ Er blickt zu Philip hinüber. „Mach du weiter!“

Philip schnieft und reibt sich die Nase, dann übernimmt er. „Lieber Tim, eigentlich wollten wir ja im Sommer zu dritt nach Kanada. Jetzt müssen Leon und ich ohne dich fahren, aber wir machen die Reise für dich mit.“

Hanna spürt einen Kloß im Hals. Sie schaltet die Kamera aus. „Ich danke euch, ihr wart super. Morgen stelle ich das Video ins Netz.“

 

Während sie den Eltern die Aufnahmen zeigt, schaut sie gespannt in ihre Gesichter. Die beiden beginnen zu lächeln. Endlich wieder einmal!

Die Mutter drückt Hannas Hand. „Das ist eine wunderschöne Erinnerung an unseren Tim. Das hast du gut gemacht.“

Der Vater nickt. „Es hätte ihm gefallen. Morgen früh fahren wir gleich hin und besuchen Tims Baum.“

 

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