Von Michael Kothe

Regen durchdringt meine Jacke. Wäre nicht Licht in der Küche im Erdgeschoss, könnte ich kaum die Müllcontainer unterscheiden, vor denen ich stehe. Bio- und Restmüll habe ich schon in die entsprechenden Tonnen gekippt, nun pendle ich zwischen Plastik und Altpapier. Durchs Fenster sehe ich den Nachbarn in der Küche auf mich zukommen.

»´n Abend noch!«, ruft er mir zu, bevor er das Fenster schließt und die Gardine zuzieht.

»Gleichfalls!«, murmle ich gegen die tote Glasfläche. Nun bin ich mehr aufs Tasten angewiesen, um die Papierschnipsel aus der Tüte zu ziehen. Als ich den Beipackzettel irgendeiner Medikamentenpackung vom Aludeckel eines Bechers trenne, kleben meine Finger. Yoghurt. Warum kann sie nicht Plastik und Alu vom Papier in zwei Tüten sortieren, worum ich sie schon tausendmal gebeten habe?

Sie! Mein Blick wandert an der Fassade nach oben. Zum zweiten Stock rechts. Das Küchenfenster ist dunkel. Die Reste ihres Mittagessens hatte ich mir dort warm machen müssen, wir haben in der Firma keine Kantine, und mit dem Abendbrot hatte sie nicht auf mich gewartet. Nur ein »Wieso kommst du jetzt erst?« bekam ich zu hören. Dass ein Kunde länger gebraucht hatte, ich den Bus noch verschwinden sah und dann eine halbe Stunde im Niesel stand, nahm sie nicht mehr wahr. Sie hatte sich schon umgedreht und war im Wohnzimmer verschwunden.

Ich schaue weiter nach rechts. Das Esszimmer neben der Küche ist etwas heller. Im Wohnzimmer endlich Licht. Es flimmert. Sie schaut »Aktenzeichen XY ungelöst«. Mir ist die Darstellung von Verbrechen und Gewalt zuwider, obwohl …

»Das ist wertvoll. Man kann viel daraus lernen.«

Wie ich sie durchs Fenster stoße? Und hinterher glaubhaft versichere, es sei ein Unfall gewesen? Einen Hinweis auf Fremdeinwirkung muss es ja nicht geben. Ich habe sie nie bedroht. Die Nachbarn könnten das bezeugen. Zwischen uns fällt nie ein lautes Wort, wozu auch, sie setzt ja doch immer ihren Willen durch.

Ein Beitrag fällt mir ein, eine Personenfahndung: Ein Mann wird vermisst. Seit Jahren. »Ich muss nochmal weg. Zigaretten holen«, soll er gesagt haben. Sein letztes Lebenszeichen. Wenn ich jetzt ginge? Wie viele Tage würde sie wohl warten, bis sie eine Vermisstenanzeige aufgäbe?

Zigaretten? Ich taste meine Jacke ab. Finde keine, die leere Packung habe ich ja eben entsorgt. Gewissenhaft getrennt nach Folie, Stanniol und Pappe. Aus meiner Hosentasche fummle ich mein Feuerzeug. Nutzlos ohne Glimmstengel. Ich schaue zur Straße. Der nächste Automat ist vorn an der Ecke, etwa 500 Meter weit weg. Kurzentschlossen stelle ich unseren Plastikmülleimer in den dunklen Hauseingang und gehe den Plattenweg vor zum Bürgersteig. Ich bin über mich selbst erstaunt: Nachdem ich mich nach rechts gewendet habe und das Haus im Rücken weiß, fühle ich mich seltsam unbeschwert. Ungewohnt frei. Eine Melodie schwingt über meine Lippen. Gesummt, denn ich kenne nicht den ganzen Text. Ich war noch niemals in New York. Ich war noch niemals …

Eigentlich war ich noch niemals irgendwo gewesen. Außer daheim. Und bei der Arbeit. Mein Bruder kommt mir in den Sinn. Älter als ich, ausgewandert in den Süden, seit Jahren in leitender Stellung in einer internationalen Gesellschaft. »Ich kann dich hier unterbringen,« hatte er mir angeboten, »anfangs kannst du bei uns wohnen.« Seine Frau war mir von Anfang an sympathisch. Optimistisch, dem Leben zugewandt, fröhlich. Er hatte Glück mit ihr. Ich schlucke. Das Angebot ist zu verlockend! Ob es noch gilt?

