Von Anne Moog

Es sollte ein gemütlicher Sonntagnachmittag werden. Während meine Frau mit den Kindern den Waffelteig vorbereitete, machte ich mich auf zu einem Spaziergang mit unserem Hund. Der Winter war hart und lange gewesen. Seit Oktober hatten durchgängig Temperaturen im Frostbereich geherrscht. Von Tag zu Tag wurde es jetzt langsam wärmer. So spürte ich beim Verlassen des Hauses sofort die wohltuenden Strahlen der Märzsonne. 

„Hilfe! Hilfe!!“ 

Die durchdringenden Schreie rissen mich aus meinen Gedanken, die sich wie fast immer in meinem Leben um Computerspiele drehten, um Superhelden mit Superkräften. Hatte ich richtig gehört? 

„Hiiilfe!“

Auch Toni spitzte die Ohren. Er verharrte einen Moment, dann zog er mich kräftig an der Leine in Richtung See. Ich beschleunigte meinen Schritt. Als ich auf die Lichtung trat und auf den See blickte, erstarrte ich. Ich war in meinem Leben noch nie mutig gewesen. Ich bin ein introvertierter Mensch. Dazu passt auch, dass ich am liebsten mit meinem Computer kommuniziere. Und jetzt so was. Ich sah den scheinbar zugefrorenen See. Ich sah das Warnschild. Ich sah Philipp, den Klassenkameraden meiner Tochter, auf der Eisfläche. Ich sah die Risse im Eis. Ich sah einen blassen, verängstigten zweiten Jungen am Uferrand stehen. Und ich hörte das Knirschen. 

Ein Adrenalinstoß durchflutete meinen Körper. Ich rannte zu dem Jungen am Uferrand. „Wie heißt du?“ 

Er hatte mich wohl nicht kommen sehen. Verdutzt schaute er mich an. 

„Wie ist dein Name?“ 

„Ähm… Ralf.“

„Ok, Ralf. Ruf die Feuerwehr.“

„Was?“ Er starrte mich reglos an. „Wie?“

Der Junge war völlig neben der Spur. Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Ich war doch nicht zum Helden geboren. Ich sprach so laut und deutlich wie ich konnte. „Eins. Eins. Zwei. Okay?“

Er nickte. Endlich.

„Sag ihnen, dass sich eine Person kurz vor dem Einbruch auf dem Silbersee befindet.“

Das Knirschen wurde lauter. Es hörte sich an wie das Ächzen eines viel zu alten, morschen Scheunendaches. Entsetzt starrte Ralf zurück zu seinem Freund auf dem See. Ich packte ihn und drehte ihn wieder zu mir, sodass ich ihm direkt in die Augen sehen konnte.

„Ralf, hörst du mich?“ 

Ich schüttelte ihn an den Schultern. „Sieh´ mich an Ralf. Ralf, wir schaffen das nicht allein. Wir brauchen Hilfe … Du rufst die Feuerwehr und ich kümmere mich um Philipp. Okay?“ 

Ralf schien langsam aus seiner Schockstarre zu erwachen. Er griff nach seinem Handy. Endlich. Ich atmete tief durch und blickte auf den See. Toni bellte.

„Philipp. Erkennst du mich? Ich bin Uli Schneider, der Vater von Luise. Ich helfe dir.“ 

Philipp starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sein Freund am Ufer mit der Feuerwehr telefonierte. Hoffentlich kamen sie schnell genug.  Das Eis knackte. Philipp schrie auf. „Ich breche gleich ein!“, stieß er schwer atmend hervor. 

Mein Herz wummerte. Was, wenn er vor meinen Augen sterben würde? Wieso war das hier nicht eines meiner Computerspiele? Da hatte ich immer eine Lösung. Mein Gehirn lief auf  Hochtouren. Selbst wenn die Feuerwehrleute sofort in die Löschzüge springen würden, bräuchten sie über den Waldweg bis hierher mindestens zehn Minuten. Zehn Minuten! Die Zeit hatten wir nicht. Verdammt. „Also Philipp …“, sagte ich so ruhig wie möglich. „Du legst dich jetzt gaaaanz langsam auf den Bauch.“

Philipp starrte mich weiter an. „Ich kann mich nicht bewegen“, rief er mir mit zitternder Stimme zu. 

„Doch, das geht. Du kannst das.“ 

Philipp ging langsam in die Knie. Ralf und ich verfolgten wie gebannt jede seiner Bewegungen. Toni winselte. 

„Du machst das genau richtig Philipp … So. Und jetzt legst du dich genauso langsam auf den Bauch. Du musst dein Gewicht verteilen.“ 

„Ich kann nicht!“, schrie Philipp verzweifelt.

