Von Renate Oberrisser

Durch das schmiedeeiserne Tor betritt Tessa ehrfürchtig diesen prachtvollen Park. Weiß-, gelb- und rotblühende Rosenstöcke teilen sich die Anlage mit alten Blutbuchen, Eschen und Linden. Blumenrabatte säumen einen breiten Kiesweg. Dieser führt an einer Engelsstatue vorbei, die den sie umgebenden Marmorbrunnen mit Wasser speist. Imposant, wie ein Schloss, einer Kirche nicht unähnlich, steht dahinter dieses ehrwürdige alte Gebäude. Eine geschwungene Treppe aus Granit führt nach oben, zum weit geöffneten Eingangsportal. Tessa lässt sich von den aufwärts strömenden Menschen mittragen. Eine, nach dem sonnigen Park, angenehm kühle Aula empfängt sie. Glänzender Marmor bedeckt den Boden. Landschaftsgemälde und Ölporträts an den cremeweißen Wänden, unterstreichen die Bedeutsamkeit dieses historischen Ortes. Sonnenstrahlen malen verspielte Reflexe auf die große Infotafel neben der Tür.

 

10:00   Begrüßung inkl. Sektempfang

            Aula im EG

 

10:30   Allgemeiner Überblick und Seminareinteilung

            Bibliothek im 1. Stock

 

12:00   zwangloses Kennenlernen beim gemeinsamen Mittagessen

            Speisesaal im EG

 

13:30   individuelle Kleingruppenarbeiten

            Seminarräume im 2. Stock

 

19:00   gemeinsames Abendessen und gemütlicher Tagesausklang

            Speisesaal im EG

 

Unzählige Personen bewegen sich durch die Halle, auf  weiß gedeckte Stehtische zu. Manche einzeln und hastig. Andere, in kleinen Gruppen, gemächlich, plaudernd. Einige, wie Tessa selbst, ratlos und suchend. Es wundert sie noch immer, dass sie so kurzfristig einen Restplatz für dieses normalerweise früh ausgebuchte und sehr gefragte Seminarwochenende erhalten hat.  Die beeindruckende Architektur bewundernd, geht sie langsam dem schwarz befrackten Kellner mit den Sektgläsern entgegen.

 

„Hallo, schönes Fräulein! Das ist ja eine herrliche Überraschung. Dich ausgerechnet hier zu treffen. Bist du auch mit dem Bus gekommen? Ich hatte da so ein Gefühl, dich gesehen zu haben“, ertönt eine tiefe, männliche Stimme hinter ihr. Als Tessa sich umdreht, bleibt der übergewichtige Mann schwer atmend und sich an die Brust greifend neben ihr stehen. Das verschmitzte Lächeln  würde Tessa überall erkennen. Der gute, alte Eckbert. Der Liebling der Kinder in der Schule. Der Schulwart mit dem großen Herz. Jedes Kind kannte er mit Namen und für jedes Wehwehchen hatte er ein Trostpflaster bereit. Für sie war er ein Fels in der Brandung, als sich ihre Eltern trennten.   Alt ist er geworden, stellt Tessa fest.

„Komm, wir holen uns erst mal ein Gläschen. Dann lassen wir uns von denen was erzählen und beim Mittagessen haben wir Zeit, etwas ausführlicher zu plaudern. Mensch! Lang ist es her, Mädl!“ Leutselig wie immer, doch wesentlich kurzatmiger als Tessa sich erinnert, palavert Eckbert weiter.

 

Schon komisch, ausgerechnet Eckbert hier zu treffen. Und überraschend viele ältere und auch männliche Seminarteilnehmer. Vereinzelt dürften sogar Kinder mitgekommen sein. Ob es hier auch eine Kinderbetreuung gibt, wundert sich Tessa. Der berufliche Stress der letzten Zeit scheint ihr doch mehr zugesetzt zu haben, als sie dachte. Umso mehr freut sie sich auf das Wochenende in diesem ungeahnt märchenhaft schönen Ambiente.