Suchend fahren meine Blicke über das Haus, vor dem ich unwillkürlich stehen geblieben bin. Über der Bäckerei wohnt ein Kollege aus einer anderen Abteilung. »Wenn du mal etwas brauchst, …« Einer der wenigen, mit denen ich mich angefreundet habe. Kaum habe ich der Gegensprechanlage mein Sprüchlein aufgesagt, ertönt das Klacken des Türöffners. Wie eine herzliche Umarmung empfängt mich die Wärme des Treppenhauses. Minuten später sitzen das Paar und ich vor dem Computer. Einen Flug zu buchen, ist so einfach. Heute kriegen wir aber nur eine Reservierungsanfrage zustande. Irgendein Serverproblem. »Weiß eigentlich dein Bruder Bescheid, dass du ihn besuchst?« Mir wird heiß, ich stottere. Sie versteht mich trotzdem. »Dann gib mir mal deine eMail-Adresse!« Ich habe keine. Wozu auch? Internet haben wir auch keins. »Das brauchst du nicht. Wenn du etwas mit Computern machen willst – du hast ja einen in der Firma.« Während seine Frau von ihrem Mail-Account aus tippt, steht mein Kollege auf, nach einer Minute kommt er mit zwei Dosen Bier zurück.

Nachdem sie meinem Bruder geschrieben hat und wir unser Bier getrunken haben, gehe ich wieder nach unten. Es hat aufgehört zu regnen. Ich fühle mich beschwingt, als ich die letzten Schritte zum Automaten gehe. Forsch reiße ich die Packung auf und lasse die Folie achtlos auf den Boden fallen. Die ersten Züge sind ein Genuss. Passend zu meiner Vorstellung. Im Geiste sehe ich mich schon in warmer, freundlicher Umgebung, mein Bruder, seine Frau und ich plaudern auf der Terrasse, über der Bucht leuchtet das Abendrot. Irgendwie kitschig, aber gleichsam romantisch und verheißungsvoll: Licht. Noch stundenlang, nachdem es hier schon dunkel ist. Meine Mundwinkel ziehen sich zu einem träumerischen Lächeln auseinander. Ich bin mal kurz weg. Die Zigarette ist aufgeraucht, beinah ohne, dass ich es wahrgenommen hätte.

***

»Wo warst du so lange?« Die Augenbrauen zusammengezogen, den Mund zu einer scharfen Linie zugekniffen.

»Mit dem Nachbarn von unten habe ich mich kurz unterhalten.«

Abwenden darf ich mein Gesicht jetzt nicht, sonst weiß sie, dass ich nur die halbe Wahrheit gesagt habe. Mein Magen verkrampft sich und zieht das Zwerchfell nach oben. Unhörbar presst sich ein Quäntchen Luft aus meiner Lunge. Die Träne über die Erinnerung an meine geträumte Selbstbestimmung muss ich vor ihr verbergen, um die Pein des stummen Verhörs nicht in die Länge zu ziehen. Fahrig fingere ich mein Taschentuch heraus, wickle mir einen Zipfel um den Zeigefinger und reibe übertrieben kräftig an meinem Augenwinkel, so, als müsse ich einen widerborstigen Fremdkörper zur Aufgabe zwingen.

Unverwandt hält ihr eisiger Blick den meinen über dem Stück Stoff gefangen. Ein triumphaler Ausdruck ihres Machtbewusstseins, das kein Aufbegehren zulässt.

Morgen werde ich die Reservierung stornieren und meinem Bruder absagen.

 

 

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