Die Eisdecke würde an der Stelle, an der Philipp kniete, nicht mehr lange halten, das war mir klar. Mein Puls beschleunigte sich, Schweißperlen standen auf meiner Stirn – bei einem Grad über Null. Ich sah keine andere Möglichkeit, ich musste auf das Eis. 

„Ich komme Philipp!“ 

Plötzlich stand Toni neben mir und bellte mich an. Gerade als ich ihn ausschimpfen wollte, kam mir eine Idee. Ich griff nach seinem Halsband, löste die Leine und sah zurück zu Philipp. „Philipp, ich werfe dir jetzt die Hundeleine zu. Die Schlaufe wickelst du fest um dein Handgelenk, verstanden?“

„Ja.“ Philipp weinte.  

Als Philipp nach der Leine griff knirschte das Eis gefährlicher als je zuvor. Aber es hielt. Noch.

Ich drehte mich um zu Ralf. „Ich lege mich jetzt auf das Eis. Leg du dich auch hin. Bis zur Hüfte bleibst du am Ufer, den Oberkörper legst du auf die Eisfläche. Ralf, du musst mich an den Fußgelenken festhalten. Wir zwei bilden eine Kette und ich halte die Hundeleine. Hast du mich verstanden?“ Ralf nickte nur. 

Von Ralf gesichert, rutschte ich Philipp langsam entgegen. Dann endlich bekam ich die Leine zu packen. „Philipp, wir schaffen das!“ Ich war von mir und meinen Worten selbst überrascht. Ich erfinde täglich Superhelden, bin aber keiner. Aber hier, das war das wahre Leben. Jetzt war ich also in einer Situation, in der ich agieren und kommunizieren musste. Erstaunlicherweise funktionierte es. Ich sah und hörte plötzlich Dinge, die ich sonst nicht wahrgenommen hätte. So registrierte ich jetzt, trotz meiner anstrengenden Bauchposition, Philipps Schal von Borussia Dortmund.

„Du bist Dortmund-Fan?“, murmelte ich. Zwar konnte ich  Philipp nicht in die Augen sehen, aber in seiner Stimme erkannte ich sofort eine positive Veränderung. 

„Oh ja, und wie. Ralf ist für Schalke, ich für Dortmund. Das sind immer harte Duelle.“ Philipp lachte. Ich war verblüfft, wie schnell ich ihn ablenken konnte. 

„Habt ihr denn auch schon mal ein Spiel im Stadion gesehen?“, fragte ich weiter. 

„Nee, leider nicht. Unsere Väter sind nicht so die Fußballfans und alleine kommen wir da ja noch nicht rein.“ 

„Dann sollten wir das mal gemeinsam tun, was meint ihr?“ Ich weiß heute noch nicht, wie ich auf diese Idee kam. Mich interessiert Fußball überhaupt nicht. Aber sie war plötzlich da und sie war goldrichtig. 

Ralf juchzte von hinten. „Das wäre saugut.“ 

Philipp hatte gerade zu einer Antwort angesetzt, als es mehrfach laut knackte. Es tat sich ein Loch auf der Eisfläche auf und Philipp verschwand darin. Es ging alles noch viel schneller als ich es befürchtet hatte. Ralf hörte ich hinter mir schreien. Mein Herz raste. Ich versuchte tief durchzuatmen. Philipp tauchte wieder auf und schaute mich völlig verstört an. 

„Philipp, festhalten“, brüllte ich. „Halte dich fest, Junge!“ 

Philipp versuchte, sich auf der Eisfläche aufzustützen. Sie brach jedoch sofort erneut weg. Er tauchte unter. Und direkt wieder auf. Er krallte sich in das Eis. Mit äußerster Kraftanstrengung gelang es ihm, sich mit den Armen und dem Oberkörper auf das Eis zu schieben. 

„Ich hab dich!“ Nach hinten rief ich „Ralf, du musst ziehen. Ralf, mit aller Kraft ziehen. Zieh uns zurück.“ 

Als die Feuerwehr und das THW eintrafen, hatten wir es gerade an das Ufer geschafft. Wir wurden in Wolldecken eingehüllt und bekamen heißen Tee. Vollkommen erschöpft hingen wir unseren Gedanken nach. Irgendwann unterbrach Philipp die nicht unangenehme Stille. „Ich freue mich, wenn wir zum Dortmund-Spiel fahren.“ 

Ralf grinste. „Gegen Schalke, wie ausgemacht.“ 

Auch ich lächelte. „Geht klar Jungs. Ich freue mich auch.“ Dann schwiegen wir wieder. Plötzlich hatte ich die Idee für ein neues Computerspiel mit einem Alltagshelden …  

 

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