 

„Wir begrüßen alle Neuankömmlinge aufs Herzlichste. Wir wünschen euch hier einen wunderschönen Aufenthalt. Schließt neue Freundschaften. Versucht neue Talente zu erkennen und zu vertiefen. Hier und Jetzt ist alles möglich. Gemeinsam, in kleinen Gruppen, mit erfahrenen Coachs, bereiten wir euch auf das Zukünftige vor.“ Der elegante, weißhaarige Herr im legeren, schwarzen Anzug prostet den Anwesenden mit einem Glas Sekt zu. „Bitte achtet alle darauf, vor dem Betreten der Bibliothek eine Nummer zu ziehen. Diese Nummer ist wichtig, für die Einteilung in die Kleingruppen. Gleiche Nummern bedeuten, wie könnte es anders sein, gleiche Gruppe. Es gibt wie immer die Zahlen 1 bis 9. Die Gruppengröße variiert diesmal, je nach zugeteiltem Thema, zwischen 5 bis 10 Teilnehmern. Ein gegenseitiges Austauschen der Nummern, um in eine andere Gruppe zu kommen, ist wie immer nicht möglich. Es gibt jedoch genügend Zeit, zwischen den einzelnen Gruppenarbeiten und danach, mit denen Kontakt zu pflegen, die einer anderen Gruppe angehören.“

 

„Hoffentlich kommen wir zwei Hübschen in die gleiche Gruppe. Bin schon gespannt, wie ein Gummiringerl, was die uns hier alles erzählen werden. Ich war noch nie bei so was dabei. Hab ich auch nie vorgehabt. Aber mein Hildchen sagte immer: Eckbert, du musst was tun, für deine grauen Zellen und etwas mehr Bewegung würde dir in der Rente auch nicht schaden. Und dann ist trotzdem sie viel zu früh gegangen, mein Hildchen. Trotz des gesunden Essens und der Bewegung. War schon immer nicht die gesündeste, mein Hildchen. Ich freue mich schon drauf, sie irgendwann mal wieder zu sehen.“ Verstohlen wischt sich Eckbert eine Träne aus dem grauen Backenbart. „Stickig hier drinnen, nicht war. Hier sollte mal einer das Fenster öffnen. Ich besorge uns mal kühlen Nachschub. ’n Schampus für den Herrn und ’n Wasser für die Dame! So hätte es jedenfalls mein Hildchen gewollt. Und du?“, flüstert Eckbert Tessa ins Ohr und nimmt ihr das leere Glas aus der Hand.

„Wasser wäre super. Danke Eckbert“, erwidert Tessa.

 

Langsam beginnt die Gesellschaft sich aufzulösen und das Geschehen sich eine Etage höher zu verlegen.  Tessa hängt sich bei Eckbert unter. Dankbar, hier unter den vielen fremden Gesichtern, ein Bekanntes gefunden zu haben und genauso scheint es dem alten Mann zu ergehen. Selig tätschelt er ihre Hand und schreitet stolz an der Seite der jungen Frau, dem Mädchen mit dem Nummernlose-Eimer entgegen.

„Du zuerst, Eckbert“, darauf besteht Tessa.

„Ich hab die 3. Jetzt du, Tessa, zieh auch eine 3.“ Eckbert setzt sich auf einen an der Wand stehenden Sessel, schließt die Augen und drückt beide Daumen ganz fest.

„3, 3, 3“, murmelt er vor sich hin. Mit klopfendem Herzen zieht Tessa ihr Los. Eckbert hat sie mit seiner Nervosität bereits angesteckt. Sie möchte den alten Freund nicht alleine lassen. Langsam macht sie sich ernsthafte Sorgen um ihn. Seine Kurzatmigkeit wird immer schlimmer und kalter Schweiß bildet sich auf seiner Stirn.

„Lass mich bitte eine 3 haben“, fängt auch sie zu beten an. Tessa öffnet ihr Los und ist erstaunt über den leeren Zettel in der Hand. 

 

„Die Teilnehmer mit der Nummer 3, bitte zu  mir in die Bibliothek, hier vorne, auf die linke Seite“, vernimmt Tessa eine ihr nicht unbekannte weibliche Stimme. Auch Eckbert hat diese Stimme gehört. Ein Lächeln geht über sein Gesicht, welches wieder eine rosige Farbe annimmt. Er erhebt sich, nimmt Tessa ganz fest in seine Arme, gibt ihr einen Kuss auf die Wange und sagt: „Danke, das du mich begleitet hast. Ich weiß jetzt, dass hier jemand auf mich wartet.“ Er dreht sich um und geht Richtung Bibliothek, auf eine zierliche Frau, mit kurzem brünetten Haar, zu.

Die Frau winkt Tessa zu und ruft: „Geh zurück, Tessa. Du hast noch viel zu erleben!“ Verwirrt schaut Tessa der Frau und Eckbert hinterher und vergisst ganz den Zettel in ihrer Hand. Erst als sich die große Doppeltür zur Bibliothek schließt und das Stimmengemurmel dahinter verschwindet, erwacht sie aus ihrer Trance.

Ich muss nochmal weg?!, wird ihr augenblicklich bewusst.

 

Wild durcheinander laufende Menschen. Schreie, weinen, beten. Stille. Stille.

„Was ist hier los? Schaut doch! Es ist so eine interessante Seminarveranstaltung hier! Ich war noch nie bei so was dabei“, ruft Tessa nicht vernehmbar in die aufgebrachte Menge.

 

Tatü, tata, tatü, tata. Blaulicht, Sirenengeheul. Stimmengewirr. Eine Männerstimme in gewohntem Befehlston und andere, sich der Notwendigkeit ihrer Tätigkeit bewusste Personen sind zu hören.

„Holt sie hier raus. Schnell.“

„Wir brauchen hier eine Brechschere. Die Tür ist verklemmt.“

„Atmet sie noch?“

„Sanitäter, hierher!“

„Kann sich jemand um den älteren Mann dort auf der Straße  kümmern?“

„Leute, steigt alle wieder in den Bus, hier gibt es nichts zu sehen.“

„Vorsicht!“ 

„Ja, ich fühle ihren Puls. HWS fixiert.“

„Für ihn können wir leider nichts mehr tun. Herzinfarkt.“ 

„Eins, zwei, hoch und raus mit ihr.“

 

„Hh Hh Hha ….“, schnappt Tessa nach Luft, als sie auf die Trage gelegt wird. „Ich, ich, ich  muss nochmal weg?!“ 

„Alles ist gut. Dafür haben wohl mehrere Schutzengel gesorgt. Bis auf ein paar blaue Flecken und Blutergüsse scheinen Sie unverletzt“, beruhigt sie der Notarzt, der sie im Rettungswagen untersucht.

„Ist die junge Frau vernehmungsfähig?“, fragt ein junger Polizist, den Kopf bei der Tür reinsteckend. Tessa nickt. „Kennen Sie den Mann zufällig? Laut Ausweis ein Herr Mandler. Der Buslenker sagte aus, dass er ganz hektisch den fahrenden Bus verlassen wollte, als er bemerkte, dass der Hund vor Ihr Fahrzeug lief und Sie den Wagen verrissen.“

„Eckbert?! Bus? Hund?“, fragt Tessa verwirrt. „Ich hab doch gerade mit Eckbert gesprochen, beim Seminar und sein Hildchen war auch plötzlich da.“ Tränen laufen ihr über die Wangen, als ihr so manches bewusst wird. „Ach Eckbert, du wolltest mir schon wieder mal helfen. Du und dein Hildchen! Danke, meine Schutzengel!“

 

Version 3